Kapitel 55
Die Sonne brach durch den Himmel, gerade als sie durch die letzten Baumreihen des Westwaldes liefen. Es war das erste direkte Licht, das Vìn seit Monaten auf ihrer Haut spürte. Die Kiefern warfen lange Schatten, doch zwischendrin schafften es kleine Sonnenstrahlen immer wieder, den Boden zu erreichen. Ocrioll war noch schneebedeckt, doch nach Zaarlos hatte es der Frühling bereits geschafft.
Vìns Stiefel waren zu dick, um das Heidegras durch die Sohle zu spüren. Sie ließ ihre Finger über die Borke der Bäume streifen, an Sträuchern entlang, über tiefhängende Äste. Mit ihrem ganzen Sein sog sie die Insel auf, die ihr Kraft gab wie nichts Anderes. Auf Zaarlos hatte sie gelitten, getrauert, geweint. Aber die Insel hatte sie großgezogen, sie zu dem Menschen gemacht, der sie heute war. Für nichts in der Welt würde sie ihre Vergangenheit auf der Eisinsel eintauschen.
Vìn, Kostya und Merakk legten den Weg zum Lager im Eiltempo zurück. Die beiden Männer wechselten sich mit Sírnir ab. Vìn konnte nicht erkennen, ob der General tatsächlich bewusstlos war oder schauspielerte, doch mittlerweile war das in den Hintergrund gerückt. Sie wusste, dass er im Kampf gegen sie drei keine Chance hätte. Sie hatten den Schattensoldaten besiegt.
Kostya schien Schwierigkeiten zu haben, den General mitzuschleppen. Der Kampf hatte an ihm deutlichere Spuren hinterlassen als an Merakk. Der Anblick von Kostya, wie er bewegungslos an der Eisenkette über der Feuergrube hing, hatte sich in Vìns Gedächtnis gebrannt. Er war zu schwach gewesen, um sich selbst daran hochzuziehen, hatte sich nur darauf konzentrieren können, nicht zu fallen. Und doch hatte er die Kraft gefunden, zu schreien, als Varnir Vìn bedroht hatte.
Kostya fing ihren Blick auf und übergab Sírnir an Merakk. Er trat an ihre Seite, doch als er den Mund öffnete, zerriss ein Schrei die Stille des Waldes. Vìn fuhr sofort herum. Den Ruf würde sie überall erkennen – er war so hoch und schrill, dass er nur von einem Nordgeier kommen konnte. Ihre Tunika klebte vom Schweiß an ihrem Rücken und die Luft schmerzte in ihren Lungen. Sie beschleunigte ihre Schritte. Hinter den Bäumen zeichneten sich Holzhütten ab, und da war der umgeworfene Baumstamm, über den sie so oft hinweggesprungen war. Vìn lächelte und rannte.
Sie hatte die Adlerhorste noch nicht erreicht, da ertönte ein weiterer Schrei. Kein Vogel. Sie verschluckte sich an ihrem eigenen Ruf, riss die Augen auf, suchte die Baumgrenze ab – eine Bewegung zwischen den Büschen, ein überschäumendes »Vìn!«. Ihre Füße trommelten in vollem Lauf gegen den Waldboden. Keiner von ihnen bremste ab. Sie kollidierten aus vollem Lauf. Noch im Fallen drehte Vìn sich, damit Leiv auf ihr landete. Ihre Arme schlossen sich um den kleinen Körper, hoben ihn an ihr Gesicht. Sie presste sich eng an ihren Bruder. Er umklammerte ihren Hals so fest, dass sie Probleme hatte zu atmen. Abgehackte Laute stiegen aus seiner Kehle, er versuchte, Worte zu formen. Doch es waren nur Schluchzer, die aus seiner Brust aufstiegen. Vìn ließ die Tränen frei über ihre Wangen laufen. Leivs Tunika sog sie sofort auf. Ihre Hand fand seinen Hinterkopf und er schmiegte sich gegen sie. Er schien nicht zu wissen, wohin mit seinen Emotionen, sein gesamter Körper zitterte. Ihre Arme lockerten sich für keinen Wimpernschlag.
Sie spürte sein kleines Herz rasen – und ihr Puls ging im Gleichklang mit seinem. Sie war zuhause, bei ihrem Bruder. Sie würde ihn niemals wieder zurücklassen.
»Ich bin hier«, wisperte sie dicht an seinem Ohr, »Ich bin bei dir.«
Seine Hand krallte sich im Nacken ihrer Tunika fest.
Vìn wusste nicht, wie viel Zeit verging, in der sie ihren Bruder einfach festhielt. Doch irgendwann löste er sich ein wenig von ihr, stützte die Hände auf ihre Schultern und blickte sie fest an. Seine Augen waren von Tränen verschleiert, doch darunter blitzte das vertraute Funkeln hervor. Als er sie anstrahlte, bemerkte sie eine Zahnlücke, die er bei ihrem Aufbruch nicht gehabt hatte.
»Wir müssen es den anderen erzählen!«
Vìn erwiderte sein Lächeln und nickte. Leivs Miene wurde für einen Moment ernster. »Ich habe gut auf sie aufgepasst. Auf Senia und Neves und Kámi und Dewit.«
»Ich wusste, ich lasse sie in den besten Händen zurück.«
»Wir haben dich trotzdem vermisst.« Noch einmal umarmte er sie, so fest er konnte. »So sehr.«
Es fiel ihr schwer, zu schlucken. Doch dann sprang Leiv auf und zog an ihrer Hand, begierig, zu ihren Geschwistern zu kommen. Vìn leistete ihm sofort Folge.
Als Leiv erstarrte, fuhr sie herum und schob sich vor ihren Bruder. Aber es waren nur Kostya und Merakk, die er erspäht hatte. Die beiden Männer warteten in einiger Entfernung. Vìn legte Leiv eine Hand auf die Schulter.
»Leiv, das sind Kostya und Merakk. Sie sind unsere Freunde.«
Er verschränkte die Arme. Das musste er sich von Milos abgeschaut haben. »Das ist der Colonel.«
Ihr Blick schoss zu Kostya. Er trat näher und ließ sich von Leivs feindlichen Blicken nicht abschrecken. Vor dem Bastard ging er auf die Knie. »Nein. Ich bin nur Kostya.« Er streckte seine Hand aus. Leivs Arm zuckte und er ließ seine Augen zwischen Kostya und Vìn hin- und herwandern. Als beide abwarteten, schob er seine Finger Kostya zu. Der umschloss Leivs Unterarm, ein Gruß unter Gleichgestellten. Leiv wusste das nicht, aber auf seiner Miene lag wieder die übliche Fröhlichkeit. Er schüttelte Kostya ab und wandte sich Vìn zu.
»Können wir jetzt endlich?«
Kostya richtete sich auf. Als er strauchelte, rückte sie beiläufig dichter an ihn heran. Ein sanftes Lächeln lag auf seinen Lippen, trotz der Schmerzen, die er spüren musste. »Geh nur. Ich kümmere mich um das Problem.«
Sie konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. Problem war ein sehr passender Titel für den General. Freudig gab sie Leivs Drängen nach, doch Kostya rief ihr noch einmal hinterher.
»Wölfchen?« Als ihre Blicke sich verbanden, war das Funkeln in den lohfarbenen Augen zurück. »Ich weiß, dass es dir schwerfällt, aber versuche, keinen öffentlichen Aufstand auszulösen.«
Sie verdrehte die Augen und ließ sich von Leiv um den nächsten Busch ziehen.
Vìns dunkelroter Umhang war nicht gerade unauffällig, aber sie behielt ihn trotzdem an. Die Kapuze zog sie sich über die weißen Strähnen, die ihr hervorstechendstes Merkmal waren. Leiv sprang neben ihr über den Trampelpfad, voller überschäumender Energie. Er wurde erst ruhiger, als sie an den Schlafbaracken entlangschlichen. Vìn hörte Schritte und Stimmen von Soldaten, doch sie blieben unentdeckt. Innerhalb weniger Wimpernschläge hatten sie die letzte Hütte erreicht. Das Murmeln, das Vìn jetzt wahrnahm, kam nicht von erwachsenen Männern. Leiv huschte die Wand schneller hinauf, als jede Spinne es vermocht hätte. Sie wusste, dass Astlöcher und Kanten beinahe unsichtbare Griffe bildeten, doch mittlerweile war sie zu groß, um sich durch den Spalt zu drängen. Stattdessen kletterte sie auf das Lagerhaus und schob sich auf dem Bauch zur Kante vor. Sie wagte es nicht, sich weiter aufzurichten. Bretter waren über die Lücke zwischen Lagerhaus und Schlafbaracke genagelt, doch eine der Planken war locker. Lautlos hob Vìn sie an.
Leivs Stimme hob sich von den anderen hervor.
»Ich habe eine Überraschung mitgebracht!«
»Müssen wir Angst haben?« Das war Ikka. Vìn schloss die Augen, um nicht sofort wieder in Tränen auszubrechen.
»Oh ja!«, tönte Leiv, »Schreckliche Angst!«
Ihre zitternden Lippen verzogen sich zu einem Grinsen. Mit einem Ruck schob sie die Planke zur Seite und ließ sich fallen. Sie landete mit gebeugten Knien und nahm aus dem Augenwinkel Bewegungen wahr – Gestalten zuckten zusammen, stolperten zurück, jemand schrie. Dann wurde der Schrei zu einem Freudenjuchzer. Arik war der erste, der bei ihr ankam. Sie konnte gerade noch sein Grinsen erkennen, bevor er sich auf sie warf und erbarmungslos unter sich begrub. Für einen Moment war sie geschockt von seiner Größe, dann gab er ihr keine Gelegenheit mehr für klare Gedanken. Ihre Geschwister drängten heran, schmissen sich auf Vìn und Arik. Sie streckte die Arme aus, versuchte, jeden von ihnen zugleich zu berühren. Eines der Kleinkinder klammerte sich um ihren Fuß und ließ auch nicht los, als sie das Bein anzog. Die Zwillinge erdrückten sie beinahe, Torren umklammerte ihre Hand und Senia strich immer wieder durch ihre Haare. Ikka packte Vìns freien Arm und versuchte, sie unter dem Haufen hervorzuziehen.
»Ich will auch ein Stück von ihr!«
»Du bist zurück, Vìn!«
»Ich wusste gleich, dass sie es ist, ich habe-«
»VÌN! ENDLICH!«
»Ein Bastard hält eben seine Versprechen!«
»Danke. Danke, danke, danke...«
Vìn konnte ein Lachen nicht zurückhalten. Ihre Stimme mischte sich unter das Geplapper ihrer Geschwister, in das absolute Chaos, das über sie niedergebrochen war. Sie hatte nie etwas Schöneres gehört. Es war nicht wichtig, was sie sagten oder wer sprach. Es zählte nur, dass sie wieder beieinander waren, dass Vìn die Körper ihrer Brüder und Schwestern spürte. Mehr als der Norden, mehr noch als Zaarlos, waren die Bastarde ihr Zuhause.
Eines nach dem Anderen lösten sich ihre Geschwister von ihr. Nur Kámi ließ ihr Bein nicht los. Sie schmiegte ihre Wange gegen Vìns Knie und schien völlig zufrieden mit ihrem Platz zu sein. Vìns Wangen schmerzten bereits vom Lächeln. Sie ließ ihren Blick über die Bastarde wandern und blieb an Elèn hängen, die schräg gegenüber von ihr an die Barackenwand gedrängt saß. Sie hatte sich dem Haufen um Vìn nicht angeschlossen. Vìn streckte langsam die Hand aus, um Elèns Fuß zu berühren. Ihre Schwester hob mit einem zaghaften Lächeln den Kopf. Ihre Haut war schneeweiß und der lange Zopf, der über ihrer Schulter lag, sah viel zu dünn aus. Vìns Kiefer spannte sich an. Sírnir hatte das getan. Und sie hatte ihn zurück ins Lager gebracht. Genau wie vor zehn Jahren...
Elèn wimmerte. Sie begann so heftig zu zittern, dass Vìn das Beben ihres Körpers in ihren eigenen Knochen spürte. Ihre Augen flogen zum Körper ihrer Schwester, suchten nach Verletzungen, nach Schmerz... doch da war nur nackte Panik in ihrem Blick.
»Sieh mal einer an.«
Vìn fuhr herum. Sie hatte die Stimme bereits beim ersten Wort erkannt, diesen Ton, der den Sommer gefrieren lassen konnte. Diesmal lächelte der Mann in der schwarzen Rüstung, der sich zwischen zwei Hütten aufgebaut hatte und ihnen den Weg zum Südteil versperrte. Und diesmal konnte Vìn ihre Angst nicht leugnen. Das Kräuseln seiner blutleeren Lippen wirkte wie ein Zähnefletschen. Das grausame Funkeln in den schrecklichen grünen Augen ließ ihr Herz einen Schlag aussetzen.
»Die Götter müssen mir endlich gewogen sein, wenn sie mir gleich zwei Spatzen auf dem Silbertablett präsentieren.«
Elèn schnappte nach Luft und griff sich an ihren bloßen Hals, als würde die schiere Anwesenheit des Soldaten sie ersticken. Er war es, der ihre Panik verursacht hatte, der sie gejagt und in die Ecke getrieben hatte wie ein Beutetier. Und Vìn hatte ihn direkt zu Elèn geführt.
Der General verdiente es, zu sterben. Es war nach wievor Kostyas Entscheidung... Doch Sírnir würde Elèn nie wieder verletzen. Vìnlegte den Schwur in ihren Blick zu Elèn, deren Atem ein wenig tiefer zu gehenschien.
Torren unterbrach schließlich ihren Blickkontakt, als er Vìn sanft an derSchulter berührte. »Milos ist noch bei den Soldaten.«
Sie verengte die Augen ein wenig. Leiv stand auf und legte fragend den Kopf schief.Sie nickte ihm zu und er grinste aufgeregt, bevor er in Richtung Hauptplatzverschwand. Milos war der Einzige, den sie in all den Monden gesehen hatte,aber sie war nicht bereit, länger auf ihn zu warten. Sie brauchte ihren bestenFreund.
Ikka rutschte auf den Platz neben Vìn. Ihr Bein wippte immer wieder gegen Vìns,sie war ständig in Bewegung. Ihre Aufregung glich Neves Zappelei, die wie einnervöser Schmetterling zu Vìns Füßen saß. Auch äußerlich sahen die Schwesternsich ähnlich, obwohl zwischen ihnen zehn Jahre lagen. Vìn schmunzelte über dieBlicke der beiden, die gespannt auf ihr lagen. Sie mussten keine Fragenstellen, um Antworten zu verlangen. Doch Vìn hielt ihre Geschichte zurück, sie wolltenoch auf Milos warten. Stattdessen glitten ihre Augen immer wieder zu Elèn. Siehatte jetzt Dewit im Arm und kümmerte sich stumm um den jüngsten Bastard. Seniahatte sich dicht an die Ältere gedrängt, sprach sie aber nicht an. Vìnbemerkte, dass sich Torren, Arik und Aròe nicht näher als drei Schritte an Elènheranwagten. Ihre Vorsicht schien nicht erzwungen oder bewusst, als hätte siesich nach und nach in ihren Alltag integriert. Elèn wich Vìns Blicken aus.
Vìn wollte sich in die Präsenzen ihrer Geschwister zurücklehnen und einfachihre Anwesenheit genießen. Doch die Sorge um Elèn ließ sie nicht los. Für denMoment schien sie klarzukommen, sich an das Leben in Furcht gewöhnt zu haben. Vìnwürde einen Weg finden, ihr zu helfen. Doch bevor ihre Gedanken nach Auswegen suchenkonnten, stoppten sie vollkommen.
Ihr Kopf fuhr so schnell herum, dass ihre Sicht verschwamm. Ikka, Torren, Neves– sie sah keinen von ihnen mehr klar. Nur noch ihn. So, wie es immer gewesenwar. Vìn und Milos. Bis ans Ende der Welt.
Vìns und Milos' Freundschaft ist schon etwas Besonderes... aber Leiv und Vìn mag ich sogar noch lieber. Im nächsten Teil spielt er dann auch eine größere Rolle.
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