Kapitel 56
»Wir sind wieder zusammen.«
Milos' Finger strichen immer wieder durch die Strähnen an Vìns Schläfe.
»Du bist bei mir.«
Die Hand stoppte ihre Bewegung. Stattdessen wanderte sie zu ihrer Taille und zog sie fest gegen seinen Brustkorb.
»Ich lasse dich nie wieder gehen.«
Vìn spürte, wie Milos sein Gesicht an ihrem Hinterkopf vergrub und tief einatmete.
Sie gab ihrem besten Freund keine Antwort. Regungslos ließ sie sich von seinen Berührungen und seinen Worten einhüllen. In Zaarlos war die Nacht hereingebrochen und die Bastarde hatten sich schlafen gelegt, kurz nachdem Milos zu ihnen gestoßen war. Er war seitdem keinen Fingerbreit von Vìn abgerückt. Ihr Kopf war auf seinen Oberarm gebettet und sein Atem strich über ihren Nacken. In seinen Armen fühlte sie sich warm und geborgen. Beinahe zu fest waren sie um ihren Körper geschlungen, doch sie unterdrückte das Gefühl von Eingesperrtsein resolut.
Die Anstrengungen der letzten Tage verlangten jetzt ihren Tribut. Sie hatte Mühe, ihre Gedanken beisammenzuhalten und spürte immer wieder, wie sie abdriftete. Aber das durfte sie. Ihr Weg war beendet, sie war angekommen. Jetzt war es an der Zeit, zu ruhen.
Mit einem Lächeln ließ Vìn sich von Milos in den Schlaf wiegen. Träume von Feuer und Ketten und Käfigen verfolgten sie, doch der Schattensoldat blieb fern. General Sírnir war eine angsteinflößende Gestalt, aber sie wusste nun, was sich hinter den grünen Augen verbarg. Und sie wusste, dass sie ihn besiegen konnte.
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Vìn wachte vor ihren Geschwistern auf. Ihr Körper war nicht mehr auf Zaarlos' Rhythmus eingestellt, doch er würde sich wieder daran gewöhnen. Mit verklebten Augen ließ sie den Blick über den Unterschlupf wandern. Der Himmel war noch graublau und das Licht reichte gerade aus, dass sie die Schemen der Bastarde erkennen konnte. Unter ihren Decken und Umhängen verborgen hätten sie auch durcheinandergeworfene Felsen sein können. Ein Teil von Zaarlos. Vìn lächelte sanft und stand so lautlos wie möglich auf. Milos hatte sich im Schlaf von ihr weggedreht. Er zuckte trotzdem zusammen, als sie die warme Kuhle an seinem Rücken verließ. Vìn verharrte für einen Moment, doch ihr bester Freund schlief weiter.
Kurz, bevor sie den Ausgang des Verstecks erreichte, hob Torren träge den Kopf. Vìn nickte ihm zu und tippte mit den Fingern auf ihr Herz. Ich bin bei euch, hieß das. Torren drehte sich auf die andere Seite, wissend, dass sie zurückkehren würde. Nichts könnte sie dazu bringen, ihre Geschwister noch einmal zu verlassen.
Doch es gab noch jemanden auf Zaarlos, den sie vermisst hatte. Vìn setzte ihre Schritte auf dem Weg um die Lagerhütte herum nur behutsam. So früh am Morgen waren noch keine Soldaten unterwegs, aber sie würde kein Risiko eingehen. Am Rand des Lagers lag noch Schnee, doch er traute bereits und gab den Blick auf den schlammigen Boden frei. Das Tauwasser hatte die Erde aufgewühlt. Vìns Füße fanden den Trampelpfad trotzdem wie von selbst. Ihre Muskeln waren wund und sie ging nur langsam, aber das gab ihr Zeit, die vertraute Umgebung voll und ganz in sich aufzunehmen. Dem Baumstamm mit den Krallenspuren hatte sie seit Jahren keinen richtigen Blick mehr geschenkt. Der erste Adlerhorst, den sie je gebaut hatte, war längst verfallen. Einige halb verfaulte Zweige lagen noch um den Heidelbeerbusch verstreut.
Als sie das erste bewohnte Nest erreichte, hielt sie inne. Der Falke hatte den Kopf unter den Flügel gesteckt und ließ sich nicht von ihr stören. Instinktiv streckte sie die Finger aus, um den Körper zu spüren, sich zu überzeugen, dass sie wirklich wieder bei ihren Greifern war. Doch dann zog sie sich zurück und entfernte sich kopfschüttelnd von dem schlafenden Vogel. Die Abwesenheit von Zaarlos hatte sie viel zu sentimental gemacht.
Vìn erreichte das Beutepodest, das völlig verlassen aussah. Nicht einmal auf dem Boden darunter war Blut zu erkennen. Die beiden Adlerhorste daneben waren ebenfalls leer und sie bezweifelte, dass die Adler auf Jagd waren. Sie konnte einen Anflug von Trauer nicht unterdrücken. In der Wildnis würden die Fischadler ein freudigeres Leben führen als im Lager. Vielleich hatten sie sich an den Steilklippen niedergelassen. Wenn Vìn zum Schiff zurückkehrte, würde sie den Himmel im Auge behalten.
Aber dann ertönte ein unverkennbares Kreischen. Ein Greifer war seinem selbsterwählten Zuhause aus freien Stücken treu geblieben. Eine kalte Brise blies Vìns Haare aus ihrem Gesicht, und mit ihr segelte der majestätische Geier um eine Baumgruppe herum. Seine Schwingen rauschten, als er Vìn anpeilte. Sie hob ihren Arm, um ihn landen zu lassen, und stolperte in der Bewegung zurück. Zacharias' schieres Gewicht überraschte sie. Mit einem Schnabelklackern beschwerte er sich über ihr Schwanken. Doch sobald sie sich wieder gefangen hatte, zauste er ihre Haare.
»Ich bin auch froh, dich wiederzusehen.«
Ächzend schob sie den Geier von ihrer Schulter herunter. So gern sie ihn auch hatte, zum Herumtragen war er einfach zu schwer. Zacharias flatterte auf das Beutepodest und starrte sie aus schwarzen Augen unverwandt an. Beinahe sah er vorwurfsvoll aus.
Vìn strich ihm über das Brustgefieder. Die Federn waren von außen kühl und glatt, doch als sie die Finger darin vergrub, ummantelte sie Zacharias' Wärme. Den Geier hatte sie ehrlich vermisst. Sie wusste, dass er sehr gut ohne sie klarkam, doch ihr Herz schmerzte trotzdem bei dem Gedanken, ihn zurückzulassen. In den Süden konnte sie ihn nicht mitnehmen. Doch irgendwann, wenn alles vorbei war...
»Wir werden uns wiedersehen, Zacharias.«
Der Geier krächzte unbeeindruckt.
Plötzlich wand sich sein langer Hals und er starrte in Richtung der Falkennester. Vìn nahm die Gestalt nur einen Moment nach ihm wahr. Sie war nicht überrascht, Dunkelrot inmitten von Grün und Braun aufblitzen zu sehen. Auch Zacharias ergriff nicht die Flucht, selbst wenn er sonst Fremden gegenüber misstrauisch war. Die Reise in den Norden schien einen bleibenden Eindruck bei dem Geier hinterlassen zu haben.
Kostya schlenderte näher. Seine Miene war unergründlich, als er sich gegen den nächsten Baum lehnte.
»Ich habe lang genug gewartet.«
Vìn verdrehte die Augen bei seinem schleppenden, provozierenden Tonfall.
»Worauf?«
»Dass du dein Versprechen einlöst.« Er streckte ihr seine Hände entgegen, doch er hielt nichts in den Fingern. Auf einen Umhang hatte er verzichtet. Seine dunkelrote Tunika umhüllte seinen Körper wie eine zweite Haut und war sicher maßgeschneidert. Die Beinlinge waren schlicht und schwarz und gaben keine Möglichkeit, Waffen zu verbergen. Er war unbewaffnet.
Vìn riss die Augen auf. Sie erinnerte sich.
Langsam schlich Kostya näher. Er legte beide Handflächen auf das Beutepodest, als sei es ein Richtblock. Vìn konnte die Augen nicht von ihm abwenden. Als sie sich über den Mangel an Blut beschwert hatte, hatte sie nicht Kostyas gemeint.
Er wandte den Kopf zur Seite und fing ihren Blick auf. Der Spott war aus seiner Miene verschwunden.
»Du hast gesagt, du tötest mich, sobald wir wieder im Lager sind.« Er stand so dicht bei ihr, dass sie seinen Duft riechen konnte, Leder und Bernstein und Orange. »Also, Wölfchen? Worauf wartest du?«
Beinahe wäre sie zurückgewichen. Doch sie blieb, wo sie war, und hielt seinen Blick. »Das Mädchen, das diesen Schwur geleistet hat, ist in den Nordbergen verschollen gegangen.«
»Sie ist immer noch in dir.«
Sie zuckte die Schultern. Keiner von ihnen war die Person, als die sie aufgebrochen waren. »Ich sagte, ich töte den Colonel. Aber du warst schneller als ich.« Zum ersten Mal wandte er seine Augen ab. Sie griff nach seinem Kinn, zwang ihn, sie wieder anzusehen. »Du hast ihn umgebracht, Kostya.«
Sie spürte das Zucken seiner Kehle an ihren Fingern, als er hart schluckte. Worte brachte er nicht hervor. Für einige Herzschläge starrten sie sich stumm an. Dann stieß er mit einem leisen Seufzen den Atem aus und sein Blick wurde weicher. Vìn ließ ihren Arm sinken und drehte sich, um sich neben ihm gegen das Holzpodest zu lehnen.
»Wir sind ein Haufen Trümmer.«
Kostya brummte zustimmend. Für einige Momente waren da nur noch das Klackern von Zacharias' Krallen auf dem Holz und das Rauschen in den Zweigen der Bäume. Dann hob Kostya erneut die Stimme.
»Also bringst du mich nicht um?«
Sie stieß ihm den Ellbogen in die Rippen.
»Ich wollte nur sichergehen!«
»Mach so weiter und ich überlege es mir nochmal.«
Er lachte, und sie entspannte sich sofort. Er hatte sein Selbstbewusstsein wiedergefunden. So gern sie das auch verfluchte, es machte ihn zu Kostya.
Vìn ließ ihren Blick wandern. Der Morgen war noch still – sie hatte sich lang nicht so friedlich gefühlt wie jetzt. Am östlichen Himmel zeichneten sich rötliche Schlieren ab. Vermutlich stand einer der ersten Sonnentage nach dem langen Winter an. Während der Kälteeinbrüche war Vìn im Untergrund von Ocrioll in Sicherheit gewesen. Ein Teil von ihr bereute es, den Winter verpasst zu haben. Zaarlos in seinen wildesten, stürmischsten Tagen war genauso schön wie tödlich. Der Wind war nach wie vor kalt und der Boden durchweicht, doch Iarests Präsenz war bereits zu spüren. Die Brise wehte aus dem Osten und brachte den Geschmack von Salz und Nadelgehölzen mit sich. Zacharias reckte sich auf dem Podest, spreizte die Schwingen und ließ sich die Federn zausen. Er krächzte leise und hob mit raschelnden Flügeln ab. Auf dem Luftstrom schraubte er sich nach oben, ein grauer Fleck vor dem dunklen Himmel. Vìn verengte die Augen und versuchte, ihn im Blick zu behalten, bis ihre Sicht verschwamm. Der Geier war eins mit Wind und Wolken. Dort oben war er unmöglich auszumachen. Wenn sie ihnen nur folgen könnte – Zacharias und ihrem Monster, an ihrer Seite den Sturm reiten... Zacharias' ferne Schreie lösten eine Sehnsucht in ihr aus, die nicht einmal Zaarlos stillen konnte.
Kostya holte sie auf die Erde zurück.
»Ich bin Teil der Königsfamilie.«
Instinktiv suchte sie nach Anzeichen von Verbitterung in seinem Gesicht. Doch seine Augen waren klar und schienen vom Schein des Sonnenaufgangs förmlich zu leuchten. Das Kinn hatte er in eine Hand gestützt, sein Kiefer wirkte nicht übermäßig angespannt. Stumm wartete sie ab.
»Und du hast mein Leben gerettet.«
Sofort schob sie ihr Kinn vor. »Öfter bedroht als gerettet.«
Prompt wurde sein Blick genervt. »Lass mir meine dramatische Rede. Du hast mich gerettet, Wölfchen.«
»Und du mich nicht?«
»Darum geht es nicht. Ich-«
Er drehte seinen Oberkörper und zog sie vollkommen in seine Präsenz. Ihren Protest schluckte sie herunter. Kostya schien in sie hineinzublicken, als er die nächsten Worte formte. Seine Lippen bewegten sich langsam, deutlich, als kostete er jeden Laut aus. »Du hast mich gerettet. Du hast Caz gerettet. Du hast die Rebellen gerettet.«
Er übertrieb maßlos. Doch in seine Augen stand eine derartige Ernsthaftigkeit, dass sie nicht einmal versuchen konnte, zu widersprechen. Jetzt war es an Kostya, zu reden. Er ließ nicht zu, dass irgendjemand das unterbrach, was er in diesem Moment zu sagen hatte.
Er hob die Hand und berührte federleicht ihre Stirn. Seine Finger waren warm auf ihrer Haut.
»Du bist eine Heldin, Wölfchen.«
Die Hand wanderte nach unten, legte sich an ihre Wange. »Du bist eine Rebellin.«
Kostya folgte der Linie ihres Kiefers, ihres Halses. »Und ein Bastard.« Auf ihrem Herzen kamen seine Finger zum Halt.
»Du bist Wildheit. Du bist Macht.« Mit jedem Wort tippte er auf ihre Brust. Ihr Herz schlug im Rhythmus mit seinen Bewegungen. »Du bist Hilfsbereitschaft. Du bist Freiheit. Du bist Macht.«
Es war, als fischte er die Worte direkt aus ihrem Inneren. Vìn schauderte.
Kostya ging auf die Knie. Seine Hand fiel von ihrem Herzen nach unten, und instinktiv griff sie nach ihm. Ihre Finger verflochten sich miteinander. Er starrte zu ihr auf, mit demselben Blick, mit dem Lissayoo vor den Göttern gekniet hatte.
»Du bist Rayna.«
Das Wort, der Name, hallte in ihr wider. Vìn war nichts wert in Castrhys. Niemand hatte sich darum geschert, ihr und ihren Geschwistern Namen zu verleihen. Kein Mitglied der Königsfamilie würde sich dazu herablassen, die Taten der Bastarde anzuerkennen.
Und doch kniete der Neffe des Königs vor ihr im Schlamm.
»Rayna«, wisperte sie. »Was bedeutet das?«
Kostyas Lächeln war sanft und ehrlich und berührte etwas tief in ihr.
»Er bedeutet alles an dir. Er ist, was du bist.« Mit einem Funkeln in den Augen und einem gefährlichen Lächeln formte er ein Wort, das sie schon einmal gehört hatte. »Wildherrin.«
Ein Schauder lief über ihren Rücken. Sie legte den Kopf in den Nacken, sah zum Himmel auf und ließ das Echo von Kostyas Stimme in ihr nachklingen. Rayna. Wildherrin.
In einer geschmeidigen Bewegung kam Kostya wieder auf die Füße. Er beugte sich zu ihr herunter und legte seinen Mund dicht an ihr Ohr. »Rayna bedeutet Wildherrin.« Seinen Ausdruck konnte sie nicht sehen, doch sie spürte sein Lächeln an ihrer Haut. »Aber die Alte Sprache ist verworren. Man könnte es auch als Wölfin übersetzen. Nun... kleine Wölfin.«
Sie schob sich gerade genug zurück, um ihm in die Augen sehen zu können. Sein Gesicht lag im goldenen Schein der aufgehenden Sonne und er sah königlicher aus als je zuvor. Seine Mundwinkel zuckten verräterisch. Mit hochgezogener Augenbraue sprach sie das Wort aus, das ihm sichtlich auf der Zunge lag. »Wölfchen.«
Sein Grinsen sprach für sich.
Ugh, I love them. Lasst mir meine after-battle-Emotionen, okay?
Aber, ernsthaft. Diese Szene bedeutet so, so viel für Vìn. Oder sollte ich sagen, für Rayna? (Ich muss mich erst noch an den zweiten Namen gewöhnen, aber das wird schon!)
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