Kapitel 29
Vìns Denken setzte erst wieder ein, als ihre Klinge eine Handbreit vor einer Miene puren Schocks zum Stillstand kam.
Für einen Moment konnte sie nicht einordnen, wo sie sich befand und wer vor ihr japsend nach Worten rang. Dann stieß Kat erneut einen Schrei aus, und endlich trat Vìn einen Schritt zurück und ließ ihre Dolche sinken. Unter dem Gewicht ihres Körpers knickte ihr rechtes Bein weg. Sie fing sich gerade noch rechtzeitig ab, um Varnir auszuweichen, der einen letzten Schlag gegen ihren Rücken führte. Doch die Attacke war halbherzig, und ein rascher Blick bewies, dass das Feuer auch aus seinen Augen gewichen war. Schweiß stand auf der Stirn des Spähers, aber entweder war ihm das egal oder seine Armkraft reichte nicht mehr, um ihn wegzuwischen.
Vìn verstand Kats Entsetzen. Wenn sie auch nur halb so zerschlagen aussah wie Varnir, mit hohlen Wangen und blutunterlaufenen Augen und Rissen im Körper, die bis auf den Knochen gingen, musste ihr Anblick furchterregend sein. Doch der Rebell ignorierte sein Publikum, suchte nur Vìns Blick.
»Wir sehen uns in der Schlacht, Monster.« Er machte Anstalten, davonzuhinken, doch er kam nicht weit. Nach zwei Schritten sackte er gegen die Felswand, fing sich instinktiv mit dem verletzten Arm ab und fauchte vor Schmerz. Kat war sofort an seiner Seite und schlang einen Arm um seine Taille, um ihn aufrecht zu halten. Ihre Augen huschten zwischen Vìn und ihrem Gegner hin und her, doch die Rebellin brachte kein Wort hervor. Varnir schien zu erschöpft, um gegen die Hilfestellung zu protestieren, aber Kat zögerte dennoch. Vìns Kiefer verhärtete sich und sie schob ihre Schultern zurück. Mit stur geradeaus gerichtetem Blick nahm sie Kat die Entscheidung ab und marschierte an den beiden vorbei. Ihr Gang schwankte mehr, als sie gehofft hatte, und sie schaffte es nur in den unbeleuchteten Tunnel links von der Höhle, bevor sie sich an der Felswand abstützen musste.
Ihr Atem ging rau und raspelnd. Für einige Momente hörte sie nichts als ihr eigenes rauschendes Blut und die Luft, die sie in ihre Lungen sog. Doch mit einem wütenden Zurückrecken ihrer Schultern fing sie sich schließlich so weit, um auf Schritte lauschen zu können. Durch die dicken Steinwände drang das Waffenklirren aus dem Trainingsgewölbe zu ihr. Aber das wurde rasch überlagert vom leisen Auf und Ab von Kats Stimme, die wohl Varnir in diese Richtung führte. Vìn wusste, dass sie sich selbst ebenfalls wieder in Bewegung setzen musste, bevor jemand auf die Idee kam, sie zu suchen. Gleich würde sie – nur noch einen Moment die Augen schließen...
Vìns Finger strichen über den zackigen Felsen und ihr Körper fand seltsame Ruhe in der Kälte, die er gegen ihren Rücken aussandte. Er besänftigte den heißen Schmerz in ihrer Schulter, ihrer Hüfte – und an unzähligen anderen Stellen. Doch es reichte nicht aus, um das intensive Pochen zu unterdrücken. Vìn stöhnte leise auf, musste sich zwingen, den ersten Schritt zu tun. Und den zweiten und dritten.
Jedes Mal, wenn sie ihren rechten Fuß aufsetzte, fuhr eine Schmerzwelle ihr Bein hinauf. Ihre Hände glitten über die Felswand, suchten nach Halt, um sie immer wieder nach oben zu ziehen, wenn sie zusammensackte. Keine ihrer Wunden war tief genug, um ihr gefährlich zu werden, nicht, wenn sie sie in Kürze verband. Doch jetzt, wo das Adrenalin ihren Körper verlassen hatte, brauchte es ihren gesamten Trotz, um unter dem Schmerz nicht einzuknicken. Sie war nicht in der Verfassung, durch den Spalt, den Kester ihr gezeigt hatte, in die Hauptader zu klettern. Leise fluchend schleppte sie sich weiter den gewundenen Gang entlang, immer weiter, und trotz ihres langsamen Tempos mischte sich Schweiß unter ihr Blut. Immer wieder verschwamm ihre Sicht, eine Warnung, dass sie bald Ruhe brauchte. Als ihr Arm endlich über ein breites Loch im Gestein fuhr, hatte sie keine Wahl, als hindurchzutaumeln.
Der Raum, in dem sie sich wiederfand, war kaum mehr als eine Höhle, aber er war beleuchtet. Die Fackeln wiesen ihr den Weg in einen weiteren Gang, schmal und abfallend, der sie wegführte von den verbotenen Pfaden im Westen. Das Gefälle machte ihr ein Vorwärtskommen beinahe unmöglich. Als der Tunnel die Richtung änderte und plötzlich steil anstieg, war sie beinahe bereit, sich einfach auf den Boden fallen zu lassen. Ihr Monster war wieder erwacht und tat sein Bestes, sie vorwärts zu treiben, aber seine Bewegungen waren schwach und langsam. Irgendwie schaffte sie es bis zum Ausgang, doch sie konnte nicht innehalten, um das Gewölbe zu untersuchen. Sie wusste, wenn ihre Füße jetzt stoppten, würde sie kein Trotz der Welt wieder zum Laufen bringen. Zu ihrem Glück führte die Höhle in einen kurzen Flur, und den nächsten Raum konnte sie endlich einordnen. Sie musste unter den Hauptadern hindurchgewandert sein, denn sie befand sich ohne Zweifel auf der Ostseite des Unterschlupfes. Das hier war der Raum, in den Oona sie Monde zuvor gebracht hatte, in dem Caz sich ihr offenbart und in dem sie Conner kennengelernt hatte.
Mit hastigen Bewegungen zog Vìn einen der Holzstühle zu sich heran. Beinahe warf sie ihn zu Boden. Ein Stöhnen entwich ihr, als sie sich darauffallen ließ und ihren Oberkörper an den Tisch lehnte. Ein verschwommenes Bild von Pergamenten tauchte in ihrem Kopf auf, Karten, über denen die Rebellen gebrütet hatten, als sie das erste Mal einen Fuß in den Untergrund gesetzt hatte. Jetzt war der Raum wie ausgestorben.
Doch sie musste mehr Lärm gemacht haben, als sie geplant hatte. Ihre Reflexe waren träge, verlangsamt – eigentlich hätte das Knarren sie warnen sollen, bevor die Tür aufflog. Vìns Muskeln krampften sich zusammen, sie war bereits wieder halb aufgerichtet, bevor sie sich zurücksacken ließ.
»Was, bei Thulai-«
Es war Conner, der hereingelaufen kam und sie entsetzt anstarrte. Zu ihrem Glück konnte er seinen Schrei im letzten Moment herunterschlucken. Seine sowieso immer blasse Haut schien noch eine Spur weißer geworden zu sein. Für einen Herzschlag verbanden sich ihre Blicke und sie konnte pure Angst in seinen Augen lesen. Dann fuhr Conner herum, brüllte irgendetwas in den Gang hinaus. Einen Wimpernschlag später fiel er vor ihr auf die Knie und griff nach ihrer Tunika.
»Beweg' dich nicht.«
Unwirsch wehrte sie seine Finger ab – auch wenn er es gut meinte, versorgen konnte sie sich sehr wohl allein.
»Vìn, du musst mir jetzt zuhören.« In der Kühle seiner Stimme schwang Furcht mit. »Ich weiß nicht, was passiert ist, aber diese Wunden-«
»Ich aber schon, du Narr«, knurrte sie, und dann fiel ihr Blick auf die Stelle, die er versuchte, mit seinen Händen abzudecken. Direkt über ihrem Herzen hatte sich ihre Tunika scharlachrot gefärbt. »Das ist nicht mein Blut. Beruhige dich.«
»Das ist nicht wirklich beruhigend!«, rief er aus, rückte aber ein Stück von ihr ab. Nach mehreren knappen Atemzügen setzte er sich in den Stuhl neben ihrem, sie keinen Moment aus den Augen lassend. Ein Muskel an seinem Kiefer zuckte, aber zufrieden registrierte sie, dass er ihren persönlichen Raum achtete.
»Vìn, was ist bloß-« Conner unterbrach sich selbst, fuhr sich durch die Haare und setzte dann erneut an. »Hilfe ist unterwegs. Wir bringen alles in Ordnung, ja?«
Diesmal verdrehte sie wirklich die Augen. Solang sie sich nicht bewegte, gelang es ihr, die Gedanken beisammen zu halten. Dieses Getue trug nur dazu bei, ihr Monster wieder in Rage zu versetzen. »Ich brauche keine-«
Wieder flog die Tür auf. Diesmal benötigte sie keinen zweiten Blick, um die Gestalt zu erkennen, die mit brennendem Blick hindurchgestürzt kam. Seine Miene zeigte keine Angst, keine Überraschung – er war reiner Zorn.
Sie bemerkte erst, dass sie aufgesprungen war, als sie beinahe Nase an Nase mit ihm stand. Er musste seinen Kopf neigen, um ihren Blick aufzufangen. Einige rote Strähnen fielen ihm in die Stirn. Doch das war nicht der einzige Schatten, der seine Augen verschleierte.
»Wer?«, presste er aus seinem angespannten Kiefer hervor. Seine Stimme war grollend, bedrohlich, und sie hatte ihn noch nie so dicht an dem Abgrund gesehen, den sie so oft heruntersprang. »Wer hat dir das angetan?«
Ihr Atem passte sich seinem an, ging schwerer, als ihre Emotionen wieder aufwallten. »Ein Monster.«
Ein Ruck ging durch seinen Körper. Er fing sich nach kaum einem Herzschlag, doch seine Augen standen in Flammen. »Nenne mir einen Namen.«
Sie musterte ihn, die verkrampften Schultern, das deutliche Heben und Senken seines Brustkorbes. Dort, wo der hohe Kragen seiner schwarzen Tunika einen Spalt ließ, flatterte seine Halsschlagader viel zu schnell. »Einen Namen, Vìn.«
Augenblicklich zuckte sie zurück. Am Tisch hinter ihr suchte sie Halt, um nicht zu Boden zu sinken. Kostya registrierte ihre Unsicherheit mit einem scharfen Luftholen. Zum ersten Mal riss sie sich von seinem Anblick los und richtete ihren Fokus auf Conner, der in seinem Stuhl zusammengesunken war. Er öffnete den Mund, brachte aber keinen Ton hervor, den Kopf zwischen Vìn und Kostya hin und her wendend.
Sie ballte ihre Hände zu Fäusten und strich mit den Knöcheln über ihren Gürtel. Die Geste hatte sie sich in den letzten Wochen abgewöhnt, aber jetzt waren da endlich wieder die Dolche, die ihr stets Sicherheit gaben. Doch die Bewegung war nicht unbemerkt geblieben, und lohfarbene Augen fingen ihre wieder auf. Kostya wusste nur zu gut, wer ihre Messer verwahrt hatte.
»Varnir.«
Selbst sie hätte den Namen nicht mit mehr Hass hervorstoßen können. Kostya machte einen Schritt nach hinten, zur Tür, doch schien es nicht zu wagen, ihren Blickkontakt zu unterbrechen. Sie schob herausfordernd das Kinn vor.
»Wenn du glaubst, dass er auch nur einen Deut besser aussieht als ich, unterschätzt du mich gewaltig.«
Für einige Momente blieb er erstarrt stehen. Dann veränderte sich etwas in seiner Haltung, und in seinen Ton kehrte eine Spur seines Sarkasmus zurück. »Ich habe dich trainiert, ich unterschätze dich nicht.« Er spiegelte nun ihre Herausforderung, die unterschwellige Provokation, die ganz anders war als Varnirs offene Forderungen. »Und das wird auch in Zukunft wieder so sein. Wir nehmen unser Training erneut auf.«
Sie zog eine Augenbraue hoch. »Wenn du jetzt Luftsprünge erwartest, hast du dich geschnitten. Du bist immer noch ein größeres Arschloch als Varnir.«
»Es ist mir eine Ehre.«
Er neigte seinen Kopf zu einer vorgetäuschten Verbeugung, doch etwas fehlte in seiner Miene. Seine Wut war nicht verschwunden, und sie wusste, dass sie sich nicht gegen Varnir richtete, nicht wirklich. Sie hatte die Kontrolle aufgegeben, und da war nicht eine Spur von Bedauern in ihrem Körper. Auch wenn Kostya das aus irgendeinem Grund nicht zu bemerken schien, seine Wut richtete sich gegen sie.
Conner unterbrach sie, bevor sie sich für Angriff oder Verteidigung entscheiden konnte. »Verzeihung, Colonel. Sie braucht dringend medizinische Versorgung.«
Als ihr wütender Blick ihn traf, zuckte er nicht zurück, das musste sie ihm lassen. Die Miene des Rebellen war ruhig, doch darin lag auch eine Dringlichkeit, die er wohl nicht mehr unterdrücken konnte. »Du musst ins Lazarett, Vìn.«
Ihr war klar, dass sie Verbandsmaterial und klares Wasser brauchte, doch ihr Leben in die Hände fremder Rebellen legen? Sie würde es eher erneut mit Varnir aufnehmen. »Ich gehe nirgendwo hin.«
»Richtig.« Kostya trat wieder dicht an sie heran, schob sich zwischen sie und Conner. »Du kannst kaum stehen, Wölfchen.« In einer raschen Bewegung hatte er sie auf seine Arme genommen, die linke Hand unter ihren Knien, die andere fest um ihren Oberarm geschlossen. Sie hatte keine Chance, an ihre Dolche heranzukommen. Sie riss die Augen auf, wand sich, und fokussierte sich dann auf seine Kehle, die ihren Zähnen verlockend nahe war.
»Lass mich sofort runter!«
Er verdrehte die Augen und setzte sich in Bewegung, nachlässig die Tür auftretend. Ihre Muskeln spannten sich ins Unermessliche an, und ihr Monster hatte sich endlich wieder soweit erholt, um in Angriffsstellung zu gehen.
»Kostya. Lass mich los.«
Entweder hatte er die Knappheit in ihrem Ton richtig gedeutet oder er hatte Angst um seine Halsschlagader. Nach einem Seufzer, den sie in seinem Brustkorb spürte, ließ er sie zu Boden. Sein Arm wand sich sofort um ihre Taille, doch sie konnte immerhin wieder frei atmen.
»Wölfchen, du hast dir die Hüfte ausgekugelt. Damit kommst du nicht weit.«
Ein Blick zeigte ihr, dass das das Näheste an einer Entschuldigung war, das sie bekommen würde.
»Weit genug.« Sie tat einige vorsichtige Schritte, langsamer, als Kostya gegangen war, aber das würde sie in Kauf nehmen. Er versuchte, sie unauffällig zu stützen, doch sie war nicht so dumm, dagegen zu protestieren. Im Lazarett konnte sie die Materialien bekommen, die sie brauchte, doch dann würde sie so schnell wie möglich die Flucht ergreifen.
Aber als Kostya schließlich eine Holztür für sie aufhielt, fand sie sich in einer verlassenen Kammer wieder, mit einer gepolsterten Pritsche und einem Regal für Salben.
»Das Notlager für die Anführer«, erklärte Kostya knapp, während er bereits die vielen Fläschchen durchging, »Hier kannst du eine Weile bleiben. Nur Caz und sein engster Kreis haben hierzu Zugang.«
Als sie sich nicht bewegte, warf er ihr einen spöttischen Blick zu. »Ich habe dir gesagt, ich unterschätze dich nicht. Und ich traue dir definitiv nicht zu, die Mediziner unversehrt zu lassen.« Widerwillig verschränkte sie die Arme, absolut nicht erfreut von dem Funken an Zufriedenheit, der in ihr aufblitzte. Kostya warf ihr eine Salbe zu, die nach Blutwurz roch, und belud sich selbst mit Verbandsmaterial. »Außerdem muss ich dir beweisen, dass ich hierin ebenfalls besser geworden bin als du.«
Sie musterte ihn und versuchte, nicht an den Moment in der Grotte zu denken, in dem Wasser auf seine Muskeln getropft war. Jetzt war er voll bekleidet in der Ausrüstung eines Rebellen und seine Haltung war entspannt. Vor ihren Augen spielte sich eine andere Situation ab. An diesem Tag auf ihrer Reise, der ihr nun unendlich weit weg schien, war er völlig wehrlos gewesen, aber er hatte sein Leben in ihre bewaffneten Hände gelegt. Ihre Finger schlossen sich kurz um ihre Dolche, bevor sie sich auf der Liege niederließ.
»Das werden wir ja sehen.«
Er schenkte ihr ein ehrliches Lächeln, als er vor ihr niederkniete.
Das ist definitiv eines meiner Lieblings-Vìstya-Kapitel... Und das lang ersehnte "Who did this to you?!" (Wenn irgendwer dazu eine schönere Übersetzung kennt, dann immer her damit!)
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