Kapitel 7
Farran Danyar sollte recht behalten.
Sie brauchte drei Tage und war völlig ausgehungert, doch sie schaffte es ins Lager zurück. Es war ihr egal, dass sie eigentlich Kostya Bericht erstatten musste. Sie schlich sich über die Ostseite ins Lager und machte nur einen kurzen Abstecher zu den Greifern, um ein junges Kaninchen an sich zu nehmen, das hoffentlich niemand vermissen würde.
Und dann, als sie sich im Schatten der Schlafbaracken auf ihren Unterschlupf zuschob, wurde sie attackiert.
Vìn zuckte zusammen, als ein Körper aus dem Nichts auf sie zuschoss, und ihr Herz setzte einen Schlag aus. Erst dann erkannte sie den Halbwüchsigen, der sich mit der Stärke eines jungen Wolfs an sie klammerte.
»Du bist zurück!«
Etwas mühsam schluckte sie ihre Panik herunter und strich Leiv über die goldblonden Locken. Dass sie dabei blutige Spuren in seinen Haaren hinterließ, rückte in den Hintergrund.
»Ich halte meine Versprechen.«
»Ich weiß. Und ich meine auch! Die Kleinen sind sicher bei Elèn im Unterschlupf, ich habe sie nicht aus den Augen gelassen!«
Sie warf ihm ein dankbares Lächeln zu, und beim Anblick seiner funkensprühenden Augen wurde ihr warm ums Herz. Sie übergab ihrem kleinen Bruder das Kaninchen – wenn es jemand ungesehen zu ihrem Versteck bringen konnte, dann Leiv – und nahm den längeren Weg um das Lagerhaus herum. Ihr begegneten nur zwei Soldaten, doch sie konnte deren Blicke auf sich spüren, obwohl sie sich dicht an die Wand der Baracke drängte. Vielleicht war es nicht allzu klug gewesen, im Ring einen derartigen Auftritt hinzulegen.
Doch sobald sie den Unterschlupf der Bastarde betrat, waren alle Außenstehenden vergessen. Vìns Blick fiel nur für einen Moment auf Elèn, die von Dewit, Kámi und Neves umgeben war, bevor sie erneut angesprungen wurde. Ihr Atem wich aus ihren Lungen und sie taumelte nach hinten. Ganz von selbst schlangen sich ihre Arme um kräftige Schultern und ihr Körper presste sich an ihren Gegenüber. Milos und sie passten aneinander wie zwei Hälften derselben Seele.
»Du wirst nie wieder gehen«, knurrte er dicht an ihrem Ohr. Ihr lief ein Schauer über den Rücken.
»Man könnte fast meinen, du hättest mich vermisst.«
Milos gab keine Antwort, doch er umfing ihren Hinterkopf mit einer seiner kräftigen Hände und hielt sie fest bei sich. Vìn atmete tief ein, bevor sie sich in seinen Armen drehte und den Blick prüfend über ihre Schützlinge gleiten ließ. Abgesehen von den Kleinkindern war nur Senia hier, und sie sahen allesamt munter aus. Milos' Finger, die beruhigend ihre Schulter drückten, bestätigten ihre stumme Frage. Zuhause. Sie war wieder Zuhause.
➵
Doch nicht jeder der Bastarde war unversehrt geblieben.
Die Nacht war hereingebrochen und hatte das Lager mit tiefster Dunkelheit überzogen, bevor sie sich alle versammelt hatten. Die Gesichter der Bastarde, einige dunkel, andere blass, wurden vom Schein des Feuers erhellt, über dem Vìn ihr Kaninchen gebraten hatte. Leivs Augen blitzten auf, einen Wimpernschlag, bevor Vìn selbst die Schritte näherkommen hörte. Arik und Aròe, die letzten ihrer Schützlinge, traten in ihren Kreis des Lichtes inmitten der lauernden Schatten. Torren sog hörbar die Luft ein und fluchte halblaut.
Die Zwillinge waren schon immer schön gewesen, mit ihren rabenschwarzen Haaren und den scharfen Zügen. Doch Aròes feines Gesicht war von Schrammen entstellt – sein Auge war blutunterlaufen und seine Wange zierte ein Kratzer. Aus seiner Nase, die unnatürlich schief stand, tropfte noch immer Blut.
Vìn hatte nicht realisiert, dass sie aufgesprungen war.
»Wer?«, knurrte sie, noch während Elèn an Aròes Seite trat und nach seinem Kinn griff. Er hob ruhig seine Hand und schob Elèn sanft beiseite, die Augen auf Vìn gerichtet.
»Colonel Kostya hat von deiner Rückkehr gehört.« Die Stimme des Bastards war fest und emotionslos. Ihr Blick schoss zu seinem Zwilling, der die Hände zu Fäusten geballt hatte. Das Lodern in Ariks Augen stammte nicht vom Lagerfeuer.
»Er hat beschlossen, dir eine Warnung zu schicken. Er wollte die Nachrichten nicht von einem Soldaten hören.«
Etwas in Vìns Innerem brüllte auf. Sie hatte kaum einen Schritt getan, bevor warme Finger an ihrem Handgelenk sie stoppten.
»Bleib hier, Vìn«, drängte Milos mit beinahe flehender Stimme, »Wir bleiben zusammen. Schützen die Unseren.«
»Was glaubst du, was ich vorhabe?«
»Der Colonel ist Gift für dich. Arik kann ihm eine Nachricht zukommen lassen. Bleib fern von ihm.«
»Wenn du denkst, dass ich Arik in seine Nähe lasse, nachdem er seinen Zwillingsbruder verprügelt hat, kennst du mich schlecht.«
Ihre Augen schossen zu dem verletzten Jungen, der sich von Elèn dicht zum Feuer führen ließ. Die Blicke aller anderen Bastarde lagen ausnahmslos auf Vìn. Milos bewegte sich nicht, schwer atmend, als wäre sie ein Wildtier, das er nicht verschrecken durfte. Damit hatte er nicht unrecht.
Es war Arik, der Milos' Finger mit einem raschen Griff von ihrem Arm löste.
»Lass sie gehen«, zischte der Vierzehnjährige, in dessen Stimme zu viel Hass lag, »Lass sie ihnen zeigen, was es heißt, einen von uns anzugreifen.«
Das Zähneblecken, das Vìn und Arik teilten, musste grauenerregend aussehen. Dann war Vìn losgestürmt, nicht nach links und rechts blickend, über Dächer und durch Spalten. Sie ließ sich nicht von den Wachen aufhalten, die zwischen den Hauptpavillons patrouillierten, und drängte sich blind vor Zorn an den Wächtern des Generals vorbei.
Colonel Kostya konnte den Sturm nicht erahnen, der da auf ihn zugerauscht kam. Sie stieß die Tür zu seinem Arbeitsraum mit einem Knallen auf. Ärger flammte in ihr auf, als sie ihn völlig entspannt auf seinem Ledersessel vorfand. Seine Beine hatte er über eine Armlehne drapiert, den Kopf in die Hand gestützt, als könnte kein Übel der Welt ihn beunruhigen. Sein träges Lächeln wirkte keineswegs überrascht, dass sie sich mit wutblitzenden Augen vor seinem massiven Schreibtisch aufbaute. Er zuckte nicht einmal mit einer Wimper.
Sie wartete nicht auf seine Erlaubnis, zu sprechen.
»Ihr habt Aròe geschlagen.«
»Wen?«
»Das wisst Ihr genau, Ihr widerwärtiges Scheusal!«
»Angesichts der Tatsache, dass mein Befehl über dein Schicksal entscheidet, solltest du deinen Ton vorsichtiger wählen... Wölfchen.« Colonel Kostyas lohfarbene Augen verengten sich und die gleichgültige Maske verschwand aus seinem Gesicht. »Du hast deine Gefährten verlassen und bist von einer Mission geflüchtet. Weißt du, welche Strafe darauf steht?«
Sie schnaubte, nicht gewillt, vor ihm zu kuschen. »Von meinen Gefährten ist nichts übrig. Der Pfad wurde von einer Lawine versperrt. Meine Situation unterscheidet sich in nichts von den Zurückgekehrten der letzten Mission. Wie viele Männer waren es? Fünf? Habt Ihr die auch alle hängen lassen?«
»Zwei meiner Legionäre waren mit dir unterwegs.«
»Es schadet Euch nicht, zu begreifen, dass auch Eure Auserwählten nicht unverletzlich sind.«
Kostya sprang ruckartig auf. Sein Sessel kippte um und fiel mit einem Poltern zu Boden. Sein zorniges Gesicht war kaum noch eine Handbreit von ihrem entfernt.
»Sie sind nicht tot.«
Er spruckte ihr jedes Wort förmlich vor die Füße.
»Dann sage ich Euch, was ich schon Farran Danyar gesagt habe, bevor er starb – wenn Ihr sie suchen wollt, könnt Ihr das ohne mich tun.«
»Daran denke ich nicht einmal. Du darfst für diese Nacht in dein Drecksloch zurückkehren. Danach brechen wir auf.«
Sie funkelte ihn an. Die Flammen ihres Hasses loderten so hoch, dass sie beinahe meinte, Feuer spucken zu können.
»Ich gehöre zu meinen Geschwistern. Ich bleibe.«
»Denkst du, ich würde eine Gruppe verwahrloster Bastarde über meine Männer stellen? Du bist diejenige, die sie zuletzt gesehen hat. Du begleitest meine Suche.«
»Hier sind Kinder, die meine Hilfe brauchen!«
»Und meine Legionäre haben Kinder in Castrhys, die ihre Rückkehr erwarten!«
Er schlug die Handflächen auf die Tischplatte und sie erstarrte mit halb geöffnetem Mund. In Colonel Kostyas Augen blitzte etwas auf, doch er nahm seinen Kopf um keinen Fingerbreit zurück. »Morgen vor Sonnenaufgang bist du wieder hier.« Diesmal war es seine Stimme, die vor Abscheu nur so triefte. »Sonst leiden deine Bastarde, Wölfchen.«
Mit einem harschen Knirschen presste sie die Zähne aufeinander. Sie war überwältigt von der Unnachgiebigkeit in Kostyas Ausdruck. Er hatte Macht, die sie nicht überwinden konnte. Beinahe hätte sie ihm in sein ebenmäßiges Gesicht gespuckt. Ihre Finger zuckten vor Verlangen, seine Nase zu einem Spiegelbild Aròes zu machen. Doch die Wunden, die vor ihrem inneren Auge die Haut ihres Bruders durchzogen, brachten sie dazu, einen Schritt zurückzumachen. Ihr Monster knurrte und warf sich gegen die Fesseln, die sie ihm anlegte, doch sie würde nicht das Wohlergehen der Bastarde aufs Spiel setzen.
Irgendwann würde sie es ihm heimzahlen.
Sie würde Colonel Kostya jeden einzelnen Schnitt zufügen, den ihre Geschwister durch seine Arroganz hatten erleiden müssen.
➵
»Ich bring ihn um. Vìn, ich schwöre dir, ein Wort und er sieht den nächsten Sonnenaufgang nicht.«
Sie ließ eine Armladung Roherze in das Becken vor dem Brennofen fallen und drehte sich genervt um. Es war brütend heiß in der Schmiede, die zu klein und stickig war, um richtig atmen zu können. Der riesige Brennofen lauerte wie ein uraltes Ungetüm rechts von ihr, und die ausgehobene Grube nahm beinahe den gesamten Rest der Hütte ein. Das Feuer war längst erloschen, nur einige Glutbrocken gaben ein glimmendes Dämmerlicht ab. Durch die schwere Eisentür drang kein Lufthauch in die Schmiede herein, und Vìn stand der Schweiß auf der Stirn.
»Wenn ich seinen Tod für eine gute Idee halten würde, hätte ich ihn längst selbst umgebracht.«
Das war nur die halbe Wahrheit. Den Colonel fürchtete sie nicht, wohl aber das, was seine Legionäre ihren Geschwistern antun würden, wenn sie ihn tötete.
Milos, der sich mit verschränkten Armen gegen die rußüberzogene Steinwand gelehnt hatte, schnaubte nur mit grimmigem Blick. Kopfschüttelnd wandte sie sich wieder den Felsbrocken zu, die sie von einem grob gebauten Wagen ins Sammelbecken beförderte. Normalerweise war das Ikkas Abendaufgabe, doch sie hatte ihre Schwester in den Unterschlupf geschickt, um sich mit schweißtreibender Arbeit vom kommenden Morgen abzulenken. Wenigstens das Schweißtreiben funktionierte.
»Weißt du, du könntest mir wenigstens helfen.«
Milos schnaubte erneut und zog seine dichten Augenbrauen missmutig zusammen. Trotzdem schob er die Ärmel seines löchrigen Hemdes hoch und packte wortlos mit an. Seine kräftigen Arme spannten sich deutlich, als er einen Erzklumpen aus dem Wagen hievte, an dem Vìn sich vor einiger Zeit bereits die Zähne ausgebissen hatte. Sie schenkte ihm einen kritischen Seitenblick, und obwohl er ihren Augen eindeutig auswich, zuckten seine Mundwinkel kaum merklich.
Was war aus ihnen geworden? Seit sie denken konnte, war es Milos gewesen, der sie zurückgehalten hatte, wenn sie einem Offizier ihr Messer in den Nacken rammen wollte. Er war immer der Vernünftigere gewesen, der sich von seinem Kopf leiten ließ. Und doch hatte sie das Gefühl, dass er sofort die Beine in die Hand nehmen würde, wenn sie die Worte »Colonel« und »beseitigen« in einem Satz benutzte. Der Gedanke war so abstrus, dass sie von den Steinen abließ und sich ihrem besten Freund zuwandte.
»Was ist eigentlich dein Problem?«
»Mein Problem? Ist das dein Ernst?« Milos warf einen Felsbrocken mit einer Gewalt in die Grube, dass sie Steine splittern hörte. »Er nimmt dich mir weg. Uns. Wir brauchen dich.«
»Glaubst du, das weiß ich nicht? Ich komme wieder, sobald ich kann. Hier kann ich nichts ausrichten, aber allein mit ihm im Norden kann ich ihn unter meine Gewalt bringen.«
»Und wenn du nicht kannst? Was dann, Vìn? Wenn er dich zerstört?«
»Es braucht mehr, mich kleinzukriegen, als einen adrett gekleideten Schnösel, der sich für etwas Besseres hält.« Sie schob ihr Kinn in seine Richtung vor, beinahe beleidigt wegen seiner Sorgen. Milos seufzte, und der harte Ausdruck in seinen Augen schien zu schmelzen.
»Ich weiß.« Mit einem Mal zog er sie an sich, umfing sie mit seinen Armen wie ein Käfig, und legte seinen Kopf auf ihrem ab. Sie hatte es immer gehasst, eingesperrt zu sein, aber in Milos' Umarmungen fühlte sie sich Zuhause.
»Lass mich mitkommen«, murmelte er, nun hörbar verzweifelt. Seine Wut war genauso schnell abgeflaut, wie sie aufgebrandet war, und hatte der Angst Platz gemacht.
Vìn atmete tief durch und gab ihm die Antwort, die er schon erwarten musste. »Wir können nicht beide gehen. Nicht, solang wir noch Kleinkinder unter unserem Schutz haben.«
Er schnaubte bitter. »Du meinst also, solang immer wieder Säuglinge geboren werden, haben wir keine Aussichten auf Besserung? Es gibt schon wieder Gerüchte, Offizier Putnam würde eine Frau in seiner Hütte verstecken.«
»Und wenn sie wahr sind, werden wir auch diesem Kind jeden Schutz gewähren, den wir aufbieten können.« Entschieden schlüpfte sie aus seiner Umarmung und funkelte ihn wütend an. Allein die Andeutung, er würde der Bastarde überdrüssig werden... Nein. Wenn sie für niemanden sonst von Wert waren, musste ihr eigener Glaube standhaft sein.
Milos zog sofort den Kopf zwischen die Schultern und blinzelte sie entschuldigend an. Im Zwielicht war sein Ausdruck kaum erkennbar, einzig seine Augen funkelten sanft.
»So habe ich das nicht gemeint.«
»Schon gut. Wir sind hier fertig, und soweit ich weiß, hast du noch eine Rüstung zu flicken.«
»Vìn...« Er streckte eine Hand nach ihr aus, doch sie trat unbewusst einen Schritt zurück. Mit einem Mal wirkte die Hütte zu eng, zu erdrückend. Sie schnappte nach Luft und fixierte ihren Blick auf den Ausgang, den Körper noch immer Milos zugewandt.
»Du kommst nach?«, drängte er, obwohl er wissen musste, dass sie keine Antwort geben würde. Sobald er zögerlich den Rückzug angetreten hatte, floh sie aus der Enge der Schmiede und lehnte sich schwer atmend gegen die Außenwand.
Ihr Monster lief auf und ab, ein eingesperrtes Raubtier, das sie nicht mehr lang würde zurückhalten können. Vìn hatte ihren Alltag nie gemocht, sich nach einer Veränderung gesehnt... Doch der Weg, den ihr Leben gerade einschlug, machte ihr Angst.
Ich glaube, in diesem Kapitel kommt vor allem eines raus - Vìn hasst Kostya nicht für umsonst. Wenn seine Kontrolle einmal verrutscht, dann richtig. Aber er hat seine Gründe, die werdet ihr hoffentlich herausfinden, wenn ihr ihn besser kennenlernt! Ich freue mich auf jeden Fall auf ganz viel character development!
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