*Kapitel 23*
An diesem Abend stand Vera allein auf dem Balkon und sah zu den Sternen. Ihre Finger krampften tatsächlich ein wenig, die feine Arbeit nicht gewohnt. Bisher war sie eher die Frau fürs Grobe gewesen. Gedankenverloren massierte sie ihre Glieder.
Herons Namen in der Bibliothek zu sehen hatte sie die gesamte Schicht bei den Verzierern beschäftigt, obwohl die Arbeit an sich ihr gefiel. Die ständig gleichen Bewegungen ihrer Hände wurden monoton und vermochten ihre Gedanken nur für kürzere Etappen gänzlich zu halten. Sie wusste nicht recht damit umzugehen. So sehr sie es auch wegzuschieben versuchte, das Ziehen in ihrer Magengegend ließ sie nicht los.
Wie ging es ihrer Familie?
Hatte Heron sich von den Prellungen und Schnitten erholt?
Fast wunderte sie die Tatsache, dass Tam Linningsand nichts Verrücktes unternommen hatte. Dass er nicht versucht hatte mit bloßen Händen den Palast niederzureißen. Ihr sturköpfiger idealistischer Jagdpartner ließ sonst keine Gelegenheit aus sich in Schwierigkeiten zu bringen. Vielleicht war sie auch einfach unwichtiger für diese rauen Menschen als sie es angenommen hatte, aber der Gedanke fühlte sich falsch an. Undankbar. Etwas war nicht richtig und sie bereits zu lange an diesem Ort voller Prunk und eisiger Wände. Sie konnte niemand anderen für ihre Kapitulation verantwortlich machen.
Selbst die Dienerräume waren größer und besser ausgestattet als ihre kleine Eishöhle in Zura, dennoch fühlten sie sich enger an.
Beobachteter. Ständig lagen mehrere Augenpaare zwischen ihren Schulterblättern. Zu fast keinen Zeitpunkt war sie wirklich allein.
Warum war sie so träge geworden und hatte keine Anstrengungen unternommen zu fliehen? Die Antwort schlug ihr praktisch ins Gesicht. Weil sie hier Dingen nachgehen konnte, die sie wollte, unabhängig davon für wen sie es tat. Hier konnte sie lesen lernen, Zeit mit filigranen Arbeiten verbringen und hatte sowohl die Materialien als auch die Zeit einem Interessengebiet, für welches sonst nie Platz war nachzugehen. Genug und regelmäßig Nahrung im Magen zu haben, um langsam, aber sicher ihre Hüftknochen nicht mehr zu spüren, war ein netter Beigeschmack.
Er wurde schnell bitter und schal.
Sie hatte sich von Farben, Worten und Eiswein davon ablenken lassen, dass sie eine Dienerin war.
Leibeigentum.
Und trotzdem ging es ihr gut. Es ging ihr tatsächlich gut hier.
Dummes Wesen, sie schüttelte ihren Kopf und versuchte durch Rollen der Schultern die Anspannung zu vertreiben.
Doch noch hatte sie nicht gelernt, was sie hier lernen konnte. Auch wenn es wesentlich einfacher wäre vor dem Erhalt der Informationen zu fliehen, wenn ihr auch noch nicht klar wäre wie. Es wäre einfacher kopflos und radikal in schwarz und weiß einzuteilen.
Klüger wäre es mit Sicherheit nicht.
Vera hatte schon genug unkluge Entscheidungen getroffen, um zu wissen, wie sie sich vorher anfühlten. Ihre Aufgabe hier fühlte sich noch nicht beendet ihr Ziel nicht erreicht an. Auch wenn sie mittlerweile und ihre Alphabete von Tag zu Tag länger wurden.
Es reichte noch nicht. Bisher war sie, so wurde ihr klar, immer vor ihrer Herkunft weggelaufen. Hatte sie und sich verleugnet, ignoriert, weggeschoben. Aber jetzt durch Lia konnte sie etwas aktiv ändern als nur Spielball des Schicksals zu sein.
Wer sie war, war nicht entscheidend, aber ihre Erzeuger würde sie finden und strafen. Rache war ein starkes Gift in den Adern der Menschen und sie war schon seit jeher sehr, sehr nachtragend.
Vera wandte ihren Blick zu den Sternengeistern. Es war lange her, seit sie das Letzte mal um Rat gebeten hatte.
„Weist mir den Weg", hauchte sie in die Nacht. Ein wenig Unterstützung konnte in ihrer Situation nichts schaden. Auch wenn ihr Glaube an die Ahnen sich in vielen langen und zu kalten Nächten nach und nach in Luft aufgelöst hatte.
Wie zu erwarten, blinzelten die Lichter ihr nur nichtssagend entgegen. Ihr Atem bildete helle Wolken um ihre Nase. Kleine schwebende Brücken zwischen dem Hier und dem Dort. Das Firmament schien nah fast greifbar.
Stille umgab sie.
Lächerlich. Armselig.
Niemand würde kommen, um sie zu retten, war es bisher ebenfalls nicht.
Vera wandte den Blick ab und drehte sich mit dem Rücken zum Geländer um. Lehnte ihre Arme darauf ab. Über ihr thronte das Schloss. Aus ihrem Winkel wirkte es noch höher als an ihrem ersten Tag. Die Türme stachen als vom Mond angestrahlte klingen durch die Masse der Sternengeister.
Vorsichtig kramte Vera Zunas Stein aus der Innentasche ihrer Uniform. Sie verließ das Zimmer nie ohne ihn, in der Angst jemand würde ihn entdecken. Ihre Mitbewohnerinnen waren nicht gesprächig oder unfreundlich, aber man wusste nie.
Der Stein lag rau an ihrer Ohrmuschel und der Wind sammelte sich in den kleinen Höhlungen. Zunas Geschenk spielte seine leise Melodie.
Ein dunkler Riss in der Eiswand zu ihrer Linken erregte ihre Aufmerksamkeit. Vorher war ihr die Imperfektion nie aufgefallen. Zu selten hatte sie allein auf dem Balkon gestanden, um sich etwas anderem zuzuwenden als ihrem Gegenüber. Doch nun wurde ihr klar, was der dunkle Fleck im sonst helleren Eis bedeutete.
Eine Lücke in der Wand, gerade zu breit wie ein Mensch. In einem Bereich des Erdgeschosses, in dem keine Wächter standen, wenn sie sich recht erinnerte.
Ein unbekannter Ausgang.
Ein Fluchtweg.
Und wenn es einen gab, gab es auch mehrere.
Ein Schauer überlief ihren Rücken mit hunderten kleinen Eispickeln. Ihre Freiheit hatte die gesamte Zeit so nahe gelegen und sie war zu blind gewesen sie zu sehen.
Sie legte den Kopf schief, um einen besseren Blick zu erhaschen und begriff, warum ihr die Stelle nun aufgefallen war und nicht mehr mit der Wand verschmolz.
Etwas bewegte sich innerhalb des Risses.
Ein Teil der Dunkelheit, ein Fetzen Nacht.
Schnell ließ sie den Stein wieder in ihrem Rock verschwinden und konzentrierte sich mit allen Sinnen auf ihre Umgebung.
Ganz unbekannt schien ihr möglicher Ausgang doch nicht zu sein.
Die Gestalt löste sich aus dem Bereich zwischen den Wänden und huschte geräuschlos hinter eine Schneeböe. Aus ihrer Entfernung konnte Vera nur gerade Schultern und eine ungewöhnliche Wölbung am Rücken erkennen.
Ein Rucksack oder Beutel möglicherweise.
Stahl sich jemand im Schutze der Nacht für immer davon und kam ihr zuvor?
Noch bevor sie ihren Gedanken beendete, erschien die Person wieder, wo sie verschwunden war, und trat erneut zwischen den Schutz der Eiswände. Seltsam.
Jemand der bewusst zurück kam.
Jemand der sich freiwillig unter die Augen und in den Machtbereich der Königfamilie begab. Warum sollte jemand verrückt oder verzweifelt genug sein, das zu tun.
Es würde nur Sinn ergeben, wenn dieser Jemand Dinge aus dem Schloss schmuggelte. Waffen oder Essen vermutlich und selbst dann brauchte es mehr als eine Person, um die Versorgungskette ordentlich zu nutzen, da er sich nicht zu weit entfernen durfte ohne, dass es auffiel. Sie hatte selbst gesehen, dass der Schatten nur kurz verschwunden und unmittelbar zurückgekehrt war. Jedoch ohne sein Gepäck.
Entsetzt trat die junge Frau einen Schritt von der Brüstung zurück, denn ihr wurde bewusst was oder wen sie dort entdeckt hatte.
Die Rebellen kamen dem Schloss nicht nur nahe. Sie befanden sich bereits darin.
Mit dieser Realisation beschloss Vera etwas Waghalsiges. In der nächsten Nacht würde sie die Schritte des Schattens nachgehen. Es ging sie nichts an und hätte ihr egal sein sollen. Wenn es nach ihr ging, machte es nichts schlimmer, wenn das Schloss endlich fiel, auch wenn es schade um Lia wäre.
Lia.
Sollte sie sie warnen? Unschlüssig vertagte Vera die Entscheidung, bis sie mehr Informationen hatte.
Vielleicht war sie neugieriger als sie sich eingestand. Vielleicht war das auch der Grund für ihre lange Anwesenheit im Schloss, aber zumindest gab es dort einen Weg hinaus und sie würde sich selbst schellten ihn nicht zu erkunden. Es gab viele Dinge zu bedenken, wenn ihre Idee gelingen sollte.
War der Ausgang wirklich unbekannt?
Wie waren die Wachenverteilungen und Pläne genau in der Nähe?
Welche war die beste Zeit zur Flucht? Diese Frage konnte sie sich bereits beantworten. Nachts offensichtlich. Dennoch würde sie nicht kopflos und ohne Gepäck aus dem Schloss stürmen. Eben so wenig mit leeren Händen in Zura ankommen.
Von Zeit zu Zeit wurden verfärbte Fehlschnitte von den Färbern aussortiert, wenn sie ihre Hände an diese bekam, könnte sie sich einen Beutel für Gepäck fertigen. Vorsicht war geboten und Zeit würde es benötigen, aber mit einem Lächeln auf den Lippen beschloss die Jägerin ihren Plan.
Sie würde nach Hause gehen.
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