Kapitel 9
Vìn war gefangen in ihrem Rausch, blind vor Wut. Sie warf sich nach vorn und stieß ihren Dolch auf den Colonel zu. Das Kreischen von Knochen auf Metall füllte ihre Ohren. Und dann war da nur noch Schmerz, der ihren Waffenarm hinauffuhr. Ihre Hand wurde sofort taub. Es klapperte, als ihr Messer zu Boden fiel, und Vìn folgte ihm einen Wimpernschlag später. Ihre Knie schlugen auf dem Felsboden auf, doch durch das Pochen in ihrem Arm spürte sie den Aufprall kaum. Sie keuchte auf und warf ihren Oberkörper zurück, doch die Bewegung ließ sie aufschreien. Die Zähne fest zusammengepresst, erstarrte sie. Es war, als hätte man ihr die Sinne genommen, als sei sie blind und taub gegenüber der Welt.
Doch da war eine Stimme dicht an ihrem Ohr, die sie überdeutlich wahrnahm.
»Nicht übel, Wölfchen. Ich dachte, du hältst nicht einmal bis Sonnenuntergang durch, ehe du den ersten Mordversuch startest.«
Kostya. Der Schmerz in ihrem Arm ließ schlagartig nach, als er sie losließ, und sie wirbelte herum. Doch er hatte sich bereits einen Schritt zurückgezogen. Sie griff nach dem Dolch in ihrem Gürtel, doch der Colonel ließ sich unbeeindruckt in der Mitte der Lagerstelle nieder. Er warf ihr nur ein blitzendes Lächeln zu, das sie sogar in der Dunkelheit erkennen konnte. Um seine Finger tänzelte ihre zweite Waffe, von der sie nicht einmal bemerkt hatte, dass er sie an sich genommen hatte. Lässig balancierte der Colonel das Messer auf den Handknöcheln, als hätte er alle Zeit der Welt für banale Tricks.
Sie duckte sich und setzte langsam einen Fuß vor den anderen, völlig im Gleichgewicht. Das Raubtier in ihr war noch nicht bereit, die Jagd aufzugeben. Doch ein einziger Blick Kostyas ließ sie innehalten.
»Ich habe geschlafen, war unbewaffnet und nicht vorbereitet. Ich war vielleicht zu schnell, als dass du es bemerkt hättest, aber ich habe dich einhändig überwältigt. Bist du wirklich so dumm, mich jetzt anzugreifen?«
Sie starrte ihn stumm an. Ihr Monster drängte nach vorn, doch sie schob die Instinkte unwirsch zurück. So schmerzhaft allein der Gedanke war, der Colonel hatte recht. Das hier war nicht der richtige Moment für einen Mord. Und trotzdem ging es ihr unter die Haut, wie entspannt er aussah.
»Das ist der Moment, in dem du mich bestrafen und zurück ins Lager schleppen solltest.« Sie blitzte ihn zornig an, suchte vergeblich nach einer Spur Aufregung in seinen ebenmäßigen Zügen. Trotzig schob sie das Kinn vor. »Wenn du kannst.«
Abgesehen von einem amüsierten Funkeln in den Augen, die im spärlichen Licht beinahe schwarz wirkten, ging er auf die letzte Bemerkung nicht ein. »Ich bin Anführer einer tausend Mann starken Armee. Ich tue für gewöhnlich das, was mir passt, und nicht, was ich tun sollte.«
»Soweit ich weiß, ist General Sírnir der Anführer dieser Armee«, spie sie ihm entgegen.
Auch dafür hatte er keine Antwort übrig, doch das aalglatte Lächeln sprach für sich.
Er ließ seinen Blick provokant über ihren angespannten Körper wandern und kippte den Kopf leicht auf die Seite. Er erwartete, dass sie einknickte. Aber den Gefallen würde sie ihm nicht tun, auch wenn die Frage in ihr brannte, wie er ihren Angriff so mühelos hatte abwenden können.
Mit einem Schnauben ließ sie sich fallen, beinahe an derselben Stelle, an der Kostya zuvor geruht hatte. Demonstrativ drehte sie sich von ihm weg. Er würde sie nicht angreifen. Was auch immer in seinem verdrehten Kopf vorging, er war überzeugt, sie zu brauchen. Das würde sie gegen ihn verwenden. Sollte er sich doch in Sicherheit wiegen und sie unterschätzen. Wenn seine Wachsamkeit nachließ, würde sie bereit sein.
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Noch bevor sie am nächsten Morgen die Schlucht erreichten, versuchte Vìn dreimal, Colonel Kostya umzubringen.
Ihre erneute Messerattacke wehrte er derart leichtfertig ab, dass sie ihre Waffen in ihrem Gürtel verschwinden ließ und dazu überging, ihn die Bergflanke herabzustürzen. Auch dafür hatte er nur ein gelangweiltes Lächeln übrig, und er versuchte nicht einmal, das Amüsement in seinem Blick zu verbergen. Die fehlende Angst ihr gegenüber schürte Vìns Zorn mehr und mehr an. Letzten Endes war sie so verzweifelt, dass sie einen ihrer Dolche nach Kostya warf. Als er darüber unverhohlen lachte, konnte sie es ihm innerlich nicht verdenken. Ihre Treffsicherheit war schon immer mies gewesen. Und Kostya schien sich mit übermenschlicher Schnelligkeit zu bewegen. Ihr war längst klar geworden, dass sein Tod keine leichte Aufgabe werden würde. Vielleicht war das der Grund, weshalb sie ihn so leichtfertig angriff. Sie war eine Beschützerin, keine kaltblütige Mörderin. Doch mit seinem selbstgefälligen Verhalten und der mühelosen Verteidigung ging ihr der Colonel direkt unter die Haut.
Sie hatten seit der vergangenen Nacht kein Wort miteinander gewechselt. Erst, als sie die Schlucht erreichten, räusperte Vìn sich mit skeptischem Blick. Das Felsplateau war von Schneewehen bedeckt und gegenüber von ihnen klaffte eine Wunde im Berg, wo der Vorsprung niedergebrochen war. Kostya ignorierte dieses Schlachtfeld und befestigte zielgerichtet ein Seil an einem der Felsen.
»Sie können unmöglich dort drüben sein. Die Lawine hat die andere Seite frontal getroffen«, knurrte Vìn ihm mit heiserer Stimme zu.
»Deswegen überqueren wir die Schlucht nicht.« Der Colonel trat an den äußersten Rand der Felsspalte. »Wir gehen hinein.« Er warf ihr einen provokanten Blick über die Schulter zu. Er wollte sie bei einem weiteren Angriff scheitern sehen. Sie unterdrückte das Drängen ihres Monsters, trotzdem vorzustürmen.
»Sie können den Sturz unmöglich überlebt haben.«
Erst sah es so aus, als würde er ihren Protest wie üblicherweise ignorieren, doch dann drehte er sich um und funkelte sie offen an. »Das sind meine Männer. Du hast keine Ahnung, zu was sie fähig sind.« Mit festem Griff drückte er ihr das Seil in die Hände. »Du kletterst zuerst runter.«
Sie schnaubte, folgte aber dem Befehl. Sie spürte seine Augen auf ihr ruhen, als sie ihre Füße über die Klippe schwang. Das Seil war lang, lag wie eine schlafende Schlange aufgerollt im reinweißen Schnee. Dennoch fragte Vìn sich unwillkürlich, ob es ausreichen würde, als sie in die gähnende Tiefe hinabstarrte. Das Ungeheuer in ihrem Inneren drängte sie zum Rückzug, sträubte sich gegen die Leere, die sie erwartete. Aber sie war sich bewusst, dass der Colonel nur auf ein Zeichen der Schwäche wartete, und trat den Weg nach unten an, ohne ein weiteres Mal zurückzublicken.
Es war nicht schwierig, sich am Seil hinabzulassen. Doch immer, wenn ihre Füße für einen Moment den Halt verloren und sie nur die Kraft ihrer Arme vom sicheren Tod trennte, entwich ihr ein gepresstes Keuchen. Nachdem sie die Hälfte der Strecke zurückgelegt hatte, waren ihre Handflächen schweißverklebt. Sie musste ihre Finger fest zusammenpressen, um nicht abzurutschen, und ihre Muskeln begannen zu protestieren. Mit zusammengebissenen Zähnen legte sie den letzten Teil des Wegs zurück und konnte nicht verhindern, in den Schnee zu sinken, sobald sie festen Boden unter den Füßen hatte. Es blieb ihr nur die Genugtuung, dass auch Colonel Kostya eine Spur blasser wirkte, als er ihr nachkam. Sein keuchender Atem rauschte in ihren Ohren.
Vìn sog die kühle Schneeluft tief ein, und ihr Sichtfeld wurde klarer. Ihr Blick heftete sich auf Kostya, der die Augen geschlossen hatte und an der Felswand auf die Knie gesunken war. Bevor er sich fangen konnte, stieß sie die Worte hervor, die seit dem Morgen auf ihrer Zunge lagen.
»Wie seid Ihr so-« Sie stockte.
»Talentiert? Wundervoll? Attraktiv?«, schlug er vor. Sie verzog die Lippen, doch er öffnete seine Augen nicht.
»Stark«, brachte sie heraus.
Kostya stemmte eine Hand gegen die Felsen und kämpfte sich auf die Beine. »Ich bin nicht übermäßig stark. Ich setze meine Stärke nur bestmöglich ein.«
Wie aus einem Reflex heraus öffnete sie den Mund zum Widerspruch. Doch ihr entwich nur ein wütendes Knurren. Er schien ihre Attacken zu kontern, bevor sie erst dazu angesetzt hatte. Bisher hatte er nicht ein einziges Mal rohe Kraft gegen sie angewandt. Seine Griffe waren so zielgerichtet und rasch, dass sie sie kaum ausmachen konnte.
»Du dagegen...« Sein Ton wandelte sich in Verachtung. »Du kämpfst wie ein Tier, Wölfchen. Es ist ein Leichtes, deine Züge vorherzusehen. Du denkst zu wenig.«
Vìn verschränkte die Arme, um das Zittern ihrer Hände zu verbergen. Kostyas Worte ließen ihr inneres Feuer höher lodern, aber verdammt, er hatte Recht. Er war besser als sie, und das konnte sie nicht zulassen.
Mit verengten Augen verfolgte sie jede seiner Bewegungen. Er schien sich von der Kraftanstrengung erholt zu haben, denn er begann bereits, die Bergflanke wieder hochzuklettern. Sie fragte nicht nach, was er vorhatte, und nach wenigen Metern hielt Kostya inne. Mit einigen schnellen Hieben säbelte er das Seil mit einem Dolch durch.
Bewegungslos wartete sie darauf, dass er wieder neben ihr landete. Er federte seinen Sprung geschickt ab, dichter an ihr, als ihr lieb war. Doch sie wich nicht vor ihm zurück, sondern verschränkte die Arme und hielt seinem stechenden Blick stand. Er zog eine Braue hoch, und in seinen flammenden Augen stand das verhasste Funkeln.
Bevor sie darüber nachdenken konnte, ließ sie die Worte frei, die bereits seit der vorherigen Nacht aus ihr herauszuplatzen drohten.
»Bringt es mir bei.«
Als sich eine Ahnung von Überraschung in seinen Ausdruck schlich, konnte sie ein Zucken der Mundwinkel nicht unterdrücken.
»Soweit ich mich erinnere, untersagen es die Gesetze von Zaarlos, Bastarden Kampftechniken beizubringen.« Die Worte des Colonels waren eiskalt und hart, doch sie meinte, eine Spur Neugier in ihm lesen zu können.
»Soweit ich mich erinnere, habt Ihr diese Gesetze aufgestellt. Es wird Euch keinen Zacken aus der Krone brechen, sie etwas anzupassen.« Und sie redete sich selbst ein, dass es auch nicht gegen ihren Stolz ging, ihn um etwas zu bitten. Sie war ein Raubtier von Zaarlos, und doch wirkte jede seiner Bewegungen gefährlicher als ihre. Nicht mehr lang.
Vìn hatte dennoch nicht erwartet, dass Kostya einfach auf ihre Forderung eingehen würde. Er rechnete vermutlich selbst nicht damit. Doch diesmal war sie es, die bei den nächsten Worten überrascht blinzelte.
»Ich schätze, man könnte es so deuten, dass hier draußen die Strukturen des Lagers nicht geltend sind. Hier bist du kein Bastard und ich kein Colonel. Es ist nicht verwerflich, wenn ein talentierter Mann seinen eifrigen Handlanger trainiert.«
Auf ihr ungläubiges Starren hin zuckte er lässig die Schultern. »Sollten wir in einen ernsthaften Kampf geraten, wäre es mir nur von Nutzen, wenn du mich verteidigen kannst. Mir liegt viel an meinem Leben.«
Unbewusst waren sie näher zusammengerückt. Vìns Fingerspitzen streiften das Heft ihres Dolches, der griffbereit in ihrem Gürtel ruhte. Sie konnte beinahe Kostyas Körperwärme spüren. Auf diese Entfernung würde er einen Stich unmöglich abwenden können. Mit angehaltenem Atem wartete sie auf eine Regung ihres Ungeheuers, doch diesmal blieb es stumm.
»Ihr müsst lebensmüde sein«, presste sie hervor, nur, um die Stille zwischen ihnen zu füllen, »wenn Ihr mir das Kämpfen beibringen wollt, nachdem ich versucht habe, Euch umzubringen.«
»Du willst doch nicht etwa einen Rückzieher machen?« Der Colonel legte seinen Kopf schief und schob sich einen weiteren Fingerbreit auf sie zu. »Mach dir um mich keine Sorgen, Wölfchen. Du könntest ein Dutzend Sonnenkreise trainieren und würdest mir noch immer nicht das Wasser reichen.«
Sie schnaubte auf und drehte sich von ihm weg. Erst, nachdem sich eine Pferdelänge Abstand zwischen ihnen befand, schien sie wieder richtig atmen zu können.
»Das werden wir sehen. Du hast noch nie jemanden wie mich trainiert.«
Wenn Kostya von der persönlichen Anrede irritiert war, ließ er es sich nicht anmerken.
»Um genau zu sein, habe ich noch nie irgendjemanden trainiert, Wölfchen.«
Sie gab keinen Kommentar dazu ab. Vorsichtig lief sie ein paar Schritte, behutsam ihr Bein belastend, das Kostya zuvor getroffen hatte. Als sie zufrieden bemerkte, dass sie wieder Herrin ihres Körpers war, warf sie ihm einen Blick über die Schulter zu.
»Also, was jetzt?«
»Jetzt laufen wir, bis wir den Ausgang dieser Schlucht oder meine Legionäre finden.«
Vìn wusste von ihrer letzten Mission, dass die Felsspalte in südlicher Richtung in einem Abhang endete, der von Eiszapfen bedeckt war. Nicht einmal mit Seilen würden sie es sicher den Berg hinunterschaffen. Ihnen blieb nur der Weg nach Norden, weiter hinein in das Gebirge, das als unüberwindbar galt.
Colonel Kostya musste verrückt sein, dass er die enge Passage ohne einen weiteren Gedanken entlangstapfte. Und sie noch verrückter, dass sie ihm wortlos folgte.
Mordversuch-Count: Vier. Irgendwelche Vermutungen, wie der Zähler am Ende des Romans aussieht?
Vìn und Kostya in Kombination machen einfach nur Spaß. Beim Lesen hoffentlich genauso sehr wie beim Schreiben!
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