Kapitel 46
Vìn sprang auf. Sie bemerkte kaum, wie sie einen Becher auf dem Tisch umstieß. Ihr Fokus lag voll und ganz auf dem Jungen, der gar nicht hätte hier sein können. Wie war er unbemerkt zurückgekehrt? Und was sollte das bedeuten, Zaarlos kommt?
Die Soldaten konnten Ocrioll nicht erreichen. Sie konnten Vìn hier nicht finden. Milos würde sie niemals verraten. So sehr Kostya auch darauf beharrt hatte, diesmal würde er nicht recht behalten. Das war völlig unmöglich. Kester musste sich irren, zum ersten Mal in seinem Leben. Vielleicht sah er deshalb so verloren aus zwischen all den Rebellen, die an ihm vorbeiströmten, ohne seine Worte wahrzunehmen. Sein Körper wand sich, er versuchte, sich zwischen den größeren Kämpfern hindurchzuzwängen, doch er schien seine übliche Gewandtheit verloren zu haben. Einzig seine Augen, hell und voller Angst, blieben auf Vìn fixiert.
Etwas in ihr stockte.
Das dort war der Waisenjunge, den sie geschworen hatte, zu schützen. Und er brauchte ihre Hilfe.
Kester war nicht wie sie. Er ließ sich nicht von seinen Emotionen leiten, sondern befehligte seine eigenen Gedanken bis ins kleinste Detail. Ocriolls bester Spion würde nicht grundlos Alarm schlagen.
Mit einem Sprung war Vìn auf dem Tisch und richtete sich hoch auf. Köpfe drehten sich zu ihr und eine Hand griff nach ihrem Knöchel, doch sie schüttelte Kat ab.
»Zaarlos kommt!«, brüllte sie in den Speisesaal hinein. »Die Soldaten greifen an!«
Sie konnte den Sinn ihrer eigenen Worte nicht erfassten. Da war nur ein Urinstinkt in ihr, der ihr sagte, wie wichtig sie waren. Dass sie gehört werden mussten, von jedem einzelnen Kämpfer im Untergrund.
Die Rebellen blieben für einen Moment stumm und schienen nicht zu begreifen, was Vìn gerufen hatte. Doch dann ertönte der erste Schrei und ein Späher stürmte zum Ausgang. Binnen weniger Wimpernschläge brach Chaos aus, Holz polterte auf Stein und Metall auf Leder. Die Geräusche waren zu viel für Vìn, stürzten auf sie nieder und schienen sie zu ersticken... Sie konnte Kester nicht mehr erkennen. Ihr Herz raste, als wollte es aus ihrer Brust springen. Inmitten von Schüsseln aus Eintopf fiel sie auf ein Knie. Wie hatte etwas so Alltägliches sich in so kurzer Zeit in einen Albtraum verwandeln können?
Sie schlang die Arme um ihren Oberkörper, mit beiden Händen nach ihren Dolchen greifend. Sie drohte, zu ertrinken in dem Strom aus Panik, der die Rebellen erfasst hatte. Ihr Atem ging stockend und ihre Gedanken wirbelten. Es konnte, durfte nicht wahr sein...
Etwas packte ihre Schultern und drückte sie nach oben. Ihr Sichtfeld war verschwommen, aber das Feuer in seinen Augen war unerbittlich. Sein Blick brannte sich in ihren und zwang sie dazu, in die Realität zurückzukehren.
»Schau mich an, Wölfchen.«
Kostya war bei ihr, hatte sich auf die Tischplatte gekniet, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt. In seinem Ausdruck fehlte die Kühle, die er in den letzten Tagen aufgesetzt hatte. Da war nur unerbittliche Loyalität. Kostya war bereit, zu kämpfen, welcher Gegner auch immer sich zeigen sollte. Selbst wenn es tatsächlich die Soldaten von Zaarlos waren.
»Kester«, brachte sie hervor. Kostya nickte zur Seite, und als sie seinem Blick folgte, erkannte sie endlich den Jungen wieder. Ein Kreis aus Rebellen hatte sich um ihn gebildet. Caz kniete in ihrer Mitte und legte die Hände auf Kesters Schultern. Der Waise wirkte jetzt viel ruhiger und seine Lippen bewegten sich ständig. Caz nickte immer wieder, bevor er sich aufrichtete. Als er sich umdrehte und Vìn einen Blick auf sein Gesicht erhaschte, wich die Panik in ihr einem anderen Gefühl.
Sie hatte Caz nie gemocht, seine Herkunft nicht ignorieren können. Sein Selbstbewusstsein hatte ihre Wut geweckt, und sein Sanftmut ihren Frust. Die Rebellion hatte einen klaren Gegner, und dessen Sohn hatte die Dreistigkeit, sich an ihre Spitze zu setzen? Beinahe war sie froh gewesen, als Conner ihr seinen mangelnden Glauben gestanden hatte. Denn sie hatte die blinde Loyalität der Rebellen zu Caz nie nachvollziehen können.
Doch der Mann, der jetzt in der Mitte des Gewölbes die Stimme erhob, ließ keinen Zweifel an dem, was er war. Er brauchte keinen Tisch, um gesehen zu werden, kein Geschrei, um sich Gehör zu verschaffen. Mit dem Eis des Nordens und dem Feuer des Südens in der Stimme gab er knapp seine Befehle.
»Außenverteidiger, an die Spitze – führt die Nordpäher nach Südosten! Süden, zu mir! Onna mit den Innenverteidigern, bemannt die Hauptadern!«
Das Licht der Fackeln spiegelte sich im Schweiß auf Caz' Stirn. Seine Haltung blieb aufrecht und seine Stimme zitterte nicht, obwohl sein tiefstes Herz angegriffen wurde. Vor seinen Rebellen zeigte er keine Schwäche, empfand keine Schwäche. Er war stark, für sein Volk.
Bréam Caylaz war der rechtmäßige König von Castrhys. Und Vìn würde ihm in den Krieg folgen.
Sie sprang vom Tisch herunter, federte geschickt den Aufprall ab und mischte sich unter die Kämpfer, die sich Gruppen ordneten. Kostya folgte ihr auf dem Fuß, packte dann aber ihr Handgelenk, um sie in die andere Richtung zu ziehen. Blindlings folgte sie ihm – jetzt war nicht die Zeit für Diskussionen. Sie liefen geradewegs auf Caz zu, der an seine Vertrauten weitere Instruktionen verteilte. Galyon schickte er mit einem raschen Winken Richtung Norden, doch der Waffenmeister schien zu zögern, seinen Anführer zu verlassen.
Kostya fing Galyons Blick auf. »Geh. Ich schütze ihn mit meinem Leben.«
Caz zog kurz die Augenbrauen zusammen, nickte Galyon aber zu. Der brauchte keine zweite Aufforderung und stürmte aus dem Speisesaal heraus, nun selbst Befehle brüllend. Vìns Muskeln zuckten, drängten sie dazu, es dem Verteidiger gleichzutun. Das Gewölbe hatte sich beinahe vollständig geleert und sie war mehr als bereit, endlich zu den Waffen zu greifen. Ihr Blick huschte zu Caz, der einmal tief durchatmete und Kostya ein knappes Lächeln schenkte.
»Wie in alten Zeiten?«
»Wie in alten Zeiten.« Kostya zog sein Schwert und wirbelte es einmal herum. Der Schein des Feuers blitzte in der Klinge auf, in derselben Farbe wie das Funkeln seiner Augen. Sein nächstes Grinsen war Vìn zugerichtet und sie erwiderte es mit gebleckten Zähnen. Mehr brauchte es nicht. Zu dritt stürmten sie los, durch die Tunnel, die ihnen ein zweites Zuhause geworden waren. Das würden sie zuerst retten. Und dann Zaarlos, die Südinsel, Castrhys.
Caz erklärte im Laufen, was Kester ihm in aller Eile berichtet hatte.
Die Soldaten waren mit Schiffen über die Klingensee gekommen. Ein Großteil der Armee hatte sich mobilgemacht und war mit einem Dutzend Kriegsschiffen auf Ocrioll angekommen.
Vìn war gestrauchelt, sobald das Wort »Meer« gefallen war. Es gab nur einen Jungen, der durch die Klingensee navigieren konnte, und der würde niemals die Rebellen verraten. Caz erwähnte mit keinem Wort, dass Kester auf Zaarlos gewesen war, aber die Realisation traf Vìn mitten im Schritt.
Die Soldaten mussten Kester gefangengenommen haben. Vielleicht war aus Zufall eine Patrouille am westlichen Ufer unterwegs gewesen und hatte ihn erwischt. Vielleicht hatte er auch Milos ins Lager begleitet und war dort entdeckt worden. Oder vielleicht hatte Milos ihn verraten.
Vìn wollte schreien. Wäre sie nicht bereits auf einen Kampf zugestürmt, hätte sie Kostya in die Trainingshöhle gezerrt. Es konnte einfach nicht wahr sein. Milos musste doch gesehen haben, wie sehr Kester den Bastarden glich. Und Vìn hatte ihm gesagt, dass der Junge ihr wichtig war. Ihr Bruder hätte ihn beschützen müssen.
Aber jetzt waren die Soldaten hier und bedrohten alles, was ihr in den letzten Monden ans Herz gewachsen war. Zahlenmäßig war die feindliche Armee den Rebellen überlegen, aber das hier war ihre Insel. Sie lebten in diesen Tunneln, hatten sie erbaut, und das würde ihnen einen gewaltigen Vorteil geben.
Caz, Kostya und Vìn liefen nicht im vollen Tempo. Sie sparten einen Teil ihrer Kraft für den Kampf auf, aber sie waren trotzdem schnell. Für jeden von ihnen stand alles auf dem Spiel. Vor ihnen zeichneten sich Gestalten im Gang ab und Vìn hob ihre Messer, doch Caz stieß einen Ruf aus. Es war eine Gruppe von Südspähern, die sich augenscheinlich zur Verteidigung der östlichen Hauptader bereitmachten.
»Nehmt den südlichen Erdgang und greift sie von hinten an!« Caz' Schritte zögerten nicht einen Wimpernschlag lang. Er drängte sich zwischen seinen Freunden hindurch und spurtete weiter, die Augen ständig auf die nächste Biegung gerichtet. Vìn kontrollierte bewusst ihren Atem, als sie ihm folgte.
Sie kamen näher an den Ausgang der Hauptader heran und trafen immer mehr Rebellen. Vìn zog bereits Dorn und setzte die Einzelteile zusammen, da bog Caz plötzlich nach Osten ab. Bei drei Verteidigern in einem kleinen Gewölbe hielt er schließlich inne.
Vìn kam gerade rechtzeitig zum Halten, um seine Instruktionen zu hören. »Die Spinne wird unser Kontrollzentrum. Ich will mindestens ein Dutzend kampfschwacher Rebellen als Boten in den Gängen haben.«
Die Verteidiger nickten ihm zu und verschwanden in einer der acht Abzweigungen der Höhle. Caz nahm eine der Fackeln aus ihrem Halter und schlug sie aus, bevor er mit raschen Bewegungen ihren Kopf über die Felswand zog. Innerhalb weniger Striche hatte er etwas gezeichnet, das annähernd wie eine Karte der südlichen Tunnel aussah.
»Sie werden hier, hier und hier ihre Hauptangriffe starten.« Ohne zu zögern setzte er einige Kreuze. Dann umkreiste er die schmaleren Gänge. »Diese Ausgänge sind schlecht versteckt. Wir locken sie gezielt in die Tunnel und sperren sie ein. In den Nebenarmen entfernen wir alle Fackeln und setzen nur Gruppen ein, die regelmäßig im Süden unterwegs sind.«
»Ich bin gleich wieder da.« Kostya eilte davon, um die Befehle weiterzugeben. Caz schien es nicht einmal zu bemerken. Sein gesamter Fokus war auf seinen Plan gerichtet. Vìn nahm ihm kurzerhand die Fackel aus der Hand, entzündete sie wieder und reichte ihm eine frische. Ohne ein Wort nahm er seine Überlegungen wieder auf.
»Wir brauchen Varnir auf dem offenen Gelände. Sollten die Soldaten einen Weg nach Norden finden, sind wir geliefert. Wir müssen sie beschäftigt halten, angreifbar genug scheinen, dass sie sich auf den Südosten konzentrieren.«
Vìn hatte keine Ahnung, ob er eine Reaktion von ihr erwartete, nickte aber trotzdem. Obwohl sie ihre Kraft hätte sammeln müssen, sich auf Atemtechniken konzentrieren, konnte sie die nervöse Energie nicht in ihrem Inneren halten. Sie tigerte in der Höhle auf und ab, die Finger ständig mit ihren Dolchheften beschäftigt. Als Kostya endlich wieder im Eingang erschien, sprang sie ihn beinahe an. Er hatte einige Rebellen im Schlepptau, die sich sofort um Caz scharten. Doch Vìn hatte nur Augen für den ehemaligen Colonel.
»Lass uns gehen.«
Kostya fing ihren Blick auf. »Du bleibst bei mir. Ich bleibe bei Caz.«
»Ich gehöre an die Front!«
»Du gehörst zu mir.«
Beinahe hätte sie laut aufgejault. Egal, was mit Milos passiert war, es war kein Zufall, dass die Soldaten gerade jetzt aufgetaucht waren. Sie hatte eine Schuld zu begleichen. Ein Zuhause zu schützen. Außerdem war es ihre Bestimmung, den Soldaten von Zaarlos die Stirn zu bieten.
Caz warf seine Fackel beiseite und verschränkte die Arme. In seinen Augen stand dieselbe Unruhe, die Vìn verspürte.
»Sobald wir eine Befehlskette aufgebaut haben, stehen wir in der ersten Linie«, versprach er ihnen. »Bis dahin...«
Sein Kiefer entspannte sich und sein Blick verhakte sich mit den schwarzen Linien auf grauem Untergrund. Mit zusammengezogenen Augenbrauen hob er die Fackel wieder auf und fügte dem Plan einige Kreise hinzu. »Wenn wir schnell sind, können wir einige Tunnel einstürzen lassen. Jemand muss Oona finden. Wir aktivieren Protokoll Südkompass.«
Vìn wusste nicht, was das zu bedeuten hatte, doch ihre Finger flogen sofort zu ihrem Gürtel. Der Kompass... Diesmal hatten sich beide Nadeln gedreht und zeigten in die Richtung, aus der leise Schreie drangen. Sie nickte Caz zu und spurtete los, um wenigstens etwas zu tun zu haben. Kostya hatte recht, Caz' Sicherheit war die oberste Priorität. Aber Vìn kämpfte besser als die Hälfte der Rebellen, sie gehörte in die Schlacht. Ihre Messer fest in den Händen, musste sie sich zwingen, den Weg zur Hauptader einzuschlagen.
Den wenigen Spähern, die sie traf, schenkte sie kaum einen Blick. Einem von ihnen rief sie zu, er solle Varnir an die Oberfläche beordern, dann rannte sie weiter. Sobald sie in die Hauptader schlitterte, wurde ihr eine Axt entgegengestoßen, doch sie wich der Klinge ohne Probleme aus. Sie kannte den Mann nicht, der sie geschwungen hatte, aber er trug die Kleidung eines Rebellen.
»Vìn, Späherin und Kostyas Schülerin«, sagte sie knapp, »Was ist Caz' voller Name?«
Der Mann warf ihr einen misstrauischen Blick unter buschigen roten Augenbrauen zu. »Bréam Caylaz.«
Gut. Er musste ein Verteidiger sein. »Ich komme direkt von ihm, Oona soll Protokoll Südkompass aktivieren.«
Ohne ein weiteres Wort verschwand der Rebell und ließ sie allein. Vìn blieb für einen Moment vollkommen still stehen, den Blick die Hauptader hinunter gerichtet. Niemand war hier, um sie aufzuhalten. Sie könnte sich an die Front schieben, endlich beweisen, was ein Bastard, eine Rebellin, tun konnte. Die Soldaten würden vor ihr zusammenzucken.
Mit geballten Fäusten gab sie sich einen Ruck und schlug den Weg zurück zur Spinne ein. Wenn Caz' sie noch einmal brauchte, um Befehle weiterzutragen, würde sie ihm Folge leisten. Aber danach würde nichts und niemand sie mehr von ihrer Bestimmung abhalten können.
Ich glaube, ich habe euch lang genug hingehalten - im nächsten Kapitel starten die Kämpfe! Fight scenes schreibe ich, neben Dialogen, am liebsten. Ich hoffe, sie werden sich auch gut lesen lassen!
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