Kapitel 58
Elèn bemerkte sofort, dass etwas nicht stimmte.
Mit einer raschen Bewegung wie dem Flügelschlag eines Vogels streifte sie sich die Kapuze ab. Vìn war sofort bei ihr und griff nach ihrer Schulter. Elèn schreckte zurück. Ihre Augen waren auf Sírnir fixiert, sie blinzelte nicht, schien nicht einmal zu atmen. Ihre Muskeln gaben nach und sie sank auf den Boden. Ihr Oberkörper wurde nur von der Front des Sofas aufrechtgehalten. Vìn schlang einen Arm um ihre Schwester, presste sich an ihre Seite, atmete... Elèn schien sie nicht einmal wahrzunehmen.
Kostya trat Sírnir in die Kniekehle und brachte ihn auf Augenhöhe mit Elèn. Sie hatten dem General Mund und Augen verbunden, doch auf Elèn musste er trotzdem bedrohlich wirken. Vìn versuchte, Kostyas Blick aufzufangen, aber er drehte sich von ihr weg. Seine Miene war ausdruckslos. Sie wagte es nicht, von Elèn abzuweichen oder auch nur ein Wort zu sagen. Obwohl sie sich gegen Elèns Seite drückte, fühlte sie nur ihr eigenes Herz hämmern. Sie befürchtete, ihre Schwester würde zerspringen, sobald sich jemand auch nur zu hastig bewegte.
Kostya ging in die Hocke, ganz langsam, und schob sich zwischen Elèn und Sírnir. Sein Schwert legte er auf einem Knie ab.
»Sírnir hat mich zum ersten Mal geschlagen, als ich zwei war.«
Diesmal zuckten Elèn und Vìn beide zusammen. Kostyas Stimme war sanft und weich und stand im starken Gegensatz zu seinen Worten.
»Er ist der Bruder des Königs. Einer der mächtigsten Männer des Reiches. Und doch gehörte ihm nichts.« Kostya legte den Kopf schief. »Abgesehen von mir.«
Vìn streckte eine Hand nach Kostya aus, zögerte aber, ihn zu berühren. Sein Blick wankte nicht, blieb nur auf Elèn gerichtet. Das hier war eine Sache zwischen den beiden Menschen, denen der General Unverzeihliches angetan hatte. Dass Kostya in Vìns Beisein überhaupt diese Worte hervorbrachte... sie ließ ihre Hand wieder fallen. Sie senkte die Schultern, drehte ihre Handflächen nach oben, versuchte, ihren Körper so sanft wie möglich zu halten.
»Sírnir ist wahnsinnig. Er hat schon immer wenig gegessen und geschlafen. Das braucht er nicht. Macht ist die einzige Nahrung, von der er wirklich zehren kann. Er genoss meine Tränen und meine Schreie wie andere Wein und Musik.«
Vìn bemerkte die Veränderung im Blick ihrer Schwester. Er war weniger leer, weniger abwesend. Stück für Stück hob er sich, bis Elèns und Kostyas Augen sich trafen.
»Ich war ein Kleinkind, aber ich erinnere mich glasklar. An seine Augen. Seine Stimme. Den Schmerz.«
Kostya zeigte Elèn für einen Moment seine Finger, bevor er sie zu seiner Tunika wandern ließ. Langsam zog er den Saum nach oben und offenbarte die Narbe auf seinem Bauch.
»Er wurde hierher versetzt, als ich vier war. Aber er hat dafür gesorgt, dass ich ihn nie vergesse.«
Vìn schluckte hart. Ihre Hände zuckten, doch sie wusste selbst nicht, ob sie sich lieber die Ohren zuhalten oder ihre Dolche ziehen wollte. Tränen stiegen ihr auf – sie trauerte um ein Kind, das sie nie kennengelernt hatte. Und um ihre Schwester, die sie ihr umso vertrauter war.
Ein Zittern lief durch Elèns Körper. Sie streckte selbst die Hand aus und der Ärmel ihrer Tunika rutschte nach oben. An Elèns Handgelenk zeichnete sich ein feines Narbengeflecht ab, wie von Fesseln aufgerieben. Vìn griff nach ihren Dolchen. Doch Kostya war schneller als sie.
Er nahm die Klinge seines Schwerts zwischen die Finger und drehte den Griff Elèn zu. Sie starrte für einen Moment auf die Waffe, dann suchten ihre Augen wieder Kostyas.
»Zwei Jahre lang hat er mich wieder und wieder verletzt. Aber dir hat er Schlimmeres angetan. Du bist diejenige, die ihn tötet.«
Vìns Kopf ruckte zu Kostya herum. Bei der plötzlichen Bewegung zuckte Elèn zusammen. Instinktiv griff sie nach dem Schwert, doch sie war zu schwach, es mit einer Hand zu heben. Verschreckt blieb sie sitzen und starrte zu Vìn herüber. Vìn zog einen Dolch hervor und spiegelte Elèns Griff.
»Lass deine Hand etwas nach oben wandern. Direkt unter die Parierstange.«
Sie bewegte ihre Finger ein wenig. Elèn wandte den Blick wieder ab, doch ihre Hand rutschte in die richtige Position.
»Gut gemacht. Die andere direkt dahinter.«
Die Klinge sackte nach unten, als Kostya seinen Griff lockerte. Vìn spürte, sich Elèns Schulter anspannte. Elèn fasste das Heft nach und es gelang ihr, das Schwert zu heben. Kostya zog sich langsam zurück. Er packte Sírnir am Kragen und zog seinen Oberkörper in eine aufrechte Position. Vìn konnte nicht sagen, ob der General bewusstlos war oder nicht. Er regte keinen Muskel. Vielleicht brauchte er Macht über andere wirklich, um zu leben – und jetzt, wo er besiegt war, hatte die Kraft seinen Körper verlassen.
Elèn kam mühsam auf die Knie. Die Waffe in ihren Händen sah falsch aus. Die goldenen Ornamente am Ledergriff ließen ihre Finger nur noch blasser wirken. Die Spitze schwankte, als sie sie in Sírnirs Richtung anhob. Vìn zog ein Knie an, bereit, aufzuspringen und ihrer Schwester zu helfen. Doch Elèn brauchte sie nicht. Ihre Schwester stellte einen Fuß auf, drückte sich am Sofa hoch und kam auf die Beine. Das Gewicht des Schwerts zog ihre Arme nach unten, aber sie stand.
Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft hörte Vìn Elèn tief Luft holen.
»Ich weiß nicht, ob ich es kann.« Die Worte kamen nur stockend hervor, mehr ein Flüstern als sprechen. Kostyas Stimme dagegen war stark. »Du bist eine Kämpferin, Elèn. Du kannst. Für dich. Für mich.«
Elèn nickte sacht. Vìn war das Flehen in Kostyas Unterton nicht entgangen. Er brauchte das hier genauso sehr, wie Elèn es tat. Denn er hätte es nicht gekonnt. Nach allem, was er ihm angetan hatte, konnte Kostya seinen Vater nicht töten.
Vìn hielt die Träne nicht auf, die ihrem Auge entkam.
Kostya zog Sírnir nach oben und Elèn hob das Schwert.
»Für uns.«
Elèns Blick verband sich mit Kostyas. Und dann sprang sie nach vorn, holte aus, und stieß die Klinge in Sírnirs Herz.
Der General war sofort tot.
Blut sickerte in den dicken Teppich, doch in dem dunkelroten Stoff fiel das kaum auf. Elèn ließ das Schwert los und stolperte zurück. In dem Moment, in dem Sírnirs Körper zu Boden fiel, fiel auch Elèn auf das Sofa zurück. Doch sie war lebendig, atmete und suchte mit den Augen den Raum ab. Vìn strich im Vorbeigehen über ihre Stirn und trat an Kostyas Seite. Sein Blick verließ die Leiche des Generals nicht für einen Wimpernschlag. Stumm blieb sie bei ihm stehen. In diesem Kampf konnte sie ihm nicht helfen.
Nach einer Stille, in der nur Elèns schwerer Atem zu hören war, bewegte Kostya sich schließlich. Nur für einen Fingerbreit schob er den Arm zur Seite. Seine Finger strichen über Vìns Handrücken und sie suchte seinen Griff. Ihre Hände verschränkten sich, und dann fühlte sie ihn endlich durchatmen.
Als er sich in Richtung Tür aufmachte, waren seine Schritte fest. Er streckte nur kurz den Kopf heraus und rief jemanden, dann kehrte er an Vìns Seite zurück. Sein Blick heftete sich auf sie – er vermied es, Sírnir anzusehen.
Dann öffnete sich die Tür erneut und der fenharianische Legionär trat herein. Elèn streckte sofort den Rücken durch, doch sie blieb auf dem Sofa sitzen.
Kostya nickte seinem Legionär zu. »Veigal, darf ich vorstellen? Vìn und Elèn.« Seine Augen lagen nach wie vor auf ihr. »Wölfchen, das ist mein Stellvertreter.«
Vìn musterte den Legionär dieses Mal intensiver. Er musste einer der größten Männer sein, die ihr je begegnet waren. Auf seinem Rücken trug er zwei gekreuzte Breitschwerter. Sie hatte ihn nur wenige Schritte gehen sehen, doch seine Bewegungen waren geschmeidig und er setzte die Füße leicht auf. Er wäre ein gefährlicher Gegner. Im Kampf wäre ihre einzige Chance, ihn mit schnellen Bewegungen aus dem Takt zu bringen – Sprünge, Drehungen, Rollen. Nicht einmal Dorn würde ihr gegen diese Schwerter einen Vorteil bringen.
Kostya war ihre Musterung nicht entgangen. »Welche Seite favorisiert er?«
Veigal blieb bewegungslos stehen. Wenn er mit Zwillingsschwertern kämpfte, würden beide Hände gleichermaßen geschickt sein. Die Knie hatte er leicht gebeugt, um seinen großen Körper in Bereitschaft zu halten. Doch sein linker Fuß stand schräger als der rechte, als bräuchte er die zusätzliche Fläche, um sein Gewicht zu halten.
»Rechts.«
Kostya zog einen Mundwinkel nach oben. Mehr Bestätigung brauchte sie nicht.
»Veigal, würdest du...?« Kostya wies auf die Leiche am Boden. Veigal stellte keine Fragen, sondern schulterte den Körper, als wäre er nur ein Beutetier. Doch Vìn bemerkte, dass der Legionär im Vorbeigehen Kostyas Schulter berührte. Wenn Veigal um Kostyas Beziehung mit Sírnir wusste, mussten die beiden wirklich vertraut sein.
Veigal ließ die Tür offen. Elèn und Kostya richteten beide ihre Blicke darauf aus. Vìn trat rasch zur Seite, um sie zu schließen. Doch ein leiser Ruf ließ sie innehalten. Torren hastete durch den Gang, warf immer wieder einen Blick über die Schulter und drängte sich in den Gemeinschaftsraum hinein. Er hielt kurz inne, um das Innere zu überprüfen. Ohne ein Wort ließ er sich auf dem Sofa gegenüber von Elèn nieder.
»Was ist los?«, drängte Vìn. Auch wenn Torren nicht viel sprach, sein Kopf war ständig in Bewegung. Seine kleinen blauen Augen huschten zwischen Elèn und Kostya hin und her. Vìn war sich sicher, dass er den Blutfleck auf dem Teppich bereits bemerkt hatte.
»Arik hat mich hierhergeschickt. Er trommelt die Bastarde zusammen. Für die Reise nach Süden.«
Vìn zog eine Augenbraue in Kostyas Richtung hoch. Der zuckte nur die Schultern. Er und Arik schienen einvernehmlich beschlossen zu haben, kein Wort über ihr Gespräch verlauten zu lassen. Vìn musterte Elèn eindringlich, das Heben und Senken ihres Brustkorbs und ihre zurückgelehnte Haltung. Für den Moment würde sie klarkommen.
Milos trainierte noch mit den Soldaten, Arik würde es nicht riskieren, ihn jetzt zu informieren. Doch sie hatten nicht die Zeit, bis zur Trainingspause zu warten.
»Gibst du mir deinen Umhang?« Sie hielt ihre Bewegungen langsam, um Elèn nicht zu verschrecken, und trat zu Torren. Er drückte ihr ohne zu zögern den grauen Stoff in die Hand. Als sie zur Tür trat, griff Kostya nach ihrem Arm. »Wir brechen auf, wenn die Sonne im Zenit steht. Wer fehlt, wird zurückgelassen.«
Sie nickte nur und machte sich auf dem Weg. Torrens Umhang war ein wenig zu groß für sie, aber immerhin würde die Kapuze ihr Gesicht verbergen. Vìn hatte Glück – als sie das Haupthaus verließ, waren Wolken aufgezogen. Im Nieselregen würde niemand auf die Idee kommen, eine Kapuzengestalt anzuhalten.
Zwischen den Häusern der Offiziere waren nicht viele Soldaten unterwegs. Vìn konnte bereits die Rufe und Schritte vom Hauptplatz hören. Wycks Einheit war die einzige, die im Lager zurückgeblieben war. Zweihundert Mann standen geordnet in Reih und Glied vor dem Noydori. Vìn drückte sich eng gegen die Hauswand. Die Soldaten führten auf Wycks Rufe hin Bewegungen aus, die steif und gezwungen wirkten.
»Fünf!«
Synchron stießen die Soldaten ihre Schwerter nach vorn.
»Sieben!«
Eine halbe Drehung mit Rückhandschlag nach unten.
»Eins!«
Ausfallschritt und einfacher Schlag.
Vìn schüttelte den Kopf. Da zog sie sogar Varnirs Training vor. Sie huschte hinter einen der großen Holzpavillons und schlich weiter nach hinten, um dichter an Milos heranzukommen. Mit seiner dunklen Haut stach er deutlich von den anderen Soldaten hervor. Als sie dicht genug war, um sein Gesicht zu erkennen, verharrte sie erneut. Seine Augenbrauen waren zusammengezogen und auf seiner Stirn stand Schweiß. Die Bewegungen waren einfach, doch seine Muskeln zitterten. Er schien seine äußerste Kraft in jeden Schlag hineinzulegen.
Auf ihren Pfiff reagierte er nicht.
Vìn schnaubte und klaubte einen Kieselstein vom Boden auf. Ihre Zielkünste ließen zu wünschen übrig, aber Milos stand nah genug am Pavillon, dass sie seine Schulter traf. Wieder pfiff sie durch die Zähne, und endlich blickte er sich suchend um. Seine Augen fanden ihre wie magisch angezogen. Ungeduldig verfolgte Vìn, wie Milos seinen Kumpanen eine Entschuldigung zumurmelte und dann den Hauptgang hinuntereilte. Sie verließ den Schutz des Pavillons und sprintete zur ersten Schlafhütte. Der schiefen Holzwand folgte sie bis zum Rand des Lagers. Dort war sie geschützter und konnte ungesehen bis zu ihrem Unterschlupf rennen. Er lag verlassen da, die anderen Bastarde hatten bereits alle nützlichen Gegenstände zum Haupthaus geschleppt. Kaum hatte Vìn die Geheimfächer kontrolliert, betrat auch Milos das Versteck.
Er gab ihr keine Zeit, sich zu erklären. In seinen Augen stand keine Frage, er trat einfach an ihre Seite. Instinktiv lehnte sie sich dichter an ihn heran. Als sich seine Arme um ihren Körper schlangen, atmete sie tief den Duft nach Glut und Kiefernholz ein. Milos klammerte sich an sie, als hätten ihn die wenigen Momente, in denen sie getrennt gewesen waren, an den Rand des Wahnsinns getrieben. Und sie verstand ihn. Getrennt von ihm zu sein, von ihren Geschwistern... sie bereute ihre Zeit bei den Rebellen nicht. Aber sie war froh, die Unsicherheiten und Ängste und Unvollständigkeit hinter sich gelassen zu haben. Vielleicht gehörte ein Teil von ihr – der, der auf den Namen Rayna hörte – nicht nach Zaarlos, sondern aufs Festland, nach Mághold, um gegen den König zu kämpfen. Doch egal, wohin sie ging, alles an ihr gehörte zu ihren Geschwistern.
Vìn löste sich gerade genug von Milos, um ihm in die Augen sehen zu können. Es wurde Zeit, dass sie aufbrachen. Gemeinsam.
In Milos' Blick veränderte sich etwas. Im Licht der Sonne wirkten seine Augen wie flüssiges Gold. Sie teilte die Lippen, versuchte, Worte hervorzubringen – doch Milos war schneller als sie. Er senkte den Kopf, blies seinen Atem über ihre Wangen. Und dann küsste er sie.
Ein bisschen Drama kurz vor dem Ende kann doch nie schaden, oder? Und "kurz vor dem Ende" meine ich wörtlich - das hier ist das vorletzte Kapitel. Ich kann es noch gar nicht fassen...
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