Kapitel 5
Vìn atmete schwer und hatte Mühe, ein Wimmern zu unterdrücken.
Als die Eindrücke der Schlacht ihre Sinne benebelt und das Adrenalin jeden Schmerz unterdrückt hatte, war sie unermüdlich gewesen und hatte weitergekämpft, immer weitergekämpft. Erst jetzt spürte sie die Wunden, die ihren Körper übersäten - die Verletzung an ihrem Oberschenkel, ihre durchbohrte rechte Schulter, eine oberflächliche Wunde an ihren Rippen. Und Schnitte, unzählige kleiner Schnitte, die ihre Arme und ihren Rücken bedeckten und kaum einen Flecken Haut ohne Blut zurückließen.
Sie zitterte und wünschte sich nichts sehnlicher, als sich eine Decke über den Kopf zu ziehen und die Augen zu schließen, bis das quälende Pochen abgeklungen war. Aber derartige Wünsche waren gefährlich und sie kämpfte dafür, sich diese Gedanken nicht anmerken zu lassen. Der Feind, der kaum einen Meter von ihr entfernt hinter einem klobigen Schreibtisch saß, war gefährlicher als all die Söldner, die sie heute besiegt hatte. Sein lodernder Blick hatte sie nicht für einen Moment verlassen, seit sie zu ihm vorgeführt worden war. Sie spürte die altvertrauten Flammen des Zorns an ihrem Herzen lecken, als er sich entspannt zurücklehnte und die Beine übereinanderschlug. Seine Füße steckten in maßgeschneiderten Stiefeln und er trug eine helle Lederweste über feinem dunkelrotem Stoff, dessen Farbe mit seinen Haaren perfekt harmonierte. Sie verabscheute sein sorgfältig ausgewähltes Äußeres, aber es war sein Inneres, das ihr Sorgen bereitete. Dieses Funkeln hatte auch in seinen Augen gestanden, als er seine ersten Beschlüsse als Colonel verlesen lassen hatte. Als er ihre Geschwister zum Tod verdammt hatte... Innerlich hörte sie das Zischen, als Wellen der Furcht ihr Feuer löschten. Colonel Kostya, mochte er noch so jung sein und seine Haut noch so glatt - er hatte keine Narben oder Schwielen, die von Kampferfahrung zeugten -, jagte ihr Angst ein.
»Der Bastard, der die Armee besiegte«, sagte er langsam, formte jedes Wort sogfältig mit seinem schön geschwungenen Mund, »Klingt nach einem guten Romantitel, nicht wahr?« Er verzog seine Lippen und zeigte seine perlweißen Zähne, eine Grimasse, die mit einem Lächeln nichts gemein hatte.
»Erbärmlich.«
Vìn hätte ihm auf die Arbeitsplatte gespuckt, wo seine Finger lässig an einem Rubinring drehten, hätte sie nur eine Spur Kraft übriggehabt.
»Und jetzt bist du hier, um dir deine Belohnung zu holen, ja?«
»Ja, Colonel«, brachte sie heraus und hasste sich selbst für das Stocken in ihrer Stimme, die nur mühsam kontrollierten Worte. Ihr Ton war ein krasser Gegensatz zu den sorgfältig erwogenen Sätzen Kostyas. Sein Lächeln wurde für einen Moment breiter.
»Dann lass uns nachschauen, welche Form deine Trophäe hat.« Er schob ein Buch zur Seite und zog eine Pergamentrolle hervor, unterbrach aber ihren Blickkontakt nicht.
»Sieh an. Der Sieger des Turniers vom ersten Mond des Thulai hat die Ehre, die nächstfolgende Mission nach Norden zu begleiten.«
Für einen Moment fiel ihr mühsam geradegehaltener Blick ab und sie starrte ungläubig auf das Blatt in seinen Händen, dessen Zeichen sie ohnehin nicht lesen konnte. Sie sah seine Fingerkuppen das zerknitterte Pergament glattstreichen, das Grinsen, das er nicht einmal versuchte zu verstecken, und das zufriedene Blitzen seiner lohfarbenen Augen. Der Hass fraß sie beinahe auf, doch sie musste alle Energie darauf konzentrieren, stehen zu bleiben.
»Das ist keine Belohnung, das ist ein Weg in den sicheren Tod.«
»Tu nicht so, als hättest du die Risiken nicht gekannt, als du dich für die Teilnahme entschieden hast.«
»Jedem anderen Menschen wäre eine Rüstung gewährt worden, oder eine Handvoll Skefli!«
»Du aber bist kein Mensch.« Er fixierte sie derart intensiv, dass ihre Knie dabei weich wurden. Ihr aufrechtes Stehen war nicht mehr Stolz oder Wut zu verdanken, sondern purem Trotz. »Du bist nicht mehr als ein Tier. Du hast selbst gekämpft wie eines - mit Zähnen und Klauen wie ein Wolf. Nun, ein kleiner Wolf.«
Sie fauchte, und es war ihr völlig egal, dass sie ihm dabei recht gab. »Das hier hat nichts mehr mit dem Kampf zu tun, das ist purer Machtmissbrauch!«
»Wenn du einen anderen Mann an meinem Platz sitzen sehen willst, musst du wohl den König stürzen, Wölfchen.« Sein Ausdruck heuchelte derart falsches Mitleid, dass sie jegliche Vorsicht vergaß. Sie erlaubte dem Funken seiner Schadenfreude, ihr Feuer zu entfachen.
»Vielleicht werde ich genau das tun.«
Sie trat einen Schritt näher an ihn heran, aber auf seiner Miene fehlte die Angst, die in den Augen der bewaffneten und gerüsteten Soldaten gestanden hatte. Colonel Kostya zeigte nichts als einen Anflug von Neugier. »Den König stürzen. Ihn, Euch, und alle, die sind wie ihr.«
Als sie auf dem Absatz herumwirbelte und auf den Ausgang zustürzte, musste sie sich für einen Moment am Türrahmen abstützen, um nicht zu Boden zu gehen. Sein Gelächter begleitete sie den gesamten Weg den Flur hinunter.
➵
In dieser Nacht verfolgte der Colonel sie in ihre Träume.
Sie war Hass, sie war Wut, sie war Feuer, und sie war bereit, die Welt zu verschlingen. Seine lohfarbenen Augen waren ein Spiegel ihrer tanzenden Flammen. Doch seine Stimme, so klar und kalt, ließ sie erstarren.
»Du bist kein Mensch, Wölfchen. Du bist nichts wert, nicht mehr als ein winziger Spatz...« Er legte den Kopf schief, als hätten seine eigenen Worte ihn irritiert. Ihr Herz flatterte nun wirklich wie ein verängstigter Vogel, sie kämpfte, rannte, und konnte der Erstarrung doch nicht entkommen.
Der Colonel lachte auf, und plötzlich standen keine Flammen mehr in seinen Augen. Sie waren eisig grün geworden, härter, grausamer. Schatten erstickten das Feuer, legten sich um seine Schultern, umhüllten seine gesamte Gestalt. Selbst sein Gesicht wurde älter, kantiger, mit einem grausamen Zug um den Mund.
»Hast du das Fliegen verlernt, kleiner Spatz?«
Sie erwachte mit einem Schrei.
Elèn, die neben ihr gelegen hatte, fuhr zusammen. Vìn setzte sich mit zitternden Gliedern auf, und sobald sie den erschrockenen Blick ihrer Schwester auffing, schlang sie die Arme um sie. Elèn gab keinen Laut von sich, saß nur ruhig atmend da. Sie war wohlauf, war bei ihr, lebte... Vìn hielt Elèn fest an sich gepresst und passte sich dem Heben und Senken ihres Brustkorbs an. Es dauerte dennoch, bis Vìn sich so weit beruhigt hatte, wieder einschlafen zu können.
Es benötigte einen gesamten Tag, bis sie wieder gefahrlos geradeaus laufen konnte. Sie hockte in ihrem Unterschlupf, eine zerschlissene Decke um die Schultern geschlungen, und knurrte jeden an, der sich näher als drei Schritte an sie heranwagte. Ihre einzige Gesellschaft waren Dewit, der Knirps, der in einem Korb schlummerte, und Elèn, die die Krankenpflege übernahm. Und obwohl sie die älteste und sanftmütigste der Bastarde war, hatte auch ihre Geduld irgendwann ein Ende.
»Ich habe dir Beinwell und Ringelblume zu einer Paste vermischt. Einen Teil davon schluckst du, den Rest verteile ich auf deine Wunden.«
»Sicher nicht. Heb' dir das für Notfälle auf.«
»Nach einem Kampf, der dich fast umgebracht hat, auf eine Mission gezwungen zu werden, die niemals zuvor erfolgreich gewesen ist, klingt für mich ziemlich nach einem Notfall.«
Der Blick aus Elèns blassblauen Augen war streng, und ohne auf weitere Proteste zu warten, faltete sie ihren langen dürren Körper, um mit Vìn auf einer Augenhöhe zu sein. Elèn hatte ähnlich helle Haare wie sie, doch ihre Haut war blass und das ältere Mädchen wirkte seltsam farblos. Bevor die Kinder alt genug gewesen waren, um sich um Neugeborene zu kümmern, waren die Bastarde völlig auf sich allein gestellt gewesen. Fast alle waren verendet, und diejenigen, die überlebt hatten, waren von Zaarlos gezeichnet worden. Auch Torren, der nur ein wenig jünger war als Vìn, hatte große weiße Flecken auf dem Körper, und kaum ein Wort kam jemals über seine Lippen. Milos war der Einzige von ihnen, der immer gesund gewesen war.
»Vìn, bitte«, murmelte Elèn jetzt, und sie biss stumm die Zähne zusammen. Wortlos zog sie sich ihre Tunika über den Kopf, damit Elèn ihre Wunden behandeln konnte. Ihre kühlen Finger waren sanft und behutsam, aber dennoch konnte Vìn ein Wimmern nicht unterdrücken, als sie die größere Wunde an ihrer Schulter mit der Kräuterpaste bestrich. Elèn hielt kurz inne und Vìn verspannte sich, dann fuhr die Ältere jedoch ohne einen Kommentar fort. Elèns sensible Natur schien hier im Lager völlig fehl am Platz.
Als tapsende Schritte näherkamen, drehten sie synchron die Köpfe. Zwei Mädchen näherten sich ihnen, beide im Kleinkindalter, und das größere von ihnen humpelte stark. Dennoch hielt es die Hand seiner kleinen Schwester fest umklammert, die einen Daumen im Mund stecken hatte und aus großen Augen zu den Älteren herübersah. »Kámi will deine Vögel füttern, Vìn«, verkündete das Mädchen mit dem verkrüppelten Bein und schüttelte sich ihre schwarze Haarmähne aus dem Gesicht, »Dürfen wir? Wir bleiben auch ganz am Rand vom Lager!«
Kámi mit ihren goldenen Haaren und der hellbraunen Haut gab keinen Ton von sich, doch das war nicht ungewöhnlich. Lächelnd richtete Elèn sich auf und hob die Kleine auf ihre Hüfte. »Wir gehen zusammen, ja? Vìn muss sich noch ausruhen.«
Beinahe hätte sie Elèn eine scharfe Erwiderung gegeben, doch die Anwesenheit ihrer Schützlinge ließ sie sich auf die Zunge beißen.
»Hat Vìn Aua?«, fragte Neves mit großen Augen. Sie schenkte ihr ein Lächeln, das nicht einmal die Fünfjährige überzeugte, und antwortete mit ruhiger Stimme: »Natürlich nicht, ich bin nur ein wenig müde. Du weißt doch - Vìn ist unverletzlich.« Sie zwinkerte spielerisch und Neves kicherte, bevor sie hüpfend vorauslief, so gut das mit ihrem verkrüppelten Bein möglich war. Elèn rief ihr eine Warnung hinterher, bevor sie sich noch einmal zu Vìn umdrehte. »Das bist du nicht«, sagte sie leise, »Und du tust besser daran, das nicht zu vergessen.« Als sie Neves hinterhereilte, starrte Kámi über ihre Schulter hinweg Vìn an, bis Elèn um eine Ecke gebogen war.
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Vìn erlaubte sich erst, eine Spur von Schmerz zu zeigen, als ihre Geschwister längst verschwunden waren. Sie atmete tief durch und spannte vorsichtig ihre Muskeln an. Verbittert starrte sie auf den verletzten Oberschenkel. Sie konnte ein Zischen nicht unterdrücken, als sie ihr Bein hob, aber wenn sie keine Kraftübungen machte, konnte sie die Reise niemals überstehen. Doch dann fuhr sie zusammen - nicht vor Schmerz, auch nicht, weil ein Geräusch sie gewarnt hatte. Es war vielmehr eine jahrelang antrainierte Ahnung, und sie beeilte sich, ihre schmerzverzerrte Miene wieder unter Kontrolle zu bekommen.
»Komm schon raus«, knurrte sie in keine bestimmte Richtung, war aber nicht überrascht, als sich Leiv aus dem Spalt der beiden Holzwände quetschte, die ihren Unterschlupf bildeten. Eigentlich war die Kluft zwischen Schlafbaracke und Lagergebäude viel zu schmal für einen Jungen, aber Leiv hatte sich noch nie für Naturgesetze interessiert.
»Solltest du nicht eigentlich bei Elèn sein?«
Der Junge scharrte mit den Füßen im Dreck und gab sich sichtlich Mühe, verlegen auszusehen. »Sie wollte, dass ich auf die Mädchen aufpasse, aber das ist so langweilig!«
Seine Augen blitzten frech unter einer goldenen Haarlocke hervor und zerstörten das Bild des Unschuldslamms sofort wieder. Vìns Augen verengten sich und sie lehnte den Hinterkopf an die Holzplanken hinter ihr. Mittlerweile war Leiv größer als sie, wenn sie kauerte und er aufrecht stand, aber sie schaffte es trotzdem, auf ihn hinabzusehen.
»Du nennt es also langweilig, deine wehrlosen Schwestern zu beschützen?«
Jetzt erstarrte Leiv und blickte sie ehrlich betroffen an. »Ich wollte doch nicht...«
Sie mochte es nicht, den Jungen leiden zu sehen, der wie ein Bruder für sie war, doch es war nötig, dass er die Lektion lernte. Vor allem, wenn sie für einige Tage verschwinden würde.
»Ich musste doch auch ein Auge auf Senia haben, als sie Ravell geholfen hat, die Kochtöpfe in die Pavillons zu bringen!«
»Senia ist zehn, sie kann auf sich selbst aufpassen. Neves und Kámi können das nicht.«
»Es tut mir leid, Vìn. Ich lasse die beiden nie wieder allein! Und Dewit auch nicht!«
Er hatte sichtlich mit sich gekämpft, um diese Worte herauszubringen, doch jetzt hob er sein Köpfchen und sah ihr offen in die Augen. Auf ihrem Gesicht breitete sich ein nachsichtiges Lächeln aus.
»Das will ich hoffen. Jetzt geh und sag Arik oder Aròe, dass ich eine Nachricht für Colonel Kostya habe. Ich brauche Ausrüstung für die Reise. Und Torren ist alt genug, um für seine Arbeit mit Skefli entlohnt zu werden. Kannst du das alles behalten?«
»Du brauchst Reiseausrüstung und Torren Münzen. Ist doch einfach!« Leivs Gesicht zierte schon wieder ein Grinsen, und es dauerte keinen Wimpernschlag, da war er wieder verschwunden.
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Die Kleidergarnituren, die Kostya ihr überraschenderweise tatsächlich zukommen ließ, behielt sie nicht für sich. Sie sah ein, dass sie einen Umhang und ein paar Stiefel brauchen würde, doch den Rest der Stoff- und Lederteile überließ sie ihrer Familie. Und dann, nach einer unruhigen Nacht voll wirrer Träume von endlos hohen Bergen und polternden Felsrutschen und einem Mann mit Schatten um den Schultern, der sie auf eine Klippe zujagte, war es Zeit für sie, sich zum ersten Mal in ihrem Leben von den Bastarden zu verabschieden. Vìn war ohnehin aufgewühlt von den Albträumen, sie schaffte es beinahe nicht, für ihre Geschwister stark zu wirken.
Mittlerweile hätte sie sich daran gewöhnen müssen, doch die Grausamkeit der grünen Augen traf sie immer wieder unvorbereitet. Den Mann, der Grund für ihre bodenlose Panik war, hatte sie seit ihrer Kindheit nicht gesehen, doch gerade das war es, was ihr Angst machte. Es waren die Bastarde, die Gräber für tote Soldaten aushoben, und auch die Auserwählten für Missionen kontrollierten sie regelmäßig - der Soldat konnte die Insel nicht verlassen haben. Zehn Jahre hatte er sich nicht gezeigt, und zehn Jahre hatte er sie doch immer wieder gejagt. Wenn sie mit rasendem Herzen aufwachte, war sie plötzlich wieder ein Kind, und der Klinge seines Schwertes wehrlos ausgeliefert. Die Träume wurden immer schlimmer, und unwillkürlich musste sie sich fragen, ob der Schattensoldat auch beginnen würde, Elèn zu jagen - Ikka zu jagen, Senia zu jagen. Das konnte sie nicht zulassen.
Die Sonne hatte den Horizont noch nicht erreicht und am östlichen Himmel zeigten sich gerade die ersten Schlieren des Dämmerlichts. Die Gesichter der Kinder um sie herum waren kaum auszumachen, doch sie musste sie nicht sehen, um sie in ihrem Herzen zu behalten.
»Du kommst doch wieder, oder?«, fragte Leiv mit untypisch leiser Stimme und kuschelte sich eng an Senia, die ihm beruhigend einen Arm um die Schultern legte. Vìn kippte neckisch den Kopf auf die Seite. »Natürlich! Wie könnte ich auch nicht wiederkommen, wenn die wunderbarsten Menschen von ganz Castrhys hier auf mich warten?«
Von Elèn, die Dewit und Kámi auf dem Schoß hatte, kam der erwartete mahnende Blick, doch die Älteste verkniff sich einen Kommentar. Vìn atmete tief durch und vertrieb resolut jedes Zeichen der Schwäche aus ihrem Inneren. So real die Gefahr des Schattensoldaten mit den schrecklichen grünen Augen ihrem Unterbewusstsein auch schien, es waren nur Träume. Und vielleicht würde sie die loswerden, wenn sie erst im Norden von Zaalos war. Ihr ganzes Leben lang war sie hier im Lager eingesperrt gewesen. Dort draußen musste es etwas geben, das ihrer Familie helfen konnte. Waffen, ein sicheres Versteck, vielleicht sogar Verbündete... irgendetwas.
Vìn erhob sich mit noch etwas steifen Gliedern. Als sie ihren Blick ein letztes Mal über ihre Familie schweifen ließ, verhakten sich ihre Augen mit den blassblauen Torrens. Der drahtige Junge gab keinen Laut von sich, aber in seinem Lächeln lag Verständnis. Er würde ihren Platz einnehmen, sein ganzes Sein dafür geben, ihre Geschwister zu beschützen.
Mit einem Mal drehte Vìn sich um, verbot es sich, bei dem leisen Wimmern eines der Kleinkinder zusammenzuzucken, und beschleunigte ihre Schritte. Sie verschwendete ihren Atem nicht mit Abschiedsworten. In einigen Tagen würden sie wieder Seite an Seite im Unterschlupf hocken und sich Geschichten erzählen, um die Winterwinde zu übertönen.
Sie hielt nicht inne, als sie durch das beinahe vollkommen still daliegende Lager schlich, auch nicht, als Milos an ihre Seite schlüpfte. Ihr Atem stockte in ihrer Lunge, und sie bereitete sich innerlich auf einen Kampf vor. Er würde sich nicht mit einer Halbwahrheit abspeisen lassen. Aber ihm zu erklären, warum sie das Lager wirklich verließ, warum das Bedürfnis, aus diesem Leben auszubrechen immer drängender in ihr wurde... das hieße, auch vor sich selbst zuzugeben, dass das hier genauso eine Flucht wie die Suche nach Hilfe war. Den Mann mit den hellen Augen inmitten von Dunkelheit hatte sie zehn Jahre nicht leibhaftig gesehen. Aber die Träume wurden häufiger und intensiver, und manchmal fragte sie sich, ob sie eine Warnung waren. Von Zaarlos selbst geschickt. Ob der Mann - der einzige, der sie je besiegt hatte - erneut auf der Jagd nach ihr war...
Niemand wusste, was hinter den Nordbergen lag. Doch sie würde es herausfinden, und was immer es war, sie würde es zur Befreiung ihrer Familie nutzen. Alles war besser als das, was ihr jetzt zur Verfügung stand, als dieses Dahinsiechen am Boden, obwohl den Bastarden doch der Thron von Zaarlos zustand. Wenn sie erst zurückkehrte, würde kein Stein des Lagers ihr standhalten können. Bis der Colonel und seine Lakaien tot waren. Bis auch das kalte Licht in den grausamen grünen Augen erlosch.
Milos riss sie mit eindringlicher Stimme in die Gegenwart zurück. »Du musst das nicht machen.«
»Der Colonel sieht das anders.«
»Der Colonel hat keine Ahnung von uns! Er sollte nicht das Recht haben, dir Befehle zu erteilen!«
Bei diesem Ausbruch hob sie eine Augenbraue in seine Richtung. Niemand sollte das Recht haben, ihnen Befehle zu erteilen. Das war jedem Bastard klar. »Was soll das hier, Milos?«
»Ich will einfach nicht... Ich kann nicht-«, er packte sie plötzlich hart an der Schulter und zwang sie zum Stehenbleiben. »Das hier darf nicht das letzte Mal sein, dass wir uns sehen.«
Für einen Moment war sie irritiert. Eigentlich hatte sie gedacht, dass auch jedem Bastard klar war, dass sie sich nicht unterkriegen lassen würde. Mit etwas Mühe ließ sie ihre Miene sanfter werden und erwiderte den Druck seiner Finger. »Zaarlos ist unsere Insel, Milos. Da draußen, abseits von den Soldaten, gibt es nichts, das einem Bastard gefährlich werden kann. Dort liegt mein Revier, und glaube mir, ich werde es nutzen. Für uns.«
Im Zwielicht war der Ausdruck in seinen dunklen Augen nicht zu erkennen, doch sein schwerer Atem verriet ihr alles, was sie wissen musste. Milos blieb stumm. Und Vìn entfernte sanft seine Hand von ihrem Oberarm, drückte sie ein letztes Mal, und setzte dann ihren Weg zum Haupthaus fort. Diesmal folgte er ihr nicht.
Das Kapitel hat Überlänge, aber hätte ich einen Teil davon mit ins nächste genommen, wäre mein Rhythmus unterbrochen worden... Naja, zufrieden bin ich mit dem Kapitel nicht wirklich, aber ich bin krank und konnte nicht so viel korrekturlesen, wie ich das gern hätte. Also, wenn ihr Verbesserungsvorschläge habt, zu Szenen oder Formulierungen, wäre ich euch sehr dankbar!
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