Kapitel 43
Kostyas Tunika hatte Taschen. Er hatte seine Hände tief darin vergraben, aber Vìn wusste trotzdem, dass er sie zu Fäusten geballt hatte. Seine Augen brannten vor Zorn, doch der Rest seines Körpers blieb still. Für den Moment hatte er sich unter Kontrolle. Nur hatte Vìn keine Ahnung, was das für sie bedeutete.
»Ich gehe auf Patrouille«, berichtete sie ihm wahrheitsgemäß. Den Trotz in ihrer Stimme versuchte sie nicht einmal zu unterdrücken.
»Du hast keine Zeit«, zischte er sofort zurück. Sie zog nur eine Augenbraue hoch. Wer bildete er sich ein, zu sein, dass er ihr Befehle geben konnte?
»Du hast Training. Genau wie gestern. Als du es verpasst hast.«
Mit einem Schnauben verschränkte sie die Arme. »Du hast eindeutig klar gemacht, dass du mich nicht sehen willst.«
Kostya lehnte sich gegen die Felswand neben dem Eingang zum Speisesaal, aber seine Haltung hatte nichts Entspanntes. »Ich trainiere dich nicht, weil mir dein Anblick Freude bereitet.«
»Eher der Anblick meiner Niederlagen, nicht wahr?«
»Vielleicht.« Er bleckte die Zähne. »Jedenfalls hat das Training oberste Priorität. Ohne Erlaubnis von mir hast du nicht zu fehlen.«
Er wusste es. Es stand ihm förmlich ins Gesicht geschrieben, dass er nur auf ihre Explosion wartete. Der offene Befehl ließ sie innerlich brennen. Aber sie war nicht bereit, ihm die Genugtuung eines Kontrollverlustes zu geben. Wenn Kostya nach wie vor so zornig auf sie war, warum hatte er Caz dann nichts von ihrem angeblichen Verrat gesagt? Es schien fast, als fühlte er sich schuldig deswegen. Wenn Kostya Kontrolle suchen wollte, indem er sich über sie stellte, dann hatte er sich geschnitten. Normalerweise war er zu klug, um das auch nur zu versuchen.
Vielleicht wäre es dumm, ihn an die Szene in der Heulenden Höhle zu erinnern. Aber sie wusste, eine weitere Provokation und ihre Zurückhaltung würde verschwinden. Sie hatte keine Lust, sich mit den neugierigen Rebellen herumzuschlagen, die in der Hauptader unterwegs waren und bereits in ihre Richtung blickten.
»Warum weiß Caz nichts von Milos?«
Kostyas Haltung änderte sich sofort. Seine Schultern zuckten vor, als wollte er sich selbst schützen, und er zog sich weiter gegen die Wand zurück. Scheinbar unbewusst ließ er den Blick umherirren, bis er die Stirn runzelte und abwehrend mit dem Kopf ruckte.
»Caz hat genug zu tun, als dass er sich noch mit deinen Dummheiten herumschlagen könnte.«
»Das klingt aber ganz anders als das ‚Du bringst die Rebellen in Gefahr!' von vorgestern.«
»Caz macht seine Armee mobil, mehr kann er auch nicht tun!«
Vìn schnaubte. Für sie klang das wie eine Ausrede, aber wenn das hieß, dass sie bei den Rebellen sicher blieb, würde sie sich nicht beschweren. Mit Kostyas Wut konnte sie klarkommen.
»Meinetwegen, dann lass' uns loslegen.«
Sie drehte sich auf den Hacken herum und schlug den Weg zu ihrer Trainingshöhle ein. Kostya hatte keine Wahl, als ihr zu folgen. Doch mit einem Mal wurde sie an der Schulter zurückgerissen. Vìn wirbelte mit erhobenen Händen herum. Kostya hatte sie an ihrer Tunika gepackt und zog sie zu sich. Wütend riss sie sich los. Er wollte einen Kampf? Er konnte hier und jetzt einen bekommen. Doch noch bevor sie nach einer Waffen greifen konnte, drängte er sie mit seinem gesamten Körper gegen die Wand. Instinktiv legte sie ihm die Hände auf die Brust, versuchte, ihn wegzustoßen, doch er packte beide Handgelenke und presste sie gegen den Stein über ihrem Kopf. Seine Finger umgriffen sie wie Fesseln und ihr Monster drehte durch, ließ sie das Knie heben, um es ihm in den Bauch zu rammen – da griff er blitzschnell mit seiner freien Linken nach unten und zog einen ihrer Dolche. Er presste ihr die Klinge an die Kehle und ihr Atem stockte. Dann hob sie ihren zornfunkelnden Blick zu seinen Augen.
Wie konnte er es wagen, sie mit ihrem Messer zu bedrohen?
Sein Gesicht war so dicht vor ihrem, dass sie seinen Atem spüren konnte. Sie musste den Kopf in den Nacken legen, um ihm in die Augen sehen zu können, und entblößte damit noch mehr von ihrer Kehle. Doch sie hatte keine Angst. Nicht, wenn Kostyas Atem bereits ruhiger zu werden schien und er seine Lippen zu einem Halblächeln verzog.
»Dreizehn zu eins.«
Sie zog eine Braue hoch. »Morddrohungen kann ich auf jeden Fall besser als du. Das hier ist keine.«
Mit einem Funkeln im Blick verschob er die Klinge an ihrem Hals, doch sie verdrehte nur die Augen.
»Nimm' das Messer herunter oder ich gebe dir vierzehn zu null.«
Sie hatte die Wahrheit gesagt. Sie war besser im Drohen, im Hassen, im Töten als er. Und doch hatte sie es nicht geschafft, Rache an dem Mann zu üben, der Schuld am Tod ihrer Geschwister war. Weil sie beide, Vìn und Kostya, das Feuer zwischen ihnen brauchten wie die Luft zum Atmen. Er würde keine Hand an sie legen.
Ohne eine Spur des Nachgebens hielt sie seinen Blick. Bis die Muskeln in seinem Kiefer arbeiteten, bis sie seine Nasenflügel flattern sehen konnte, als er einen tiefen Atemzug nahm. Er senkte seine Hand mit dem Dolch und schob ihn langsam in ihren Gürtel zurück. Keiner von ihnen unterbrach den Blickkontakt. Ihre Hände hielt er einen Moment länger fest, verstärkte seinen Druck darauf für einen Wimpernschlag.
Sie schob herausfordernd das Kinn vor, und in dem Moment trat Kostya von ihr weg. Jede seiner Bewegung war jetzt bewusst gesetzt, er hatte die Kontrolle zurück. Diesmal war er es, der zur Trainingshöhle vorausging. Während der gesamten Einheit blieb er kühl und distanziert, als würde er seine Flammen bewusst ersticken. Beinahe war sie enttäuscht.
➵
Es dauerte drei Tage, bis Kostya Vìn wieder offen in die Augen blicken konnte. Sie hatten gerade ihre Trainingseinheit beendet und Vìn war in der Höhle zurückgeblieben, um ihre Waffen zu schleifen. Vom Kreischen des Wetzsteins stellten sich ihre Nackenhaare auf. Kostya tigerte am Eingang des Gewölbes auf und ab. Sie hielt ihren Blick auf Dorn gerichtet. Kostya hatte sie kaum aus den Augen gelassen, seitdem sie Milos hatte gehen lassen. Sie wusste nicht, was er fürchtete. Es war ihr nicht möglich, mit ihren Geschwistern in Kontakt zu treten.
Endlich hielten Kostyas Schritte inne. »Ich habe gleich ein Treffen mit Caz. Vielleicht solltest du mitkommen.«
Ihre Finger schlossen sich fester um den Stein. Das schrille Geräusch erfüllte die gesamte Höhle. »Warum?«
Kostya antwortete nicht. Vìn fuhr mit dem Daumen über Dorns Klinge und griff nach ihrem Dolch. Aus dem Augenwinkel sah sie Kostya zusammenzucken, als sie den Wetzstein erneut ansetzte. Sie zog eine Braue in seine Richtung und er verschränkte die Arme.
»Du kennst die Geheimwege in Zaarlos am besten. Caz plant einen Angriff.«
Der Stein polterte zu Boden. Vìn sprang auf und strauchelte von der plötzlichen Bewegung. »Er will die Soldaten angreifen?«
Kostya schnaubte. »Genau. Und er braucht Fluchtwege, damit-«
»Endlich.« Vìn atmete tief durch. Ihre Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln. So lang hatte sie auf die Nachricht gewartet, auf ein Zeichen der Rebellen, einen Hoffnungsschimmer, dass das Leiden ihrer Familie bald vorbei sein würde. Wenn Caz seine Armee nach Zaarlos schickte, waren die Tage der Soldaten gezählt.
Kostyas Blick verdunkelte sich. Seine Augen waren auf Vìns Hände gerichtet. Erst jetzt realisierte sie, dass sie Dorn und ihren Dolch umklammerte. Rasch ließ sie die Waffen in ihrem Gürtel verschwinden.
»Ich habe es mir gedacht, dass du von der Nachricht begeistert bist.«
»Du nicht?«
»Nicht, wenn die Rebellen den Soldaten eindeutig unterlegen sind. Aber Caz will das nicht einsehen.«
Vìn verdrehte nur die Augen. Caz kannte seine Kämpfer besser als jeder andere. Wenn er der Meinung war, dass sie Zaarlos einnehmen konnten, dann würden sie siegen. Die Soldaten waren Eindringlinge auf den Eisinseln. Ihre Körper waren für Stürme und Schnee nicht gemacht. Nach dem Winter würden sie geschwächt sein – es gab keinen besseren Zeitpunkt, um sie anzugreifen.
Kostya schluckte und sah aus, als würde er noch etwas hinterherschieben wollen. Doch er schüttelte nur den Kopf und drehte sich um. Vìn folgte ihm durch die Gänge, nun mit viel mehr Energie in den Schritten. Sie fühlte sich, als könnte sie hier und jetzt gegen alle Legionen des Lagers antreten. Ein Bild von Elèn blitzte in ihren Gedanken auf. Ihre Schwester musste nicht mehr lang durchhalten. Vìn würde ihr Versprechen halten.
Der Raum, in den Kostya sie führte, war ganz ähnlich wie das Gewölbe, in dem Conner die Neulinge empfing. Ein massiver Tisch nahm beinahe den gesamten Platz ein. An den Wänden waren Pergamente befestigt und über jeden freien Fleck zogen sich Kohlezeichnungen. Caz saß bereits auf einem hochlehnigen Stuhl, ein Südspäher zu seiner Linken. Der Mann stand auf, sobald Vìn und Kostya im Türrahmen erschienen. In seinen Augen funkelte ein Lächeln, aber sein Mund verschwand fast in einem roten Bart. Vìn erkannte ihn – er war Kostyas Legionär. Merakk. Merakk bot Kostya den Stuhl neben Caz an und ließ sich dicht bei seinem Anführer nieder. Für Vìn blieb nur der Stuhl am Ende des Tisches. Sie stützte sich auf der Lehne ab und machte keine Anstalten, sich zu setzen. Den Blick hielt sie auf die Karte gesenkt, die in der Mitte der Tischplatte ausgebreitet lag. Sie zeigte Zaarlos – Berge und Wälder, und am unteren Ende der einsame schwarze Punkt, der das Lager kennzeichnete. Vìns Finger zuckten. Der Saum des Westwaldes war falsch aufgezeichnet. Die Bäume reichten bis an das Lager heran und schreckten nicht davor zurück, wie es die Karte zeigte. Sie konnte die Augen erst abwenden, als die Tür sich erneut öffnete. Kostya erhob sich halb und Vìn wirbelte herum.
Es war Varnir, der im Eingang erstarrte. Seine Hand krampfte sich um den Griff seines Schwertes. Vìn tastete nach ihren Dolchen. Doch Varnir verengte nur die Augen und strebte den Platz zu Caz' Rechten an.
»Oona ist verhindert.« Seine Stimme war kalt wie Eis. Vìn spürte die Seitenblicke von Kostya, doch sie konnte ihren Blick nicht von Varnir lösen. Seine linke Gesichtshälfte war kaum wiederzuerkennen. Sein Auge war so stark geschwollen, dass seine Iris kaum zu sehen war.
»Was?«, blaffte er sie an, »Zu fein, um dich zu setzen?«
Sie schenkte ihm ein süffisantes Lächeln. »Mache ich dich nervös?«
Varnir knurrte und Caz räusperte sich.
»Danke, dass du hier bist, Vìn. Wir brauchen alle Informationen zum Zaarlos-Lager, die wir bekommen können.«
Er schob ein weiteres Pergament über den Tisch. Vìn erkannte sofort die Schlafbaracken, in die jemand Symbole geschrieben hatte. Die Zeichnung schien frisch zu sein, die Linien waren klar und scharf. Vielleicht Kostyas Werk. Der Westwald war nur eine schraffierte graue Fläche.
»Wir werden nur kleine Zahlen über die verborgenen Pfade einschleusen können«, gab sie zu bedenken, »Aber vielleicht reicht das als Ablenkung, damit der Rest über die Süd- und die Minenstraße eindringen kann.«
Varnir lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Überlasse das Planen uns. Du bist nur für die Informationen hier.«
Vìn ignorierte ihn und griff nach einem Kohlestift auf dem Tisch. Es schien simpel genug zu sein, damit zu zeichnen. Vorsichtig setzte sie die Spitze auf das Pergament.
Kostya griff um Merakk herum und legte die Finger auf ihr Handgelenk.
»Sírnir hat zu viele Männer. Sobald sich eine Unruhe bemerkbar macht, werden Späher an die Straßen geschickt. Wir kommen nicht heimlich ins Lager herein und sind zu wenige für einen Frontalangriff.«
Caz' Kiefer mahlte, aber er nickte langsam. »Was ist mit deinen Legionären? Hundert Kämpfer im Inneren müssen uns einen Vorteil verschaffen können.«
»Sírnir nimmt sie eher als Geiseln als zuzulassen, dass sie für ihn zur Gefahr werden.«
Vìn spürte, wie Merakk sich neben ihr versteifte. »Das kann er nicht, oder?« Der Rotschopf drehte seinen Oberkörper Kostya zu. »Nicht so geschwächt, wie er ist.«
Kostya hielt seine Hände unter dem Tisch versteckt, aber Vìn ahnte, dass er sie zu Fäusten ballte. »Sein Körper hatte seit Bardons Verschwinden ausreichend Zeit, sich von dem Gift zu erholen. Niemand sonst kann den Trank zubereiten. Wir müssen davon ausgehen, dass er auf dem Höhepunkt seiner Kraft ist.«
Vìn fehlten Informationen, um zu dem Gespräch etwas beizutragen. Sie wandte sich wieder ihrer Skizze zu und überließ den Männern die Diskussion. Das Pergament fühlte sich rau an unter ihren Fingern und der Stift erzeugte ein Kratzen. Doch Vìn sah kein schwarz auf braun, als sie die Kurven der Waldpfade nachzeichnete. Vor ihrem inneren Auge wogten Baumwipfel im Wind und Sträucher zitterten, wenn Getier hindurchhuschte. Kinderlachen mischte sich unter Vogelgezwitscher und Flussrauschen.
Bis Caz' Stimme sie in die Realität zurückholte.
»Unsere Bemühungen sind vergeblich, wenn mein Vater an Macht gewinnt. Mit der Sonne des Südens wäre er unbesiegbar.«
Vìns Rücken streckte sich durch und ihre Hände ballten sich zu Fäusten. Der Kohlestift rollte über den Tisch. Sie kannte den Begriff nicht, den Caz verwendet hatte. Aber ihrem Monster tropfte Geifer von den Lefzen.
Hach ja, so langsam wird es interessant. Was meint ihr, was könnte es mit dieser Sonne des Südens auf sich haben?
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro