Kapitel 9
"Seltsam, dass wir den Unterschied nicht sahen. Auch wenn es Zwillinge sind, unterscheiden sich die Schwestern enorm. Lili hat viel weichere Züge als Kaya und sie ist auch viel zierlicher."
Obwohl Lili langsam erwachte, öffnete sie die Augen nicht.
Sie hatte schon früh bemerkt, dass die Leute mehr erzählten, wenn sie der Meinung waren, ihr Gegenüber würde noch schlafen. Sie wusste nicht, wo sie war. Sie konnte nur vermuten, dass Velion sie ins Schloss gebracht hatte. Sie wusste nicht, wie man sie hier aufnehmen würde, deswegen war sie eher vorsichtig.
"Du kannst dir keinen Vorwurf machen, Doro. Wir kannten weder die richtige, noch die falsche Lili. Selbst ich sehe Lili erst jetzt in Visionen."
Diese Doro klatsche leise in die Hände.
"Das heißt dann aber auch, dass Velion sie akzeptiert hat. Das freut mich für ihn."
Die andere Frau brummte seltsam.
"Du freust dich für ihn? Er hat unseren König angegriffen und es steht immer noch nicht besonders gut um Calarion."
Doro seufzte leise.
"Ich weiß, dennoch kann ich Velion auch verstehen, vor allem die Wut, welche die beiden in diesem Augenblick antrieb. Calarion weiß doch, dass er Velion überlegen ist. Keiner der beiden hätte sich im Streit wandeln dürfen. Sie waren schlimmer als Nielema, Immi. Und das will schon was heißen."
Immi seufzte leise.
"Nun, es wird sich bald alles zum Guten wenden. Ich habe es gesehen."
Lili spürte, wie sich jemand über sie beugte und eine Haarsträhne aus dem Gesicht strich.
"Velion ist im Scharol-Gebirge. Es wird schwierig für dich werden, aber du wirst es schaffen. Hinter dem Wandschrank habe ich dir einen Rucksack mit Proviant hingestellt. Deine Hose und Tunika sind ebenfalls dort. Es sieht nach viel Gepäck aus, was ich dir noch gerichtet habe, aber du wirst es brauchen. In etwa einer Stunde steht ein Pferd gesattelt im Hof. Reite soweit du kannst und dann schicke es zurück. Es kennt den Weg. Klettere zu der Höhle. Alles weitere ergibt sich dann."
Es war Immi gewesen, die ihr die Anweisungen zugeflüstert hatte und nun tätschelte sie Lili die Schulter.
"Ich weiß, du schaffst es, Lili. Du wirst die Gemeinschaft wieder zusammenführen."
"Du redest mit ihr, als ob sie wach wäre.", bemerkte Doro.
Lili kicherte.
"Sie traut uns nicht, was ich verstehen kann. Bisher hat nur Velion sein Versprechen gehalten und sie kennt uns noch nicht. Jetzt komm, Doro. Lili kommt ohne uns zurecht."
Obwohl diese Immi wohl wusste, dass Lili wach war, hatte sie nicht darauf bestanden, dass sie mit ihnen redete. Sobald die Tür verschlossen war, stand Lili auf und fand alles genauso, wie Immi es beschrieben hatte. Auf einem anderen Tisch fand sie noch warmes Essen, dass sie schnell hinunter schlang. Danach wusch sie sich und zog sich die Hosen an.
Eigentlich sollte sie das ablehnen, da diese Kleidung von Racola war, aber Lili war praktischer Natur und da sie reiten sollte, war ein Kleid wohl eher eine schlechte Wahl.
Sie nahm den Rucksack und das Bündel, dass aus Decken, Umhängen und Schals bestand und schlich sich aus dem Zimmer.
Niemand begegnete ihr. Hier und da fand sie kleine Hinweise von Immi, wo sie hin musste und irgendwann fand sie das Pferd, stieg auf und ritt davon.
Den Weg zum Gebirge kannte sie.
Jetzt musste sie nur Velion finden.
Das, was sie gehört hatte, war nicht gerade hoffnungsvoll. Sie musste Velion davon überzeugen, sich wieder mit seinen Brüdern zu vertragen. Vor allem mit Calarion.
Sie ahnte, dass dies bestimmt nicht einfach werden würde, doch sie wollte ihr Bestes versuchen.
Nielema umarmte seine Braut von hinten. Immi stand am Fenster und lächelte zufrieden.
Er sah, wie sich Velions Braut auf einem Pferd davon machte.
"Du hast das alles organisiert, oder? Ist das klug? Velions Anweisungen waren diesbezüglich klar und bestimmt. Er will sie nicht in der Höhle haben."
Immi lehnte sich seufzend an ihn und schmiegte ihre Wange an seine Brust. Er war immer wieder erstaunt, wie diese kleine und zarte Frau gerade ihn lieben konnte, aber er kannte auch eine andere Immi, eine, die sich nichts gefallen ließ.
"Ich habe es gesehen, Nielema. Sie bringt Velion zurück. Du wirst auch der erste sein, der ihnen begegnet."
Nielema schnaubte.
"Nun sagst du mir wohl, ich soll Velion im Schloss willkommen heißen. Immi, er hat Calarion beinahe umgebracht und ist ein elender Stinkstiefel, dem man nichts recht machen kann."
Sie nickte und drehte sich zu ihm um.
"Das weiß ich doch. Aber er wird es wieder gut machen, du wirst sehen. Und da er endlich Lili hat, wird er nicht mehr so unzufrieden sein. ihr werdet alle erleben, dass euer Bruder ein ganz anderer ist, wenn Lili es schafft, ihn richtig an sich zu binden. Und das wird sie."
Nielema war immer noch skeptisch.
"Ich soll ihn also ins Schloss lassen? Kanoran und Faköle werden mich umbringen."
Sie lachte glockenhell und küsste ihn auf das Kinn.
"Nielema, du bist der Kriegsdrache. Nur Jefrandt und Calarion könnten sich mit dir messen. Außerdem hat Faköle seine eigenen Probleme. Mit Kanoran wirst du es wohl aufnehmen können. Oder habe ich dich in der letzten Zeit so gefordert, dass du geschwächt bist? Ich hatte eigentlich nicht den Eindruck, ich hätte dich überfordert."
Er hob sie auf seine Hüfte und küsste sie ausgiebig.
"Du kleine Hexe.", keuchte er nach einer Weile. "Versuche nicht, mich irgendwie einzuwickeln, nur damit ich dir zu Willen bin. Das hast du gar nicht nötig. Ich bin doch jetzt schon Wachs in deinen Händen."
Sie kicherte und schmiegte sich an ihn.
Nielema fragte sich, ob er jemals genug von dieser Frau bekommen konnte.
"Ich werde Velion ins Schloss lassen. Mehr noch: Ich werde ihn zu Calarion führen. Das ist es doch, was du willst?"
Sie nickte und sah ihn mit ihren unschuldigen Augen an.
"Ja. Und wenn du dann mit deinen eigenen Augen siehst, was dann geschieht, wirst du froh sein."
Er wirbelte sie herum und trug sie in Richtung des Schlafgemaches.
"Ich nehme mal an, du willst mir noch nicht sagen, was geschehen wird?"
Sie kicherte leise.
"Und dir damit die ganze Überraschung verderben? Nein. Aber es wird dich freuen, das kann ich dir versprechen."
Er knurrte und spielte den Verstimmten.
"Das hoffe ich für dich, Immi."
Velion war nicht gleich zurück zu der Höhle geflogen. Stattdessen hatte er noch einmal die Grenzen kontrolliert.
Racola und seine Krieger waren verschwunden, aber sie hatten einen Mann zurückgelassen, der schon mehr tot als lebendig war. Kaum war Velion gelandet, kam eine Frau mit einem Prügel auf ihn zugestürmt.
"Verschwinde, Drache! Lass Numa in Ruhe!"
Velion schnaubte, hielt den Prügel fest und starrte sie an.
"Ich wollte eigentlich helfen, aber wenn das nicht erwünscht ist, kann ich auch wieder gehen."
Die Frau sah wohl schnell ein, dass sie gegen einen Drachenprinz nicht ankommen würde. Sie senkte den Kopf und ließ den Prügel fallen.
"Dann töte mich."
Velion verzog ungläubig das Gesicht.
"Ich habe vom Helfen gesprochen und nicht vom Töten. Verstehst du meine Sprache nicht?"
Nun war sie es, die ihre Augen aufriss.
"Aber...aber...wir sind Drachenjäger."
Velion lachte bitter.
"Der Mann ist verletzt, ich bringe ihn zumindest in ein nahegelegenes Dorf, wo man sich um ihn kümmern kann."
Er hockte sich vor den Mann und wunderte sich nach einer Weile, dass die Frau ihm eine Decke über die Schultern warf.
"Ich friere nicht, alte Frau."
Sie kicherte.
"Das mag sein, aber du bist nackt. Ich bin alt und mein Herz verträgt das nicht so."
Er lachte schallend.
"Tut mir leid. Ich denke nicht immer daran."
Er untersuchte die Wunden des Mannes.
"Mh, er wurde böse verprügelt, aber ich sehe da noch eine Stichwunde."
Die Alte seufzte.
"Unsere kleine Lili hat ihm diese Wunde beigebracht."
Velion hob den Kopf.
"Lili? Meine Lili war das?"
Die Alte lächelte.
"Ist sie denn deine Lili? Wenn ja, warum hast du sie bei Racola gelassen? Wenn du sie geholt hättest, wäre uns alles erspart geblieben."
Sie strich dem Krieger das Haar aus der Stirn.
"Lilli musste Numa ein Messer in die Seite stechen, um so eine Verletzung vorzutäuschen. Numa sollte ihr Leibwächter sein, half ihr aber bei der Flucht, weil er sah, was Racola nicht wahrhaben wollte."
Velion riss einen Streifen aus der Decke und verband die Stichwunde.
"Was hat er denn gesehen?", fragte er leise.
Die Alte seufzte.
"Racola begehrt Lili. Er will sie zu seiner Frau machen. Aber zum einen würde man sie bei den Drachenjäger nie akzeptieren, weil sie eine Drachenbraut ist und zum zweiten hat sie immer gesagt, dass sie dir versprochen ist, Silberdrache."
Velion schluckte hart.
Lili hat es also die ganze Zeit gewusst und wahrscheinlich auf ihn gewartet. Und er hat sie im Stich gelassen, weil er ein Feigling war.
"Was hat Racola ihr angetan?"
Die Alte seufzte.
"Nichts. Die Sache mit dem Erdloch kann man ihm nicht zuschreiben. Das war ihre eigene Schwester. "
Velion hob eine Augenbraue.
"Erdloch?"
Die Alte nickte.
"Ja, sie wurde von ihrem Bruder zu einem kleinen Clan gebracht. Kaya, Lilis Schwester, hat den Anführer dafür bezahlt, dass er Lili in einem Erdloch gefangen hält. Erst Wochen später informierte sie Racola darüber, wo die Drachenbraut ist."
Velion zischte.
"Lili saß wochenlang in einem Erdloch?"
Die Alte nickte.
"Racola hatte zwar davon gehört, aber er dachte wohl, dass man sie gut behandelte. Ich habe das Mädchen gesehen, als man sie brachte. sie war abgemagert und schmutzig. Sie stank erbärmlich, weil man ihr nicht einmal frische Kleidung gab. Nun, Racola päppelte sie auf. Ich nehme an, dass er sich wirklich in Lili verliebt hat, aber die Art, wie er es ihr sagte, brachte Lili dazu, ihre Flucht zu planen. Numa, ihr Bruder und ich halfen ihr, weil wir genau wussten, dass Lili nie akzeptiert werden würde. Noch war sie die ganze Zeit in ihrem Gemach eingesperrt, aber sobald sie sich frei bewegte, wurde sie von den Männern beleidigt."
Velion knurrte.
"Nur weil sie einem Drachen versprochen war."
Die Alte sah ihn ernst an.
"War? Hast du dich von ihr losgesagt? Von Lili kann ich es mir nicht vorstellen. Sie wusste, dass sie die Deine ist. Ich habe gesehen, wie sie hoffnungsvoll auf dich gewartet hat."
Nun war es Velion, der den Kopf senkte.
"Ich wäre ihr kein guter Mann. Ich habe etwas getan, auf das ich nicht stolz bin."
Sie lachte.
"Welcher Mann hat dies noch nie getan? Wir Frauen sind euch Mannsbildern gegenüber immer sehr großzügig, vor allem, wenn wir euch mögen. Und Lili mag dich, Silberdrache."
Er schnaubte.
"Sie kennt mich nicht. Wir sind uns nur einmal begegnet und ich sah sie dort keine zehn Minuten."
Wieder ein Lächeln.
"Das reicht manchmal schon aus. Nicht immer, das gebe ich zu, aber in sehr seltenen Fällen, wenn das Paar etwas Besonderes ist, kann es schon vorkommen. Und sehe es mal von der Seite. Racola hat ihr ein Reich angeboten. Er bot ihr Macht an und die hätte sie, wenn sie sich für ihn entschieden hätte. Die Inakzeptanz würde schnell verflogen sein, denn Racola würde sie mit seinem Leben verteidigen und jeden bestrafen, der es wagt, seine Frau zu beleidigen. Aber sie hat sich gegen ihn entschieden und auf dich gewartet. Glaube mir. Lili hat dieser kurze Augenblick ausgereicht, um zu erkennen, dass sie dir gehört. Und nur dir."
Velion stand auf. Diese Loyalität von Lilli hatte er nicht erwartet. Und auch nicht, dass sie immer zu ihm stehen würde, egal was sie erlebte. Er war peinlich berührt. Was hatte er getan? Nicht gerade viel, wenn man bedachte, was Lili alles auf sich genommen hatte.
"Ich bringe euch nun in das Dorf. Wenn Numa genesen ist, kann er entscheiden, wo er leben will. Wir werden ihn nicht dafür bestrafen, dass er gegen uns kämpfte. Ihr dürft hier leben, allerdings unter der Voraussetzung, dass ihr keine üblen Reden gegen uns Drachen schwingt und dass ihr uns nicht tötet."
Die Alte kicherte.
"Ich denke, das kann ich auch im Namen von Numa versprechen. Wie sollen wir das zu zweit auch anstellen?"
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