Kapitel 26
»Hätt' ich dem alten Muffel nicht zugetraut. Ist schon erstaunlich.«
Wasser tropfte in der Dunkelheit. Der Fels unter Vìns Stiefeln war schlüpfrig, aber ihre Füße fanden in den Lederstiefeln zuverlässig Halt.
»Ich meine, ich war eine halbe Ewigkeit nicht draußen. Oder eher, eine dreiviertel. Nachtragend ist sein zweiter Vorname.«
Ein Windstoß blies die Fackel aus, die sich mit einem morschen Holzgestell verzweifelt an die Steinwand klammerte. Selbst der Schatten des Konstrukts wirkte brüchig.
»Immerhin habe ich im Süden ab und zu bei der Getreideernte helfen dürfen. Das macht zwar keinen Sinn, weil ich deswegen nicht Späher geworden bin, aber was soll's, ich nehme, was ich kriegen kann.«
Sie trauerte nicht um die erloschene Fackel. Ihr unruhiges Flackern wurde von einem silbrigen Schein abgelöst, der mit jedem Schritt heller wurde.
»Ich weiß' schon, es ist entwürdigend, aber-«
Mit funkelnden Augen fuhr Vìn zu Lertis herum. »Wenn du jetzt nicht die Klappe hältst, stopfe ich sie dir.«
Auf Lertis' koboldgleichem Gesicht erschien ein Grinsen, als hätte er nur auf diese Reaktion gewartet. Die Augen des Rebellen blitzten im Tageslicht auf, das seinen Zügen einen unwirklichen Schein gab. Vìn wandte sich abrupt von dem Lockenkopf ab und holte tief Atem. Die ersten Späher hatten den Tunnel bereits verlassen, und sie drängte sich unwillkürlich dichter an Kat heran, die vor ihr viel zu langsam lief. Der kühle Wind schlug eine Saite in ihr an, die sonst nur ihr Monster mit Hingabe spielte. Es hatte sich zu oft eingerollt in letzter Zeit, seine Kraft war verkümmert und sein Feuer zu schwelender Glut herabgebrannt. Doch als die Welt plötzlich größer wurde, hob es den Kopf. Vìn sog die Luft wie eine Ertrinkende ein. Der Himmel spannte sich grau und tröstlich über ihr, und unterhalb der zerklüfteten Felsen wartete die schneebedeckte Weite auf sie. Es war nicht Zaarlos, aber doch das, was am nächsten an ihre Heimat herankam. Ihr Monster hatte endlich wieder Platz, seine Muskeln zu strecken und die Nase in den Wind zu halten.
Vìn lächelte. Sie legte den Kopf in den Nacken, ließ sich von der Brise die Haare zerzausen und das Herz wärmen. Hier gehörte sie hin, an den Gipfel der Welt. Das war ihr Thron.
»Hui, ist das kalt. Ich werde gleich zum Eiszapfen.«
Lertis. Wer auch sonst? Niemand reagierte auf seinen Kommentar, auch die anderen Rebellen hatten für einen Moment ergriffen innegehalten. Varnir hob die Hand als Zeichen zum Aufbruch und langsam eroberte das Murmeln der Späher wieder die Stille. Kat passte sich Vìns Schritten an, machte aber keine Anstalten, ein Gespräch zu beginnen. Es reichte, dass Lertis in ihrem Rücken pausenlos redete.
Das Marschieren durch den Schnee strengte Vìn mehr an, als sie erwartet hatte. Die Monde im Fels verlangten nun nach ihrem Tribut. Doch das Monster, so wach und fröhlich wie lang nicht mehr, machte es ihr einfach, das Ziehen in ihren Muskeln zu ignorieren. Es war so hell hier, so weit und klar... und auch wenn sonst niemand hier ihre Emotionen verstehen konnte, auch die Stimmung der Rebellen war aufgeweckter geworden. Als Vìn nun doch Kats Blick auffing, leuchteten deren eisblaue Augen. Die Späher waren euphorisch, gemeinsam zu marschieren, sich nicht länger zu verstecken, sondern etwas zu tun. Nach und nach schwappte das Gefühl auch auf Vìn über. Sie war irritiert, als der Mann zu ihrer Rechten ihr ein freudiges Grinsen zuwarf, und selbst Lertis verstummte. Sie erwiderte den Blick des Fremden offen, und nach einem Nicken beschleunigte er seine Schritte zum nächsten Rebellen. Mit dieser Gruppe hatte sie mondelang trainiert, doch erst jetzt fühlte es sich an, als könnten sie eine Einheit sein. Der Zug vibrierte förmlich in freudiger Erwartung, bereit, es mit jedem Feind aufzunehmen. Der König konnte kommen.
Dieser Gedanke holte Vìn schlagartig wieder in die Realität zurück. Es war nicht der König, gegen den sie zogen. Das hier war nichts als eine Patrouille, auf einem Weg, der sie nicht einmal bis zur Eisbrücke führen sollte. Für den König waren die Rebellen noch nicht bereit.
Die körperliche Anstrengung tat ihr gut. Wenn ihre Beine wanderten, konnten sich ihre Gedanken nicht in gefährliche Gebiete verirren. Und legte sich doch noch ein Schattenrest über sie, blies der Wind ihn einfach davon.
Irgendwann drängte sich Lertis zwischen sie und Kat, zwar mit einer frechen Grimasse, aber schweigend. Sein Atem ging raspelnd, doch gleichmäßig, als würde er sich nur darauf konzentrieren. Es war Kat, die das Gespräch begann.
»Jetzt bist du nicht mehr so vorlaut, was?« Für einige Wimpernschläge knirschten nur ihre Schritte im Schnee, den die Späher vor ihnen platttrampelten. »Das hier ist eben kein Spaziergang.«
Lertis ließ ein großspuriges Lächeln erscheinen. »Ach was. Die Anwesenheit von zwei so hübschen Damen beflügelt meine Schritte, und eure Zuneigung wärmt mir das Herz. Da spüre ich Anstrengung und Kälte doch gar nicht.«
Vìn zog eine Grimasse. Wenn der Späher fähig war, den Ausdruck »hübsche Dame« mit ihr in Verbindung zu bringen, hatte sie etwas gehörig falsch gemacht. Auf dieser Mission würde sie hoffentlich noch ausreichend Gelegenheit bekommen, das klarzustellen. Sie schenkte Lertis ihren schärfsten Blick und grinste zufrieden, als er prompt stolperte. Das reichte allerdings nicht aus, um ihn zu vertreiben. Als Varnir die Späher anhalten ließ und sie um sich versammelte, legte der Rothaarige einen Arm um Kats Schultern.
Sie hatten sich auf einem Hügel eingefunden, der nach Norden hin sanft abfiel und in einer Schneeebene auslief. Von diesem Punkt an bis zur Spitze von Ocrioll regierten gefährliche Eisplatten das Gebiet, die weder von Felsen noch von Lebensformen durchbrochen wurden. Der Horizont war eine blassblaue Linie, die vom Schnee flimmerte, und irgendwo dahinter lag die Brücke nach Zaarlos. Vìns Monster wurde unruhig, tigerte in ihrem Herzen umher, und hatte doch nur ein Ziel – geradewegs nach Norden. Doch Varnir durchkreuzte den Plan ihres Ungeheuers.
»Schwärmt zu dritt aus. Lauft, bis die Sonne im Zenit steht, und kehrt dann hierher zurück. Wer bei Sonnenuntergang nicht hier ist, wird zurückgelassen.« Bei diesen Worten wanderte sein Blick zu ihnen herüber, und Lertis schnaubte empört. Vìn hatte das Gefühl, dass nicht der Lockenkopf gemeint war.
»Trefft ihr auf Feinde, alarmiert einer von euch die nächste Gruppe. Wir stoßen von hier aus strahlenförmig vor – unweit von euch wird sich also Verstärkung finden, wenn ihr nach Osten oder Westen lauft.«
Während Varnir die Gruppenbewegungen erklärte, begannen einige Veteranen, ein provisorisches Lager aufzuschlagen. Die Südseite des Hügels war gut geschützt, dort, wo sich das Land noch in Wellen erhob. Doch alles in Vìn drängte nach vorn, in die Eiswüste, an deren Ende ihr Zuhause wartete. Widerwillig stand sie die Hinweise durch, die Varnir jedem Rebellen mit auf den Weg gab, und stemmte selbst noch die Füße in den Boden, als er Kat eine Richtung vorwies. Lertis fragte nicht nach, warum sie warteten, und sie hatte auch keine Lust, es ihm zu erklären.
Schließlich stand sie als Letzte vor Varnir, mit auffordernd ausgestreckter Hand. Der Schnee gab seinen Augen ein stahlgraues Schimmern, das sie zu durchleuchten schien. Schließlich händigte er ihr das Krummschwert aus, mit dem sie sich nun schon viel zu lang herumplagte. Ihre Finger schlossen sich fest um den geriffelten Griff. Als sie sich die Waffe an die Hüfte gürtete, schwankte sie endlich nicht mehr. Die gewölbte Klinge wollte sich nicht ihrem Arm anpassen, und ihre Bewegungen waren im Training meist unkoordiniert gewesen. Doch allein, weil Varnir ihr das Durchhaltevermögen nicht zutraute, hatte sie mit sich selbst gekämpft, bis sie jede Übung gemeistert hatte. Er hatte zum Glück nicht gesehen, wie sie sich im Frust selbst in den Oberschenkel geschnitten hatte.
Heute würde das letzte Mal sein, dass sie eine Übungswaffe von Varnir entgegennahm. Das Versprechen stand ihr ins Gesicht geschrieben, als sie sich von ihm abwandte und zu Kat aufschloss. Die Rebellin sah blass aus im natürlichen Licht und ihre Lippen hatte sie aufeinandergepresst. Doch wie üblicherweise ging sie sorgsam ihrer Pflicht nach, mit dem Kompass ihre Strecke genau bestimmend. Vìn gab sich vorerst zufrieden damit, ihr stumm hinterherzustapfen.
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Vìn hatte sich auf die Mission gefreut.
Ein Auftrag hieß, etwas zu tun zu haben, sich endlich in Bewegung zu setzen – jeder Schritt sollte sie näher an die Vernichtung des Königs heranbringen. Sie hätte ahnen müssen, dass Varnir für seine aufmüpfigsten Rekruten die sicherste Route überhaupt raussuchen würde. Abgesehen von Kat und Lertis wagte sich auf dem gesamten Marsch nach Norden keine Lebensform in ihr Sichtfeld. Die Schneewüste zeigte sich von ihrer eisigsten Seite. Spalten im Boden und die zackigen Erhebungen sich übereinanderschiebender Schollen waren die einzigen Veränderungen des Untergrunds, und das reichte ihrem unruhig suchenden Blick nicht aus.
Als sie um eine Schneewehe herumtraten und sich nur ein weiterer Abschnitt kargen Landes zeigte, stöhnte Lertis genervt auf.
»Wir sollten umkehren«, meinte Kat mit fester Stimme. Vìn sah der Rebellin an, dass sie sich bemüht aufrecht hielt, doch in Kats Augen stand die Enttäuschung. Sie alle hatten auf einen erfolgreicheren Ausgang gehofft.
Ihr Blick wanderte wieder zum Horizont. Das Monster verstand ihre Enttäuschung nicht. Jeder Schritt war ein Erfolg für es gewesen, und ihre momentane Position kam einem Sieg nahe. Aber als Kat sie an der Schulter berührte, sie zum Gehen aufforderte, verschwand jegliche Verwirrung in ihrem Inneren. Ein Bastard gab nicht auf. Nicht, wenn Zaarlos so nahe war.
»Wir kämpfen«, sagte sie.
Kat überlegte einen Moment zu lang, bevor sie antwortete. »Vìn, es ist niemand hier, gegen den wir kämpfen können.«
Ihre weißen Strähnen peitschten um ihren Kopf, als sie ruckartig zu Kat herumfuhr. »Folge mir, und du wirst Gegner zur Genüge finden.«
Die Rebellin wich zurück, ihre hellen Augen bedeckt von einem Schimmer Furcht. »Du wirst mir folgen, Vìn. Zurück zu den Rebellen.«
»Du willst doch, dass die Rebellen gewinnen, oder nicht? Komm schon, Kat. Gehen wir gewinnen.«
Kat suchte verzweifelt nach Worten. Vìn erkannte das Verlangen in ihren Augen, den Wunsch, einen Sieg einzufahren und Caz stolz zu machen. Aber etwas hielt die Späherin davon ab – die hoffnungslose Ergebenheit, von der Vìn sich niemals fesseln lassen würde. Lertis war völlig verstummt, hielt den Griff seines Krummschwerts fest umklammert. Er war ein Abenteurer. Sie würde ihn überzeugen können, ihr nach Zaarlos zu helfen...
»Ich habe Varnir versprochen, auf dich aufzupassen. Bitte, komm-«
»Du hast was?« Sie rückte näher an Kat heran. Beinahe genoss sie es, als der Zorn ihres Monsters sie anstachelte, ihr Sichtfeld klarer werden ließ und ihre Muskeln stärker. »Versprich nichts, was du nicht halten kannst, Kat Kairin.«
Die Rebellin schwankte, lehnte sich zurück. Das Ungeheuer spannte sich an, bereit, seine Beute in eine Hetzjagd zu treiben. Doch mit einem deutlichen Schlucken hob Kat ihr Kinn an und blickte Vìn offen in die Augen. Angst stand in ihnen geschrieben, Angst und... Vertrauen? Kat nahm an, Vìn zu kennen. Zu wissen, dass sie ihr nichts tun würde.
Kat hatte Recht.
Mit einem Knurren drehte sie sich um. Das Toben ihres Monsters wurde nur noch schlimmer, Wut, Frust und Verzweiflung mischten sich zu einem gefährlichen Gebräu. Und Lertis setzte seinen Fuß mitten in den Kessel.
»Vielleicht sollten wir wirklich zurückgehen, bevor hier irgendetwas eskaliert.«
Dafür war es bereits zu spät. Vìn fühlte sich, als wütete ein Sturm in ihrem Kopf, angefacht von der eisigen Brise aus Norden. Sie war so nah an Zaarlos, sehnte sich nach ihrem Zuhause... Und wusste doch, dass die Entfernung unüberwindbar für sie war. Ohne Kat und Lertis, ohne Kostya, hatte sie keine Chance, die Reise zu überleben. Kostya. Der sie mied, seit sie gemeinsam die Kopfgeldjäger besiegt hatten, was sie eigentlich in Hochstimmung hätte versetzen sollen. Doch seine Anwesenheit war ihr so vertraut geworden, dass sie sein Fehlen beinahe körperlich spürte. Irgendwann hatte sie ihn aufgesucht, sich selbst eingeredet, dass sie einfach ein Ventil für die Unruhe brauchte. Kostya hatte auf ihre Forderung nach einem Trainingskampf nur mit einem spöttischen Lächeln reagiert und sich abgewendet.
Sie weigerte sich, zu ergründen, was die Emotionen in ihrem Inneren bedeuteten. Nur die Panik stach ganz deutlich heraus, die Panik einer Tochter, die sich in der Fremde verirrt hatte.
Doch sie war nicht die Einzige, der die Angst ins Gesicht geschrieben stand. Lertis rieb sich unruhig die Hände, und als er ihren Blick auffing und nach Süden deutete, zitterten seine Finger. So großspurig er sich auch auf die Mission gefreut hatte, die Oberfläche musste ihm feindselig vorkommen. Vielleicht könnte sie erst den Rebellen nach Hause bringen, und dann die ersten Schritte für ihre eigene Reise antreten.
Vielleicht war das in Ordnung. Vielleicht konnte sie dieses Opfer für einen Freund bringen.
Das Jaulen ihres Monsters klang wie ein Weinen, als sie sich nach Süden wandte.
Mensch, da haben wir so lang auf eine Mission gewartet und dann ist sie so unspektakulär... auf Action müssen wir noch ein wenig warten. Aber, keine Sorge, nicht mehr allzu lang!
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