* Kapitel 31 *
Immer noch schlugen Schreie, gegen die dicken Wände aus Stein. Die Dienerinnen sahen sich um, doch keine Bestie sprang aus den Nischen.
Die Schere lag kalt in ihrer Hand. Unwirsch zupfte Vera Lederreste von der Klinge und prüfte mit dem Daumen nach, wie scharf die Schneidekante noch war. Die Antwort war, nicht besonders. Die Jägerin schloss beide Metallenden. Scharf vielleicht nicht mehr, aber spitz und stabil noch allemal. Die Schere hatte ein gutes Gewicht, sie war aus solidem Eisenerz geschaffen.
Nun galt es dem Tumult auf den Grund zu gehen.
Die unheimlichen Schreie hatten eine verzweifelte hohe Tonlage erreicht und bereiteten ihr eine Gänsehaut. Zumindest schienen nicht mehrere Personen mit einzustimmen. Was auch immer es war breitete sich nicht aus, sondern attackierte gezielt eine Person. Was natürlich nicht hieß, dass die Gefahr gebannt oder gering war.
Im Gegenteil, eine Gefahr mit Verstand und Ziel war umso bedrohlicher.
Vera trat aus dem Zimmer heraus in den Flur und bedeutete den anderen im Zimmer zu bleiben, in ihrer relativen Sicherheit. Das Kreischen ging weiter. Es war definitiv nicht tierischen Ursprungs und kam aus den höheren Stockwerken, aus dem Eisschloss.
"Es ist der Gerichtssaal", rief ein junger Wächter die Treppe hinunter. Spekulatives Gemurmel mischte sich unter das schwere Atmen, der sich schnell bewegenden Menschen.
Auch Veras Lungen pumpten, während sie versuchte ihre Arme, inklusive der Schwere in ihrer Hand, nah bei sich zu halten, um nicht versehentlich an jemanden zu stoßen.
"Der Gerichtssaal." Gesprächsfetzen und gehauchte Mutmaßungen schossen zwischen den Dienern hin und her.
"Ein Urteil?"
"Jemand wird verurteilt!"
"Aber wer?" Das war wohl die entscheidende letzte Frage. Vera durchforstete ihren Geist, hatte sie nicht von einem Urteil gehört? Eine Erinnerung wollte sich ihr öffnen, jedoch immer, wenn sie sie zu greifen versuchte entglitt sie ihren Gedanken. Wie ein Jucken, dass man nicht kratzen konnte.
Der Gerichtssaal, aber welches Urteil stand denn an?
EIn URteil, Urteil... Bei Mondhoch...
Jelika!
Die Frau, die so sehr gehofft hatte, die erste weibliche Wächterin zu werden. Jelika, Hains Freundin, die Köchin mit den starken Armen, die sich so bemüht hatte, an diese Position zu gelangen. Irgendetwas ging dort oben gerade gehörig schief.
Nein!
Nein, nein, nein, nein, nein. Sie schüttelte den Kopf, doch einmal gedacht, konnte ein Gedanke nicht rückgängig gemacht werden. Das Wissen blieb.
Oh bitte nicht, Sternengeister verschont sie.
Vera warf sich immer heftiger in die Menge an Dienern und Wächtern, die alle einen Blick erhaschen wollten. Niemand floh mehr nach unten, nun wollten alle nach oben. Die Menschen drängten und rannten, aber versperrten ihr damit nur effektiv den Weg. Sie musste Jelika helfen, die schrie als würde sie gefoltert.
Vera stieß nun doch gegen Schultern, Arme und Rücken. Es war ihr egal, ob jemand die Schere leicht zu spüren bekam. Hier stand ein Leben auf dem Spiel.
Warum schritt denn niemand ein? Konnte man ein einmal gefälltes Urteil der Sternengeister überhaupt noch verhindern?
Aber das konnte kein Urteil der Sternengeister sein, das hier musste das Werk des Königs sein, der Jelikas Beförderung untergraben wollte. Ihn würde sie angreifen wenn es sein musste. Sie hatte schon einmal einen Mesnchen getötet, auch wenn es sie halb zerrissen hatte und sie es nie wieder tun wollte. Wenn sie musste, war sie sich nicht sicher auf welcher Seite sie heute stand. Ihr fiel jedenfalls kaum ein Mensch ein, der es mehr verdient hatte zu sterben, als der König.
Konnte ihre Seele einen weiteren Toten ertragen?
Sie schob die Fragen und Gewissensbisse über etwas noch Ungeschehenes beiseite und erreichte den ersten Stock des Eisschlosses.
Sie war fast da. Die Menge wurde immer dichter, auch, wenn der Gang breiter wurde.
Hallte durch Jelika.
Dann hörte das Schreien abrupt auf und mit ihm kamen die Diener abrupt zum Stehen. Vera stolperte, fing sich aber wieder.
Schwere eisige Stille legte sich über das Schloss.
Vera wusste bereits , was diese Stille bedeutete.
Sie fühlte sie noch immer in sich, von den langen Jagdtagen und Nächten in Zura. Der Moment, nachdem ihre Klinge in das Fleisch eines sich wehrenden Tieres gesunken war. Der Moment nachdem es seine Seele mit dem letzten Atemzug ausgehaucht hatte.
Die Weißhaarige wünschte, sie wüsste es nicht, doch ihre Knochen und innere Stimme waren sich sicher. Ihr Innerstes sah bereits, was ihre Augen noch nicht konnten.
Sie kam zu spät.
Jelika war von ihnen gegangen.
Die kurzzeitig erstarrten Diener begannen zu fliehen. Keine neugierige oder Hilfe anbietende darauf-zu Bewegung mehr, sondern ein hastiges, beschämt-schockierte vom Ort des Geschehens verschwinden wollen, entstand. Vera wurden die Steintreppen praktisch wieder hinunter geschoben und die Menschen sammelten sich in den Küchen.
Xao und Soma konnte sie nirgends entdecken, vermutlich war das besser so. Besser sie hielten Sami hiervon fern.
Von einem auf den anderen Augenblick füllten sich die Räume. Als letzte betraten die höchsten Dienerinnen die Küche. Beide sahen angestrengt aus.
Bree und Zue, die sonst selten im selben Raum zu sehen waren, trugen einen schlaffen Körper zwischen sich.
Einen Menschen ohne Gesichtszüge.
Der weibliche Körper, den sie trugen, war völlig entstellt, drei dunkle Linien zogen sich wie Krallenspuren über ihren Hals, der Rest hing noch in Fetzen und Klumpen an Haut und Stoff zusammen.
"Jelika?", warf Vera in den Raum. Jemand musste fragen, denn sicher zu sagen, um wen es sich handelte, außer, dass die Person weiblich war, war nicht mehr möglich.
Zue nickte. Sie räusperte sich, um Fassung bemüht, musste aber schlucken. Sie konnte noch nicht wieder sprechen.
Brees Stirn bildete eine steile Falte aus.
"Es war ... furchtbar", Bree schluckte ebenfalls heftig. Der Knorpel ihrer Kehle sprang hastig hin und her. Die oberste Garderobière sonst so stark, sah kränklich bleich im Gesicht aus. Mit einem Schleier in den Augen, als wollte sie sich am liebsten übergeben.
So sah eine Verurteilung durch die Sternengeister aus.
Die Geister waren grausam und unvergebend.
Aber warum Jelika?
Obwohl, die bessere Frage war wohl, warum nicht Jelika? Warum hatte diese Frau keine Wächterin werden sollen? Was hatte Jelika den Geistern getan, dass sie derart gequält, verunstaltet und öffentlich verhöhnt wurde?
Die beiden Frauen hievten den leblosen Körper auf eine der Arbeitsbänke. Die Arme und Beine hingen grotesque schlaff darüber hinaus. Jelika war deutlich größer als die Stücke an Yack- oder Eisvogelfleisch, die dort sonst bearbeitet wurden. Für eine Köchin war sie sehr muskulös gewesen, trotz der gleichen kleinen Rationen. Jemand versuchte vergebens, einen Arm zurück auf die Unterlage zu schieben, doch er rutschte nur wieder herab.
Haut auf Stein erzeugte ein schabendes Geräusch.
Das hatte Jelika nicht verdient, niemand hatte es.
Bree hielt sich den Bauch und hinterließ blutige Flecken auf ihrem Kleid. Zue reichte ihr eine Schürze zum Abwischen der Hände und begann selbst ihre eigenen in kaltem Wasser zu schrubben. Wie Vera wusste, war Blut auf Haut recht hartnäckig. Es hinterließ häufig eine rote Tönung oder man sah einfach selbst noch immer an den Händen kleben, was dort bereits nicht mehr war.
Niemand sprach mehr.
Kaltes Entsetzen füllte den Raum. Erstickte die Stimmen.
Leises Schlurzen war das einzige Geräusch. Alle standen sie stumm Totenwache. Zeugen für etwas, das nicht hätte geschehen dürfen. Etwas, das niemand verstand.
War es etwa der Wille der Sternengeister, dass es keine weiblichen Wächter gab? Nicht der Wille des Königs, der keine Frauen für die Zeremonie auswählte und den Geistern vorschlug.
Wollten die Geister keine Frauen in dieser Position oder hatten sie nur speziell Jelika abgelehnt? Mit einem Blick in die umstehenden Gesichter wurde schnell klar, dass keine Frau im Raum verrückt genug wäre es darauf ankommen zu lassen. So schnell würde es niemand noch mal versuchen. Niemand hier würde es wagen, die Geister derart herauszufordern. Keine weitere der Küchendienerinnen und Zofen war gewillt, ihr Leben diesem höheren Zweck zu widmen. Es käme einem Selbstmord gleich.
Langsam wurden Stimmen über das Rauschen in Veras Kopf laut.
"Was wird mit ihr geschehen?"
"Wir können sie schlecht auf unserer Arbeitsfläche liegen lassen."
"Also ich fasse sie nicht an." Unmut und Unglauben bissen sich gegenseitig in den Stimmen.
"Das hatte sie nicht verdient."
"Jelika war doch eine von uns, sie hätte nicht Wächterin werden müssen."
Mehrere Frauen und Männer verließen den Raum.
"Ich kann mir das nicht ansehen."
"Halt. Ruhe!", Zue hob die vom Wasser tropfenden, Arme und versuchte die Situation wieder unter Kontrolle zu bringen. Doch das hätte sie gar nicht gemusst, denn sie entglitt ihr sofort wieder.
"Lasst mich durch", Hain betrat den Küchenraum und drückte sich durch die Reihen an Dienern, Zofen und vereinzelten Wächtern.
Oh nein. Jelika war seine Freundin gewesen. So oft hatte Vera die beiden am Mittag miteinander sprechen sehen oder in den Gängen flüsternd gefunden.
Der oberste Handwerker stolperte aus der Gruppe heraus und kam vor dem Steintisch mit der Leiche zum Stehen. Sein Gesicht verlor alle Farbe, bis auf die Rötung seiner Wangen, vermutlich war er vom Balkon hier her gelaufen, als man ihn informiert hatte. Ihr romantischer Abend schien Vera weit entfernt, deutlich länger in der Vergangenheit als nur ein paar Stunden.
Vera schnappte die hinter ihm stehende Celina am Ärmel und zog sie in eine Umarmung. Ihre Freundin schluchzte leise an Veras Hals. Die Haut der Weißen wurde feucht. Die Zofe drehte den Kopf der Köchin weg von der schrecklichen Szene.
"Hey, sieh nicht hin Ci. Sieh' nicht hin."
"Ich habe sie doch heute morgen erst noch gesehen. Sie war so aufgeregt, dass heute ihre Zeremonie stattfindet", Ci schluckte schwer. Atmete zitternd und stoßweise aus.
"Ich weiß. Ich auch."
"Wie kann das sein?"
"Ich weiß es nicht, Ci. Ich weiß es nicht", Vera strich ihr beruhigend und sanft über die Haare, wie sie es bei Zuna so oft getan hatte. Obwohl sie fast gleichalt waren, wusste die Zofe, dass sie hier nun die Fassung behalten musste und wichtig war, um Ci zusammenzuhalten. Vera war Jägerin, sie kannte die harte Realität des Sterbens, Ci nicht. Die Köchin hatte zu lange im Schloss gelebt, was man ihr nicht vorwerfen konnte, aber es hatte sie weich bleiben lassen.
Vera war nicht weich. Sie hatte sich ihre Unschuld nicht bewahren können und seither immer versucht, die der anderen zu beschützen. Ci sollte dieses Privileg behalten dürfen.
Hain strich der toten Jelika über die Stirn, einer der wenigen fast unversehrten Reste ihres Körpers. Blut rann in bereits eintrocknenden und verklumpenden Rinnsalen aus den tiefen Schnitten, die quer über ihr Gesicht verliefen. Über ihre Arme, durch den Stoff des Kleides. Ihr Torso und ihre Beine waren ein einziges Wirrwarr aus Kleidungs- und Fleischfetzen. Als hätte ein Berglöwe sie aus dem Hinterhalt erwischt, aber Berglöwen waren nicht grausam, wenn man sie nicht provozierte. Jelika hatte doch niemanden provoziert.
Außer vielleicht den König.
Hatte er sie ausgeliefert, wohlwissend, dass das passieren würde? Dass diese Entstellung das Urteil der Sternengeister sein würde?
Hass, so kalt, dass er glühte, brannte sich in ihre Magengrube und Vera spürte ein kurzes Aufflackern ihrer Magie.
"Es tut mir leid", Hain fuhr behutsam Jelikas Zopf entlang, der leblos und mit Blut bespritzt über den Tischrand baumelte. Rote Flecken zwischen schwarzen Strähnen.
"Ihr gebührt ein Begräbnis", ergriff Zue das Wort. Sie wandte sich dabei an Hain, der in all seiner Trauer der einzige handlungsfähige Mann im Raum schien.
"Ich kümmere mich darum", er nickte.
"Du, du und du, ihr kommt mit mir", er deutete auf zwei Wächter und eine Köchin. Niemand widersprach, alle noch in bedrückte Starre verfallen.
Bekümmert und mit in Falten gelegter Stirn nahm Hain Jelika auf und hob sie in seine Arme. Er musste nicht mehr so schwer an ihr heben, wie Zue und Bree. Hain trug Jelika, als wöge sie nicht mehr wie ein Korb voller Felle. Nur seine Brauen trugen schwer, hingen ihm tief über den Augen.
***
Die Küchen leerten sich so schnell wieder, wie sie sich gefüllt hatten
Hain trug Jelika in den Flur. Er konnte doch nicht einfach so davon ausgehen, die Last ihrer Beerdigung und ihres Abschied allein tragen zu müssen. Vera hob ihre Hand von Cis Rücken, doch er schüttelte kaum merklich den Kopf.
Stures Yack.
Hatte er ihr gerade das Hilfsangebot nur verwehrt oder gar verboten? Was bildete er sich ein, aber Hain stand wohl gerade nicht ganz bei sich. Sein Blick entrückt, sein Geist und Köper noch im rudimentären Funktionsmodus. Ci rieb sich die Augen und erinnerte Vera, dass auch sie gerade eine Aufgabe hatte.
„Hey ich bringe dich zu deiner Kammer, in Ordnung?", sprach sie ihre Freundin in ruhigem Ton an. Damit Ci die Möglichkeit bekam sich zu beruhigen, hielt Vera sie in kurzem Abstand von sich weg.
„Wollen wir ihn wirklich alleine gehen lassen?"
„Er will jetzt alleine sein", offensichtlich wollte er das.
„Will er nicht", murmelte Ci leise, aber Hain war bereits verschwunden.
Dann hat er sich sein Leid nun selbst gewählt, wenn er wollte, dass sie etwas mittrug, konnte er sich gerne an sie wenden, aber er musste zu ihr kommen. Vera hatte sich angeboten, er hatte abgelehnt, damit war ihr Anteil für ihr Verständnis erfüllt. Alles Weitere war seine Sache.
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