ZWANZIG
Eine Stunde später trafen wir uns an den Ställen. Die Vorfreude spießte in meiner Brust und ich konnte das breite Grinsen, das auf meinen Lippen lag nicht ablegen.
Schnell analysierte ich die Situation bei den Ställen. Der Wachmann der gestrigen Nacht war nicht zu sehen. Zu meinem Glück. Ich war viel früher an unserem Treffpunkt als die anderen, weil ich auf keinen Fall zu spät kommen wollte.
Arthur begleitete mich auf Schritt und Tritt. Eventuelle war er sogar etwas genervt davon, dass ich überpünktlich zu den Ställen erscheinen wollte und er jetzt mit mir hier warten musste. Er gesellte sich zu den zwei Wachmännern am Stall, die sofort anfingen über die neusten Ereignisse zu reden. Unwillkürlich dachte ich an Sams Aussage, Wächter wären die größten Verfechter von Klatsch und Tratsch, die es gibt. Das Bild passte perfekt in die Schilderung meines Freundes.
Weil ich die Männer nicht bei ihrer angeregten Unterhaltung stören wollte, ging ich in den Stall um Willow einen Besuch abzustatten. Obwohl es mich brennend interessierte, ob sie sich über gestern Nacht unterhielten. Aber niemand hatte mich gesehen, sonst hätte ich es längst zu spüren bekommen. Deshalb konnte es mir auch egal sein, falls sie anfingen über den Wächter zu reden, den ich bewusstlos geschlagen hatte.
Erleichtert sah ich, dass auch in der Box, in die ich den Wachmann gelegt hatte, kein bewusstloser Mann mehr lag. Ich war froh, dass ihn mein Schlag nur für die kurze Zeit ausgeschaltet hatte. Es hatte alles so funktioniert, wie ich es mir vorgestellt hatte.
Als ich an der Box von Willow ankam, stahl ich mir eine Möhre aus einer der anderen Futternäpfe, um sie meinem Pferd zu geben und streichelte sie sanft.
„Wir fahren gleich zur Kreideschlucht. Ich muss zwar mit meinen Geschwistern in einer Kutsche fahren, aber das überlebe ich schon. Die Kreideschlucht ist an der Grenze zu Sodessa. Ich war noch nie in Sodessa und habe Sodessa auch zuvor noch nie gesehen. König Janis sagte, dass das Abendmeer so dunkel sei, dass man sich darin Spiegeln könnte, ist das nicht aufregend?", erzählte ich Willow und gab ihr einen Klapps auf den Hals. Meine Stimme war ein euphorisches Quietschen, das mich selbst überraschte.
Plötzlich fühlte ich mich wieder wie ein kleines Kind. Etwas neues, großes stand bevor. Immerhin eine Sache, die diese Reise nach Sywentha zu etwas wunderbaren formte.
Als ich die Stimmen meiner Geschwister vor dem Stall vernahm, lief ich mit einem breiten Lächeln nach draußen.
„Sind wir alle bereit?", fragte ich und schaute erwartungsvoll drein.
Ildor zog seine Augenbrauen zusammen.
„Wofür bereit?", erwiderte er verwirrt und musterte mich abfällig, wie er es sonst so oft schon gemacht hatte. Ich hatte mich nicht umgezogen und trug noch immer das hässliche, alte Kleid vom Frühstück.
„Um zur Kreideschlucht zu fahren?", antwortete ich und versuchte es genauso patzig klingen zu lassen, wie er zuvor. Allerdings gelang mir das nur halb so gut wie ihm.
Dabei schüttelte ich leicht meinen Kopf, um zu symbolisieren, dass Ildor anscheinend schwer vom Begriff war.
„Ach Anderia, du glaubst doch nicht ernsthaft, dass du mitkommst, oder?"
Mein Herz setzte eine Sekunde lang aus. Herablassender. Eingebildeter. Mistkerl.
„Doch... König Janis hat gesagt, dass wir alle einen Ausflug machen", entgegnete ich und hoffte sehr, dass ich im Recht war.
Jeder meiner Worte betonte ich auf eine langsame, leicht aggressive Art und Weise um dem Gesagten mehr Ausdruck zu verleihen.
Er hatte ausdrücklich von uns allen gesprochen, weil wir uns alle kennenlernen wollten. Und nach Außen schien es so, dass ich genauso ein Kind aus dem Königshaus war, wie Inara oder Ildor, deshalb musste ich mitkommen.
Jetzt brach Ildor in schallendes Gelächter aus.
„Du bist manchmal so süß naiv, kleines Schwesterchen", sagte er und kniff mir dabei in die Wange. Mein Körper zuckte zusammen, dessen Beine stolperten unkontrolliert nach hinten.
Ich schaute zu Inara, die aber nur mit den Schultern zuckte.
Inara selbst war nie die Person, die anfing mich zu schikanieren. Aber sie unternahm auch nichts dagegen, wenn sie dabei war. Und das war sie oft. Manchmal machte mich diese Erkenntnis viel trauriger als Ildors Worte.
„Was ist hier denn los?", hörte ich nun Danielle in meinem Rücken sagen.
Ich schloss meine Augen kurz, um mich anschließend mit einem breiten, aufgesetztem Lächeln zu ihr umzudrehen.
„Überhaupt nichts, wir machen uns nur bereit für den Ausflug", sagte ich so überzeugend, wie möglich.
„Anderia denkt ernsthaft, dass sie mitkommt", mischte sich jetzt Ildor ein und stellte sich demonstrativ neben mich. Er verschränkte seine Arme und schaute seine Mutter abwartend an. Diese Situation fühlte sich unrealistisch, vollkommen lächerlich an. Wie zwei Kinder, die nach der Aufmerksamkeit ihrer Mutter buhten. Wir waren zwei Erwachsene, Ildor war bereits Mitte zwanzig und wir benahmen uns wie kleine Kinder.
„Oh, Anderia. Tut mir leid für das Missverständnis. Ich dachte es wäre klar, dass du hierbleibst", sagte Danielle mit gespielter Reue.
Ihre Worte schnitten mir in meine Seele. Es war nur eine Kleinigkeit. Ein winziger Ausflug. Selbst das gönnte mir diese Familie nicht. Diese Frau nahm mir alles, was mir etwas bedeutete.
Tränen brannten in meinen Augen, als ich ihr antwortete.
„König Janis sprach davon, dass wir alle mitkommen würden", sagte ich ihr nun und hob mein Kinn an, um selbstbewusster zu wirken.
Danielles Blick huschte schnell nach links und rechts, bevor sie mich grob an meinem Oberarm packte und zur Seite zerrte.
„Wie kommst du überhaupt darauf, dass du mitkommst. Hast du deine Aufgabe vergessen? Wenn wir mit König Janis und einigen seiner Wachen einen Tagesausflug machen, ist das für dich die perfekte Möglichkeit, um irgendetwas herauszufinden. Du wirst den ganzen Tag nutzen, Anderia. Ich erwarte, dass du mir heute Abend brauchbare Informationen lieferst", zischte sie und schaute mich böse an.
Jetzt war meine Hoffnung endgültig zerflossen und die erste dünne Träne kullerte über meine Wange. Ich bemühte mich nicht, jene zurückzuhalten. Es brachte ohnehin nichts.
Ich öffnete den Mund, um ihr zu erklären, dass ich über Tag bewacht werden würde und ich nirgendwo ohne die Wache hinkonnte, aber sie ließ mich nicht zu Wort kommen.
„Was fällt dir ein jetzt zu weinen Anderia Rohana. Du wusstest von Anfang an, weshalb du hier bist, jetzt tu nicht so, als ob du ungerecht behandelt wirst. Sei verdammt noch mal dankbar."
Dankbarkeit. Es war schwer dieses Gefühl für die Frau zu empfinden, die mir jedes kleinste Fünkchen Glück nahm. Trotzdem musste ich dieses Gefühl verspüren und wusste, dass es das Richtige war. Meine Aufgabe in dieser Familie war klar, also musste ich versuchen Danielle zu gefallen und all das zu tun, was sie verlangte.
Schließlich kannte sie mich besser als jeder andere auf dieser Welt. Das Schluchzen, das in meiner Kehle emporsteigen wollte, unterdrückte ich gekonnt. Ich blinzelte die Tränen weg und senkte den Blick, unfähig die harte Visage Danielles zu ertragen.
Ich fühlte mich klein und unbedeutend, als wäre ich ein nichts für Danielle, obwohl ich wusste, dass es nicht so war. Sie hatte so viel für mich getan. Nur zeigte sie mir die mütterliche Fürsorge auf eine andere Art und Weise, als ich es mir wünschte.
„Du hast Recht, es tut mir leid", murmelte ich, meine Worte durchflutet von bitterer Enttäuschung.
„Geh sofort auf dein Zimmer, ich werde König Janis sagen, dass du dich krank fühlst. Weißt du eigentlich, wie riskant und dumm es war, dass du hierhergekommen bist? Du kannst froh sein, dass ich früher als König Janis hier war", bellte sie und wandte sich ab.
Ich stand noch kurz benommen so dar, bis ich mich mit langsamen Schritten Richtung Schloss bewegte. Arthur lief mir still und heimlich hinterher. Die Wächter hatten nichts von dem Gespräch mitbekommen, dafür hatte meine Stiefmutter gesorgt. Ich war mir nicht sicher, ob ich das für gut befand. Vielleicht hätte Arthur sich für mich einsetzen können.
Auf halbem Weg traf ich Sam, der mich fragend anblickte. Er war etwas zu spät dran und ich bemerkte, dass er sich abhetzte. Ich erklärte ihm deshalb nur kurz, dass ich mich nicht gut fühlte und Ruhe brauchte. Er fragte nicht weiter nach, wünschte mir nur gute Besserung und ging zu den Ställen.
Somit konnte ich eine weitere Lüge auf unsere beginnende Freundschaft schreiben.
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