Kapitel 3
»Ich kann nicht glauben, dass das funktioniert hat.«
Vìn saß auf der Dachkante der kaum mannshohen Schlafbaracke und balancierte den Dolch auf einem Finger aus, dessen Klinge nach einer viel zu langen Zeit jetzt endlich austariert war. Arik, der erst vierzehn und damit fünf Jahre jünger war als sie, starrte mit weit aufgerissenen Augen zu ihr hoch, ein begeistertes Funkeln in den Tiefen seines dunklen Blicks. Der Junge war bereits jetzt hochgewachsen und hübsch mit seiner hellbraunen Haut und den glänzend schwarzen Haaren, man hätte ihm leicht abgekauft, dass er von höherer Geburt war, wenn seine Beinkleider nicht zerlöchert und seine Tunika kein formloser Überwurf wären. Seine Züge waren scharf und gut definiert, was ihm neben seinem wohlüberlegten Verhalten einen Platz als Leibdiener der Offiziere gesichert hatte. Wenigstens so lang, wie er noch nicht bezahlt werden musste.
Milos, der dicht neben ihr saß und ihr mit seinem großrahmigen Körper etwas Schutz vor dem pfeifenden Wind bot, legte ihr einen Arm über die Schulter. »Ich bin nicht überrascht. Wenn du dir etwas in den Kopf gesetzt hast, schaffst du das auch.«
Sie schenkte ihm ein sachtes Lächeln, bevor ihre Augen sich wieder verengten und sie Arik streng musterte. »Hast du nichts zu tun? Aròe übernimmt deine Schicht nicht, damit du hier Däumchen drehst.«
Ariks Zwilling tat heute sein Bestes, an zwei Orten gleichzeitig zu sein und die Arbeit seines Bruders zusätzlich zu seiner eigenen zu erledigen. Vìn hatte Arik gebeten, ihr den Rücken freizuhalten, damit sie vertraut mit ihren neuen Dolchen werden konnte, dabei aber nicht mit der jugendlichen Neugier des Bastards gerechnet.
»Geh' und schick die Adler zur Jagd. Einen Falken kannst du auch loslassen, den kräftigen grauen.«
»Schon unterwegs.« Arik salutierte mit einem spöttischen Grinsen, bevor er eiligen Schrittes verschwand. Milos lachte leise und drehte den Hals, um seine Gestalt auf der anderen Seite des Daches nicht aus den Augen zu verlieren.
»Gehorcht auf's Wort. Den haben wir gut erzogen.«
Vìn zögerte nicht, ihm einen ebenso verärgerten Blick zu schenken wie dem Jungen zuvor. »Du, mein Lieber, kannst Ikka in der Mine helfen. Das stand heute auch auf meinem Tagesplan. Und sieh zu, dass sich strikt an die Anweisungen gehalten wird, wir müssen wieder Skefli reinbekommen. Keine Risiken.«
Die schwere Arbeit im Bergbau war für ihre Verhältnisse recht ergiebig, doch bisher hatte niemand sie über einen langen Zeitraum durchgehalten. Elèn war dort unten völlig durchgedreht und in Panik ausgebrochen. Von Dunkelheit und Felsmassen umgeben eimerweise Erzklumpen an die Erdoberfläche zu schleppen, war keine leichte Aufgabe. Nur Ikka, ungefähr im selben Alter wie die Zwillinge, aber wesentlich sturköpfiger und hitziger, schien sich mit den Minen abfinden zu können.
Milos sah so aus, als wollte er etwas entgegnen, doch dann lächelte er nur und sprang geschickt vom Dach herunter. Vìn wog ihre Dolche kurz in den Händen und spielte mit dem Gedanken, Wurfübungen auf die Holzwand vor ihr durchzuführen, aber der Kampf würde bereits mit der heutigen Dämmerung beginnen. Ihre bemitleidenswerten Zielkünste konnte sie bis dahin nicht aufpoliert haben. Seitdem sie das erste Messer fertiggestellt hatte, hatte sie es nicht mehr aus ihrer schwächeren rechten Hand gelegt. Es war denkbar ungünstig, dass sie die zweite Waffe erst jetzt ausbalanciert bekommen hatte, aber es war nicht einfach gewesen, das Heft aus Duygu-Horn mit der Knochenklinge zu verbinden.
Es blieb ihr nicht viel Zeit, um sich an die Dolche zu gewöhnen. Vìn hatte schon immer gern mit Messern gekämpft, sie mochte kurze Klingen, die sich beinahe wie Klauen anfühlten. Doch das, was ihren Bastarden zur Verfügung stand, waren Küchenmesser gewesen, nicht stark genug, um Lederkleidung zu durchbohren. Sie hatten mehrere Male versucht, damit zu den Kämpfen zugelassen zu werden, waren aber jedes Mal gescheitert. Die Offiziere wussten sehr wohl, dass die Bastarde kämpfen konnten. Es kam immer wieder vor, dass ein betrunkener oder verzweifelter Soldat leichte Beute witterte und einen von ihnen angriff, um ihnen auch noch das zu nehmen, was sie am Körper trugen. Doch allesamt bissen sie sich die Zähne aus an den mageren, wendigen Gestalten der Bastarde. Die jüngeren von ihnen waren immer in Begleitung unterwegs, um auch sie vor einem Überfall zu schützen.
Oder wenigstens versuchten sie es, die Kleinen nicht aus den Augen zu lassen.
Als Vìns Blick von ihrem erhöhten Standpunkt aus auf eine halbhohe Gestalt fiel, die kaum sichtbar durch die Schatten der Baracken huschte, kämpften in ihr Amüsement und Resignation um die Vorherrschaft. Sie schob ihre Dolche in ihren Gürtel, der nicht mehr als eine Lederschnur war, und sprang eilig auf die Füße. Ihre dünnen Lederschlappen machten auf den hölzernen Dielen beinahe keinen Laut, als sie über das Dach huschte. Sie hatte den Schatten, der zu klein gewesen war, um ein Soldat zu sein, aus den Augen verloren, aber sie wusste, dass er sich irgendwo unter ihr gegen die Wand drückte. Nach kurzem Zögern sprang sie eine Armlänge von der Stirnseite der Hütte entfernt nach unten, in den schmalen Spalt zur nächsten Schlafbaracke. Eine rasche Bewegung im Halbdunkel ließ sie nach vorn schießen, einen schmalen Körper gegen die Wand drückend, bevor er sich für Flucht oder Angriff entscheiden konnte.
»Und deshalb«, zischte sie, den Arm so fest an den Brustkorb des Jungen gepresst, dass sie seinen rasenden Herzschlag spüren konnte, »sollst du auf das hören, was Elèn dir sagt.«
Leiv – wer auch sonst? – stieß ein Wimmern aus. »Vìn!« Er schaffte es, zugleich erleichtert und entrüstet zu klingen. »Ich dachte schon, das wäre jemand Gefährliches.«
Sie zog die Augenbrauen hoch und verschränkte die Arme.
»Eigentlich habe ich nur das gemacht, was Elèn gesagt hat«, plapperte er weiter, sicher mit einem unschuldigen Blick, den sie zu seinem Pech in diesem Zwielicht nicht erkennen konnte. »Sie meinte nämlich, wir müssen dir heute alle helfen, für den Kampf, und deswegen habe ich die Offiziere ausspioniert.«
»So. Hast du das.«
»Ja! Der Alte Zemak hat Ravell gesagt, dass Colonel Kostya zu Putnam gesagt hat, dass er den Ostpavillon übernehmen muss, weil Wyck für den Westeingang eingeteilt ist.«
Vìn drehte sich weg von dem kleinen Energiebündel, damit er ihr Schmunzeln nicht sah, und zwängte sich aus dem Spalt heraus. Zwei Soldaten, die an der offenen Tür der Waffenhütte standen, warfen ihr einen misstrauischen Blick zu, aber sie ignorierte die Männer und verließ das Lager auf der Ostseite. Das Tageslicht war grau und düster, reichte aber aus, um der Haut des Jungen, der ihr auf dem Fuß folgte, einen goldenen Schimmer zu verleihen. Leiv war schon immer ein gesundes Kind gewesen, kräftig und mit glänzendem goldblondem Haar. Als sie seine funkensprühenden Augen wahrnahm, schnurrte das Monster in ihrem Inneren und fühlte sich plötzlich wie ein stolzes Muttertier an.
Um ihren Lebenswillen zu erhalten, hatten sie keine andere Wahl, als sich Dinge zu suchen, aus denen sie Freude schöpfen konnten. Vìn ließ sich gern von mordlustigen Vögeln die Haare zerzausen. Und Leiv fand diebischen Spaß daran, Dinge zu wissen, die er nicht wissen sollte.
Sie würde es ihm nicht verraten, doch seine Informationen halfen ihr tatsächlich. Als die Dämmerung einsetzte und sich die Soldaten bei den kontrollierenden Offizieren einreihten, trat sie vorsichtig zu der Menschenmenge auf der Westseite des Lagers. Der Mann vor ihr rümpfte die Nase und schenkte ihr einen verächtlichen Blick, ein anderer spuckte ihr vor die Füße. »Verschwinde zurück in das Loch, aus dem du gekrochen bist«, fauchte er sie an.
Es war nicht einfach, die Beleidigungen zu ignorieren. Auf Zaarlos galt die Hackordnung nicht, die den Rest von Castrhys beherrschte – wer auf dem Festland in Reichtum geschwommen war, konnte hier ebenso gut dazu verdammt werden, die Hüttenböden zu schrubben. Wer seinen Ärger an Kameraden ausließ, bekam zehnfachen Tribut zurückgezahlt. Wer aber die Bastarde schlug und beschimpfte, um einen Funken längst vergangener Macht zu spüren, dem wurden die Schultern geklopft und ein Becher Met ausgegeben. Vìn schloss ihre Wut tief in sich ein, legte dem Feuer in ihrem Inneren immer weitere Scheite auf. Nicht mehr lang, und sie durfte brennen. Der Kampfplatz war der einzige Ort, an dem die Unverletzlichkeit der Soldaten aufgehoben war. Sie würde nicht zögern, das auszunutzen.
Langsam rückten die Soldaten nach vorn, hinein in den Pavillon, der mit Bänken und Tischen beinahe ausgefüllt war. Im freigelassenen Mittelgang stand breitbeinig Wyck, den Weg zum Ausgang versperrend.
Vìns Monster knurrte und spannte die Hinterläufe an, bereit zum Sprung. Seine Klauen waren ausgefahren und seine Zähne gebleckt – sie waren bereit, Rache zu üben. Sie presste ihren Kiefer zusammen und starrte stumm geradeaus, wo Wyck die Soldaten einzeln abklopfte und die Anzahl ihrer Waffen notierte. Der Offizier hatte eine breite Nase und sanft geschwungene Lippen – wären der dichte Bart und die Krähenfüße an seinen Augenwinkeln nicht, hätte er ein Spiegelbild Milos' sein können.
Nur der Ausdruck in seinem Blick, den er über ihre heruntergekommene Gestalt wandern ließ, war ein gänzlich anderer. Wycks buschige Brauen zogen sich zusammen. »Du gehörst nicht hierher.«
Das Ungeheuer sperrte sein Maul auf. Es war das einzige Wesen, was wirklich hierhergehörte.
»Ich habe Dolche.« Sie drückte ihm eines der Messer in die Hand und konnte eine Spur Angst in ihrem Herzen nicht unterdrücken. Es war nicht fair. Ihr Schicksal sollte nicht von einem Mann abhängen, der nicht einmal ihren Namen kannte.
»Woher hast du diese Waffen?«
»Von meinen bloßen Händen und meinem Schweiß und meinem Blut.«
Wyck nahm seine dunklen Augen nicht für einen Wimpernschlag von ihr, als er ihr den Dolch langsam und sichtlich widerwillig zurückgab. Er hatte keine Ahnung, wie das Horn eines Duygus aussah, und dass Vìn eigentlich dazu verpflichtet war, Knochenfunde an Ravell abzutreten.
»Siehst du den Platz dort drüben, Mädchen?« Unwirsch nickte der Offizier nach rechts, dorthin, wo sich bereits Zuschauer um die Freifläche zwischen den Pavillons drängten.
»Ich bin nicht blind«, schnappte sie zurück, bevor sie über die Worte nachdenken konnte, und sie hatte nicht einmal die Zeit, zusammenzuzucken, als ein scharfer Schmerz auf ihrer Wange entbrach. Sie fuhr zusammen und biss sich auf die Zunge, nährte sich von der brodelnden Wut in ihrem Inneren, die jedes Gefühl der Schwäche unterdrückte. Mit vorgerecktem Kinn funkelte sie Wyck an, der seine Hand sinken ließ. »Ich versuche, dir zu helfen, Mädchen. Das dort drüben ist der Platz, wo du sterben wirst, wenn du nicht in deinen Unterschlupf zurückfliehst.«
»Freut Euch nicht zu früh«, fauchte sie ihn an, für einen Moment verdrängend, was das für Konsequenzen haben konnte, »Wir Bastarde haben die Angewohnheit, Erwartungen zu untertreffen.«
Bevor er sie ein zweites Mal schlagen konnte, war sie an ihm vorbei und auf das Schlachtfeld gehuscht. Sie war eine Insel inmitten eines Ozeans aus Stahl und Leder – keiner der Soldaten richtete ein Wort an sie, aber die Männer mit ihren Schwertern und Brustplatten wurden unruhig in ihrer Nähe. Der Kampf begann für sie, noch bevor alle Söldner an Wyck und Putnam auf der fernen Seite vorbeigekommen waren – und ihre ersten Kriegszüge waren aufgerissene Augen und fahriges Auf- und Abtigern. An Stärke konnte sie es nicht mit den ausgebildeten Männern aufnehmen, aber wenn sie die Rolle eines verängstigten Mädchens überzeugend genug spielte, konnte sie sie vielleicht überraschen. Sie musste niemanden im Zweikampf besiegen, um das Turnier zu gewinnen, sie musste nur auf ihren Füßen bleiben. Überleben. Und dafür hatte sie länger trainiert als jeder einzelne dieser Soldaten.
Sie sah niemandem in die Augen, als die blauen und roten Tücher verteilt wurden, die sich jeder Kämpfer um den Oberarm binden musste. Vìn wählte ein Rotes aus – die Farbe von Feuer und Wut, und hoffentlich auch dem Blut, das sie vergießen würde. Die Regeln des Turniers waren einfach: zwei Farben, zwei Teams. Wer nicht mehr stehen konnte, schied aus. Die rechte Hand des Generals, die den Kampf von einem erhöhten Podest aus beobachten würde, entschied, wann eine Runde zu Ende war. Danach wurden die Farben erneut gleichmäßig zugewiesen, solang, bis es niemanden mehr gab, an den sie gegeben werden konnten.
Die Soldaten, die nicht kämpfen würden, drängten sich mit sensationssüchtigen Mienen an den Seiten der ersten Schlafbaracken, die die Begrenzung zum Kampfplatz bildeten. Die Männer schrien durcheinander und schlossen Wetten ab, aufgeputscht vom Sirren der Nervosität, das deutlich spürbar in der Luft hing. Sie verstummten erst, als eine Bewegung am anderen Ende des Platzes, wo die Bühne aufgebaut worden war, ihre Aufmerksamkeit weckte. Die Gestalt, die selbstbewusst die Stufen hinauftrat, tat nichts, um sich Gehör zu verschaffen. Doch das brauchte er nicht. Jeder einzelne Mensch auf dem Platz war ihm ergeben.
Jeder einzelne, abgesehen von Vìn. In ihr weckte er das tiefe, ursprüngliche, ungebärdige Verlangen, zu töten.
Das Kapitel ist nicht groß korrekturgelesen, ich stecke mitten in meinen Prüfungen... (Vielleicht war es auch nicht allzu klug, mein Buch mitten in der Prüfungsphase zu veröffentlichen, aber ich bin leider ungefähr so geduldig wie Vìn.) Also immer her mit Tipps!
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro