11. Das Versteck (1)
Auch Kate dreht sich um. Allerdings langsamer als ich. Dafür reagiert sie aber sofort. Noch ehe ich blinzeln kann, schnappt Lucca nach Luft. Mit einem gruseligen, erstickenden Geräusch greift er sich an die Brust.
„Kate, was machst du da?", frage ich. In meiner Stimme schwingt eine gehörige Portion Angst mit. Aber ich bin froh, dass ich sie überhaupt wiederfinde.
„In seinen Lungen ist Wasser", erklärt Kate. Während sie spricht, wendet sie ihre Augen nicht von Lucca ab. Die Luft ist erfüllt von einem magischen Knistern, das die Haare auf meinen Armen senkrecht stehen lässt. Doch nicht nur das erschreckt mich, sondern auch der ernste Gesichtsausdruck meiner Schwester. Seit wann ist sie zu etwas Derartigem fähig?
„Was machst du da?", wiederhole ich noch einmal, weil ich nicht glauben kann, was ich sehe. Luccas Lippen färben sich blau und er zittert leicht.
„Giacomo hat mir gezeigt, wie das geht", meint sie und zuckt mit den Schultern. Sie wirkt beinahe so, als würde es sie nicht wirklich berühren, was sie da tut. Die Kälte und Abgebrühtheit, die sie an den Tag legt, erschrecken mich.
„Ja, aber damit bringst du ihn doch um!", rufe ich aus. Langsam lässt Kate ihre Hand sinken und sieht mich mit großen Augen an, als wäre ihr erst jetzt bewusst, was sie da gerade tut. In diesem Moment scheint sie die Kontrolle über Lucca zu verlieren, denn der bäumt sich zu seiner vollen Größe auf. Eine Kraftwelle rollt auf Kate und mich zu. Sie ist so mächtig, dass ich zurück stolpere. Mit dem Rücken stoße ich gegen den Steinbruch. Erneut jagt ein magisches Knistern durch die Luft. Mir bleibt der Atem weg. Das Bild vor meinen Augen wird für einen kurzen Moment schwarz. Die Magie des fünften Elements überrennt mich. Es sind nicht wirklich Schmerzen, die ich spüre, aber es fühlt sich trotzdem extrem unangenehm an.
Als ich wieder sehen kann, steht Lucca keinen Meter von uns entfernt. Trotzdem wirkt es nicht so, als würde er erneut Anstalten machen, uns anzugreifen. „Hört mir zu", beginnt er, doch kaum dass er diese Worte gesagt hat, hebt Kate wieder die Hand. Erneut greift Lucca sich an die Brust. „Ist jetzt wieder Wasser in seiner Lunge?", frage ich. Ich bin solche Härte gar nicht von meiner Schwester gewohnt. Normalerweise bin ich diejenige, die ohne Rücksicht auf Verluste durchgreift. Kate kann ja nicht mal Insekten platt machen. Nun aber fühle ich mich, als hätten wir Rollen getauscht. Das macht mir Angst. Und nicht nur, weil Kate auf einmal eiskalt wirkt, sondern auch weil ich mich schwach fühle.
„Nein", antwortet sie, jedoch ohne den Blick von Lucca zu nehmen, „ich kontrolliere nicht nur das Wasser, sondern mithilfe der Artefakte fast alle Flüssigkeiten. Und im Moment kontrolliere ich Luccas Blut. Das wird ihn nicht umbringen, aber ich kann trotzdem entscheiden, wie viel davon in seinen Kopf fließt."
„Kate. Brionny." Luccas erschöpfte Augen wandern von meiner Schwester zu mir. Ich hätte nicht für möglich gehalten, dass das geht, aber seine Haut wird noch fahler. Mein Herz zieht sich zusammen. Ich hasse dieses Gefühl. Innerlich verfluche ich mich dafür, dass ich keine Kontrolle über meine Empfindungen habe.
„Ich kann das alles erklären", keucht Lucca. Auf seine Stirn treten Schweißperlen und ich erkenne, dass es ihn sichtlich Kraft kostet, aufrecht stehen zu bleiben.
„Ach ja?", frage ich und trete einen Schritt nach vorn. Von meinen Gefühlen werde ich mich nicht beeinflussen lassen. Und wenn, werden sie mich nur dazu bringen, noch härter durchzugreifen, als es ohnehin nötig wäre.
„Ich bin nicht hier, um euch zu schaden. Ich möchte euch helfen."
„Und das sollen wir dir glauben?" Wieder zücke ich wieder das Messer und halte es wenige Zentimeter vor Luccas Gesicht. Ich komme mir dumm vor. Was soll das alles hier?
„Ja, die Cinquenti spüren es, wenn jemand den geheimen Eingang zum Archiv benutzt. So haben sie euch auch letztes Mal gefunden."
„Aha", sage ich nur und ziehe eine Augenbraue hoch.
„Doch wirklich. Die Cinquenti sind mit den vier Elementen verbunden. Sie spüren, sobald eines von ihnen benutzt wird, um ein magisches Tor zu öffnen. Und sie wissen auch welches." Ein magisches Tor. Das klingt ja fast so, als gäbe es mehr als eines. Ist das Archiv hinter dem Steinbruch also nicht das Einzige?
„Und warum bist du dann hier?", frage ich.
„Um euch zu warnen." Ich will nicht lachen, aber es kommt einfach so aus meinem Mund. Um uns zu warnen. Etwas Dümmeres hätte er sich nicht ausdenken können. Ich an seiner Stelle hätte mir eine glaubhaftere Lüge einfallen lassen. So ist es doch einfach nur offensichtlich, dass er nicht die Wahrheit sagt.
„Das hast du ja jetzt getan", pfeffere ich ihm entgegen.
„Bitte. Lass mich das Archiv für euch öffnen", sagt er.
„Ach ja? Und das merken die Cinquenti nicht?"
„Doch, aber Falcini hat mir aufgetragen, ein Buch aus dem Archiv zu holen."
„Er hat was?!", schreie ich und balle die Hände zu Fäusten. So fest es geht, schlage ich damit gegen Luccas Brust. Augenblicklich verliert er den Halt und fällt nach hinten um. Gerade noch so kann er sich mit den Händen abfangen.
Ich beuge mich über ihn und halte ihm wieder das Messer vor die Augen. Ich spüre, wie die Macht über die Situation durch meine Adern pulsiert. Doch es ist kein schönes Gefühl. „Sind hier noch andere von euch?"
„Nein", antwortet Lucca, „nur ich. Ich dachte, es wäre vielleicht zu unser aller Vorteil, wenn ich die magische Tür für uns öffne und wir nach dem suchen können, was wir brauchen."
„Und woher wusstest du, dass wir hier sein werden?"
„Ich... wusste... es.... nicht", sagt er. Die Abstände zwischen seinen Wörtern werden immer länger, so als würde allein ihre Aussprache ihn ziemlich viel Kraft kosten.
„Und nachdem wir das haben, was wir brauchen, lässt du uns einfach so gehen?"
„Ja."
„Warum?", will ich wissen. Mein Herz schlägt schnell gegen meine Brust. Und auf einmal habe ich Angst vor der Antwort. Langsam ziehe ich das Messer zurück und trete einen Schritt nach hinten. Dann sehe ich meine Schwester fragend an. „Was bringt es ihm, wenn er lügt?", überlegt sie laut.
„Er könnte uns überwältigen."
„Dazu müssen wir es nicht kommen lassen", wirft sie ein, „er öffnet die Tür für uns und du durchsuchst das Archiv, während ich die Kontrolle über ihn aufrecht erhalte. Damit können wir ihn aufhalten und finden gleichzeitig aber das, wonach wir suchen."
„Okay, klingt nach einem Plan", antworte ich und nicke meiner Schwester zu. Daraufhin greife ich nach Luccas T-Shirt und reiße ihn daran auf die Beine. Das Messer positioniere ich diesmal in seinem Rücken.
„Dann weißt du ja, was zu tun ist", sage ich und stoße ihn auf den Steinbruch zu. Er stolpert über seine Füße und stützt sich keuchend an dem Stein ab. Zitternd hebt Lucca seine Hand und legt sie auf die im Stein eingravierte Rose. Zuerst passiert nichts. Ich will ihm schon verärgert mit dem Messer in den Rücken piksen, doch dann hängt auf einmal das unheimliche Knistern des fünften Elements in der Luft. So schwach habe ich es jedoch noch nie gespürt. Es ist kaum greifbar und hinterlässt nur einen kurzen Hauch von Kälte und Macht auf meiner Haut. Scheinbar schwächt Kate nicht nur Luccas Körper, sondern auch seine magischen Fähigkeiten. Mir soll das jedoch recht sein.
Die hellbraun-gelbe Wand des Steinbruchs wird langsam dünner und die Steine formen sich zu schmalen Holzbrettern. Zunächst wirken sie noch verschwommen und grenzen sich nicht deutlich von der Umgebung ab. Schließlich jedoch sind die klaren Umrisse einer Tür erkennbar. Es erscheint sogar eine Türklinke aus dem Nichts.
„Bitteschön", sagt Lucca. Der Schweiß rennt mittlerweile seine Schläfen hinunter und benetzt sein T-Shirt.
„Du zuerst", beschließe ich und stoße mit dem Messer gegen seinen Rücken, jedoch ohne ihn dabei ernsthaft zu verletzen. Ich kann erkennen, dass es ihn einige Kraft kostet, die Tür zu öffnen. Schließlich schwingt sie jedoch mit einem lauten Knarzen nach Innen. Bevor er das Archiv betritt, dreht er sich noch einmal zu mir um. Der Blick aus seinen dunkelbraunen Augen ist so traurig und leer, dass ich beinahe das Messer hätte sinken lassen. Doch ich schlucke und umklammere das Messer dann mit einem noch festeren Griff. „Brionny bitte... ich möchte euch doch nur helfen", stöhnt er.
„Und das tust du ja auch gerade", erwidere ich und ignoriere dabei mein wild schlagendes Herz, „jetzt geh endlich rein!"
Scheinbar erkennt er die Aussichtslosigkeit seiner Lage, denn ohne ein weiteres Wort zu sagen, dreht er sich um und tritt durch die Tür. Kate folgt ihm. Das Schlusslicht bilde ich.
Vorsichtshalber schließe ich die Tür hinter mir und knipse meine Taschenlampe an. Der fahle Lichtkegel erleuchtet einen kleinen Raum, auf dessen Boden sich die Bücher stapeln. An manchen Stellen liegen sie sogar unordentlich verstreut herum. Weiter hinten an der Wand hängt ein Gemälde von den vier ursprünglichen Elementträgern. Die Farben wirken bereits verblasst und die Konturen dadurch unscharf. Wie alt das wohl ist?
Unwillkürlich trete ich einen Schritt auf das Gemälde zu und werde von einem lauten Knirschen erschreckt. Augenblicklich bleibe ich stehen. Mein Blick wandert zu meinen Füßen hinab. Ich stehe auf einem Handy. Meinem alten Handy! Ich habe es vor einem halben Jahr hier fallenlassen, als die Cinquenti uns zum ersten Mal jagten.
Erstaunt beuge ich mich zu dem Handy hinab. Der Akku ist leer. Natürlich. Und das Display ist gesprungen. Feine Risse ziehen sich über das schwarze Glas. Obwohl ich nun ein neues Smartphone habe, das mir die Bellucos und der Geheimbund zu Weihnachten geschenkt haben, stecke ich das alte Handy ein. Wer weiß, wofür das noch gut sein kann.
„Du passt auf Lucca auf", weise ich Kate an, „ich schaue mich währenddessen um."
„Alles klar", meint sie. Im schwachen Licht kann ich erste Zeichen der Erschöpfung über ihr Gesicht wandern sehen. Natürlich, für sie ist es auch anstrengend, die Kontrolle zu behalten. Selbst die Elementträger können ihre Magie nicht ohne Grenzen benutzen.
„Ich beeile mich", sage ich zu ihr. Es dauert nicht lange, da habe ich den kleinen Raum auch schon einmal durchquert. Ich stehe nun genau vor dem Gemälde mit den vier ursprünglichen Elementträgern. Das Mädchen, das über das Wasser herrschte, hat strubbelige schwarze Haare, so wie Kate. Sie steckt in einem blauen Kleid und ist von wilden Wellen umgeben. Alles an ihrem Auftritt erinnert mich an meine kleine Schwester.
Ich lasse meine Aufmerksamkeit weiter zu dem Mädchen wandern, das über das Feuer herrschte. Sie hat langes, dunkles Haar, das ihr hübsches Gesicht umrahmt. Genau wie das Wassermädchen wirkt sie wild und unberechenbar. In ihren Augen scheinen Flammen zu tanzen. Fast wie bei Alessia. Auch der Junge, der über die Erde herrschte, erinnert mich an Philippe. Stumm und trotzdem majestätisch erhaben steht er inmitten von Pflanzen, die um ihn herum blühen. Der Luftträger sieht aus wie sein Klon und reitet auf einer Wolke.
Mir stockt der Atem. Was, wenn es sich auf dem Bild nicht um die ersten Elementträger handelt, sondern um die Letzten, die Jetzigen? Mit der Ausnahme, dass ich auf dem Bild fehle. Statt mir ist da dieser andere Junge.
Ich trete näher an das Bild, um es genauer zu betrachten. Erst da erkenne ich die Initialen der Malerin in der linken unteren Ecke. MIV. Maria Iana Vecca. Das kann nicht sein! Dieses Bild hat Maria gemalt? Dann liegt es doch auf der Hand, dass ihr Hinweis hier versteckt ist. Mit stockendem Atem berühre ich ihre Initialen erst leicht, dann fester. Kaum dass meine Finger mit etwas mehr Kraft auf die Leinwand drücken, ertönt ein leises Klack.
Erschrocken weiche ich zurück. Was war das? Schon im nächsten Moment schwingt das Bild vor und gibt den Blick auf einen dahinter liegenden Safe frei. Aufgeregt sehe ich zu Kate und Lucca zurück. Beide blicken mich mit großen Augen an, sagen jedoch nichts.
Schnell wende ich mich wieder dem Safe zu. Um an seinen Inhalt zu kommen, muss man ein Passwort eingeben. Über dem Safe hängt ein kleiner Zettel mit Marias Handschrift, der wohl einen Hinweis auf das besagte Passwort liefern soll. Le prime parole... Die ersten Worte. Welche ersten Worte denn?
Ich betrachte den Safe genauer. Hier muss man tatsächlich keine Zahlen, sondern vier Worte eingeben, damit er sich öffnet und zwar die ersten Worte. Na super! Hätte Maria sich da nicht etwas präziser ausdrücken können? Willkürlich beginne ich zu raten und tippe Am Anfang schuf Gott... ein. Sofort ertönt ein unangenehmes Piepsen und statt der Freifelder erscheinen neue Sätze auf dem Bildschirm.
Falscher Pin. Noch zwei Versuche. Bitte versuchen Sie es erneut. Augenblicklich wird mir flau im Magen. Ich habe nur eine begrenzte Anzahl an Versuchen. Aber welche ersten Worte meint Maria denn? Davon gibt es so viele. Beinahe jeder Mensch hat erste Worte, die er in seinem Leben spricht. Wenn wir neue Leute kennenlernen, tauschen wir erste Worte mit ihnen aus. Oder wenn wir ein neues Buch aufschlagen, schauen uns erste Worte entgegen.
Neues Buch, das ist es. Sofort greife ich mich an den Kopf. Natürlich. Die ersten Worte in Maria Veccas Tagebuch. Ich musste das Tagebuch zwar an Giacomo weitergeben, aber vorher habe ich wenigstens ein paar Seiten abfotografiert. Hastig krame ich mein Smartphone hervor und tippe mit dem Daumen auf dem Touchscreen herum. In einem eigenen Ordner habe ich die Abzüge von Maria Veccas Tagebuch gespeichert. Leider hatte ich nicht die Zeit, alle Seiten zu fotografieren, aber die Ersten sind dabei. Während meine Augen über den kleinen Bildschirm huschen, tippe ich mit der freien Hand die ersten vier Worte von Marias Tagebuch in den Safe ein. Heute war mein erster
Piep. Falscher Pin. Noch ein Versuch. Bitte versuchen Sie es erneut.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro