Kapitel 22
»Vìn! Wo warst du?«
Vìn genügte ein einziger Blick in Kats aufgeregt funkelnde Augen, um zu wissen, dass sie ihre wohlverdiente Ruhe für eine ganze Weile nicht bekommen würde. Der Tag hatte sie ausgelaugt, und als sie den Schlafsaal angesteuert hatte, war ihr Ziel gewesen, sich auf ihre Pritsche fallen zu lassen und die Augen für heute nicht mehr zu öffnen.
Doch die dunkelhaarige Rebellin auf dem Bett neben ihrem durchkreuzte ihre Pläne. Kat saß mit angezogenen Knien auf ihrer rauen Decke und wippte unruhig mit dem Fuß. Offenbar hatte sie Vìn bereits erwartet.
»Oder sollte ich eher fragen, wo wart ihr? Es war nicht zu übersehen, dass der Colonel und du nicht bei der Versammlung wart.«
»Hast du nichts Besseres zu tun, als dir darüber den Kopf zu zerbrechen?« Ihre Worte waren zu mürrisch und abgehackt, und wäre sie weniger müde gewesen, hätte sie ihren unfreundlichen Ton vielleicht erklärt. Doch Kat ließ sich davon nicht beirren.
»Wir sind in einem Höhlensystem eingesperrt. Klatsch ist das Einzige, was gegen die Langeweile hilft. Morgen weiß ganz Ocrioll von deinem Verhältnis mit dem Colonel.« Vìn streifte ihre Stiefel ab und ließ sich auf die Pritsche fallen, stets darauf bedacht, ihre rechte Seite aus Kats Blickfeld zu halten. Doch als ihr müdes Hirn deren Worte verstand, setzte sie sich ruckartig wieder auf.
»Verhältnis?«
»Vielleicht ist es auch eine Affäre oder eine Romanze. Die Details sind nicht so wichtig.«
»Kostya und ich-« Sie stockte und verzog das Gesicht. »Ich habe ihm mit Mord gedroht. Zweimal.«
»Du hast was?!«
»Oh, schau nicht so geschockt drein. Das passiert täglich.«
»Ich habe mir ja gedacht, dass es bei euch wild zugeht, aber das hat dann doch meine Vorstellungskraft überstiegen.«
Vìn konnte ein Zähneblecken nicht unterdrücken. Obwohl ihr Blick starr auf Kat gerichtet war, blieb ihr Fokus auf ihrem Ungeheuer, das sich langsam erhob. Nach dem Kampf hatte es sich zusammengerollt, doch jetzt funkelten seine Augen zornig. Erst, als Kat deutlich schluckte, wurde das Bild vor Vìns Augen wieder klar. Das aufgeregte Leuchten auf der Miene des Mädchens war verschwunden und hatte einer zögerlichen Achtsamkeit Platz gemacht. Sie rückte einen Fingerbreit zurück, und Vìn verdrehte innerlich die Augen. Sie brachte ihren Gesichtsausdruck unter Kontrolle und ließ ihre Züge weich werden. Kat schien wesentlich behüteter aufgewachsen zu sein als Kester. Mit der rohen Wildheit von Vìns Monster kam sie offenbar nicht klar.
Kats Durchatmen war deutlich spürbar, als die Wut aus Vìns Miene wich. Die Rebellin begann, unruhig mit den Bändern ihrer Schnürschuhe zu spielen, und ihre Augen huschten nervös über Vìns Körper. Als sie an ihrem rechten Arm ankamen, stockten sie, und Vìn erinnerte sich zu spät daran, die Hand hinter ihrem Rücken zu verbergen.
»Wessen Blut ist das?!«
»Keine Sorge, ich habe niemanden umgebracht.«
»Das beruhigt mich, aber-«
»Den finalen Schlag hat Kostya mir vorweggenommen.«
Kat sah aus, als würde sie Schnappatmung bekommen. Sie öffnete ihren Mund, aber es schien ihr die Sprache verschlagen zu haben. Diesmal verdrehte Vìn wirklich die Augen.
»Wir haben Caz mit einigen entkommenen Gefangenen geholfen. Einer von ihnen hat mich am Arm erwischt.«
Die Rebellin ging dazu über, sich eine ihrer Locken um den Zeigefinger zu wickeln. Den Blick konnte sie vom noch nicht ganz getrockneten Blut auf Vìns Ärmel nicht abwenden, doch immerhin fand sie ihre Stimme wieder. »Wie... wie schlimm ist es?«
»Mein Arm? Nicht der Rede wert. Aber du solltest meinen Gegner sehen.« Ihre Lippen spalteten sich zu einem Grinsen, und Kat wurde noch eine Spur bleicher. Ein Teil von Vìn, der, der Zähne und Klauen hatte, genoss die Reaktion. Doch der Rest von ihr sehnte sich nach einem Gesprächspartner, dem beim Anblick von Blut nicht gleich das Abendessen hochkam. Sie hatte nichts gegen Kats Gegenwart, doch sie würden nie die Art von Freundschaft haben, in der man sich wortlos verstand. Man merkte der Rebellin an, dass sie niemals um ihr Leben hatte bangen müssen. Auf Zaarlos würde sie keinen Monat überleben, trotz ihres Kampftrainings.
Mit einem unhörbaren Seufzen wandte Vìn sich jetzt ebenfalls ihrem Arm zu. Es war wirklich nötig, die Wunde zu säubern und zu verbinden, allein, damit Kat die Nacht ohne Albträume überstand. Aber das hieß nicht, dass sie dem Befehl des Kronprinzen folgen würde.
»Hast du Wasser da?«
Eilig nickte das Mädchen und griff wortlos nach dem Trinkschlauch, den sie unter ihrer Pritsche aufbewahrte. Vìn nahm den ledernen Behälter stumm entgegen und ließ dann nach und nach Flüssigkeit auf ihre Rechte tropfen. Sie atmete zischend ein, als ein Brennen durch ihren Arm lief, und hatte Mühe, den Schlauch ruhig zu halten. Zu viel Wasser würde mehr schaden als nutzen. Doch Vìn hatte bereits Schlimmeres überstanden. Mit betont ruhigen Bewegungen drehte sie den Behälter wieder zu und riss dann den ohnehin zerfetzten Ärmel ihrer Tunika ab. Hier auf Ocrioll mussten sie auch richtige Verbände haben, doch sie würde einen Teufel tun, einen Heiler aufzusuchen. Außerdem hatte sie ihr bisheriges Leben auch mit Lumpen um diverse Körperteile überlebt.
»Also... habt ihr die Gefangenen wieder eingesperrt?«
»Du meinst diejenigen von ihnen, die überlebt haben?« Vìn machte sich nicht die Mühe, zu Kat aufzusehen. »Sicherlich.«
»Und geht es Caz gut? Und dem Colonel?«
»Niemand ist verletzt, Kat.« Nachdrücklich ruckte sie an ihrem improvisierten Verband und suchte dann doch den Augenkontakt zu der Rebellin. »Du brauchst keine... Angst zu haben.« Ihre Augenbrauen zogen sich zusammen, als Kat einen tiefen Atemzug nahm und dann die Hände faltete. Es schien tatsächlich Furcht zu sein, die das Mädchen befallen hatte. War es so ungewöhnlich, dass es im Untergrund Kämpfe gab? Bisher hatte sie nicht den Eindruck gehabt, dass sich die Rebellen scheuten, zu ihren Schwertern zu greifen.
»Ich habe von den Gefangenen gehört, die die Späher vor kurzem im Süden gemacht haben. Es sollen Kopfgeldjäger sein, die auf Caz angesetzt waren.«
Vìn, für die das Gespräch eigentlich erledigt gewesen war, zuckte nur die Schultern. »So etwas Ähnliches hat er gesagt. Was ist schon dabei? Glaub mir, sie sind nicht mehr in der Verfassung, uns gefährlich zu werden.«
»Du weißt nicht, was Caz für uns bedeutet. Er ist Hoffnung. Und sollte der König ihn je wieder gefangen nehmen, dann sind wir alle in Gefangenschaft.« Kats Worte wurden immer hastiger und dringlicher. Sie hielt kurz inne und atmete zweimal durch, um sich wieder zu fassen. »Du kannst das nicht verstehen. Du bist erst seit kurzem hier. Aber wir müssen Caz beschützen, was auch immer es kostet.«
Vìn warf ihr einen langen Seitenblick zu, doch obwohl Kats Ausdruck offen war, konnte sie ihn nicht lesen. Schließlich legte sie sich einfach zurück auf ihre Pritsche, zu erschöpft, um eine Diskussion anzufangen.
»Vielleicht hast du recht. Du kannst dir jedenfalls sicher sein, dass ich alles tun werde, um den König zu stürzen.«
»Ich weiß.« Kat tat es ihr gleich und machte sich bereit, zur Ruhe zu kommen. »Danke, Vìn.«
Sie zog einen Mundwinkel in die Richtung des Mädchens hoch. Doch insgeheim war ihr klar, dass Kat sich nicht bedanken würde, wenn sie wüsste, was alles bedeutete.
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»Er kommt«, flüsterte Elèn, die Stimme kaum mehr als ein Hauch, »Er wird mich finden, und du kannst ihn nicht stoppen.«
Ihre Schwester wimmerte. Sie zitterte so heftig, dass Vìn das Beben ihres Körper sin ihren eigenen Knochen spürte. Ihre Augen flogen zu ihrer Schwester, suchten nach Verletzungen, nach Schmerz... doch da war nur nackte Panik in Elèns Blick.
»Sieh' mal einer an.«
Vìn fuhr herum. Sie hatte die Stimme bereits beim ersten Wort erkannt, diesen Ton, der den Sommer gefrieren lassen konnte. Diesmal lächelte der Mann in der schwarzen Rüstung, der sich zwischen zwei Hütten aufgebaut hatte und ihnen den Weg zum Südteil versperrte. Und diesmal konnte Vìn ihre Angst nicht leugnen. Das Kräuseln seiner blutleeren Lippen wirkte wie ein Zähnefletschen. Das grausame Funkeln in den schrecklichen grünen Augen ließ ihr Herz einen Schlag aussetzen.
»Die Götter müssen mir endlich gewogen sein, wenn sie mir gleich zwei Spatzen auf dem Silbertablett präsentieren.«
Elèn schnappte nach Luft und griff sich an ihren bloßen Hals, als würde die schiere Anwesenheit des Soldaten sie ersticken. Er war es, der ihre Panik verursacht hatte, der sie gejagt und in die Ecke getrieben hatte wie ein Beutetier. Und Vìn hatte ihn direkt zu Elèn geführt.
Zwei Spatzen auf dem Silbertablett.
Ewige Ruhe, Ruhe, Ruhe...
Vin fuhr hoch. Ihre Tunika klebte an ihrem Rücken und an ihren Schläfen hatten sich Schweißtropfen gebildet. Sie konnte nicht mehr. Im Schlaf war sie wehrlos, verletzlich ohne ihr Monster, und hatte keine Kontrolle über ihre Angst. Ihr Herz raste und ihr war beinahe schlecht von der Panik. Es war zu viel, die ständigen Träume, die sie verzweifelt in Zaarlos hatte zurücklassen wollen. Doch sie waren nur lebhafter geworden, als würde der Schattensoldat erstarken. Sie klammerte sich an die Hoffnung, dass er, wenn er durch ihren Schlaf geisterte, nicht auch Elèn und die anderen angriff... Aber das machte keinen Sinn. Vìn schüttelte den Kopf und klammerte sich an den Rand ihrer Pritsche. Der Schattensoldat war eine Traumgestalt, körperlos und nicht wirklich real. Zumindest war er das lange Zeit nicht gewesen. Was zuhause im Lager vor sich ging, wusste sie nicht, doch sie erlaubte sich nicht einmal den Gedanken, er könnte in wahrer Gestalt ihre Schwestern jagen. Er musste bleiben, wohin auch immer er damals verschwunden war.
Vìn rieb sich die Arme. Durch ihre Rechte fuhr ein scharfer Schmerz. Mit bebenden Fingern löste sie den provisorischen Verband und drehte den Arm, bis das Fackellicht aus dem Tunnel direkt darauffiel. Der Wundrand hatte sich rötlich verfärbt. Vìn stieß die Luft aus, bereits in ihre Stiefel schlüpfend. Sie hatte dringend eine ruhige Nacht gebraucht, doch der Schattensoldat schien sie immer genau dann anzugreifen, wenn sie am schwächsten war. Sie musste sich dringend richtig um ihre Verletzung kümmern, aber sie hatte nicht vor, sich heute auch noch mit Varnir herumzuschlagen. Stattdessen suchte sie Conner auf. Wenn sie schon Caz' Ratschlägen folgte, dann wenigstens zu ihren eigenen Bedingungen.
Der Verteidiger, den sie glücklicherweise auf dem Weg zum Speisesaal abpasste, wechselte bereitwillig mit ihr die Richtung. Diesmal ließ er sich nicht von ihrer mürrischen Miene abschrecken, sondern führte sie sicher durch die Tunnel, die leerer wurden, je weiter sie sich vom Frühstück entfernten. Als sie sich allein in einem Gang wiederfanden, ergriff Vìn das Wort.
»Wenn die Rebellen so sehr auf Gleichberechtigung bedacht sind, warum haben die Anführer dann trotzdem so viele Privilegien?« Ihre Stimme hatte einen provozierenden Unterton, doch sie wartete aufmerksam auf Conners Antwort. Wenn sie in einen Krieg zog, musste sie sicherstellen, dass sie ein Übel nicht nur durch ein anderes ersetzte. Bisher hatte es den Anschein, als könnten die Rebellen gar nicht unterschiedlicher zum Machtgefüge des Königs sein, doch ihr war klar, dass sich im Hintergrund viel abspielte, von dem sie nichts wusste. »Warum hat Caz' innerer Kreis eigene Schlafgemächer und Gewölbe, sogar eine Badekammer, zu denen ihr anderen keinen Zutritt habt?«
Conner musste nicht einmal überlegen, bevor er antwortete. »Weil nicht alle Rebellen vertrauenswürdig sind. Viele der ehemaligen Soldaten von Zaarlos schließen sich uns nur an, weil sie ansonsten ihr Leben verlieren würden.« Er warf ihr einen entschuldigenden Blick über die Schulter zu, als wollte er ihr sagen, dass das kein verbaler Angriff gegen sie war. Doch sie wäre nie auf die Idee gekommen, eine Aussage über Soldaten auf sich zu beziehen.
»Wir können nicht wissen, wer Caylaz lieber tot sehen will und wer ehrlich erleichtert ist, dem Soldatentum zu entkommen. Daher war es die Entscheidung der Rebellen, unseren Anführern sichere Orte zur Verfügung zu stellen, an denen sie wehrlos sein können. Zum Schlafen, Waschen, Auskurieren von Krankheiten...« Conners Gedanken schienen kurz abzuschweifen, bevor er mit einem Wink seinen Faden wiederaufnahm. »Caylaz hätte sich das niemals selbst herausgenommen, aber die Verteidiger organisieren sogar Wachen für die privaten Räume. Denn auch wenn die Rebellion von jedem einzelnen Mitglied am Leben erhalten wird, so ist Caylaz doch das einzige Individuum, von dem wir völlig abhängig sind.« Zum Ende seiner kleinen Tirade hin wurde seine Stimme etwas schwächer, und er räusperte sich, bevor er mit betont festem Gang weiterlief.
Vìn musste zugeben, dass seine Erklärung sinnvoll klang. Wäre sie auf einen Mord aus, würde sie ihre Position jedenfalls nicht aufs Spiel setzen, um einen einfachen Rebellen zu töten. Es war klug, Caz' Leben im Besonderen zu schützen, aber es wurmte sie trotzdem, dass er damit über ihr stand. Kein Mann sollte ihr befehlen können, ganz egal, wie gut seine Absichten waren.
Weit südlich in einem Nebengang zur zweiten Hauptader blieb Conner schließlich vor einer Holztür stehen. Es war keine Wache dort positioniert, wie es vor den Gebäuden der Offiziere auf Zaarlos üblich gewesen war, aber eine Rebellin weiter vorn im Tunnel kam wie beiläufig in ihre Richtung geschlendert. Conner stellte sich mit leicht abgespreizten Armen in die Mitte des Ganges und deutete Vìn, es ihm gleichzutun. Die Wache nickte Conner kurz zu und der Verteidiger öffnete die Holztür.
»Findest du allein wieder zurück?«
Vìn machte eine bestätigende Kopfbewegung und trat vorsichtig in den Durchgang hinein. Er führte zu einem weiteren Tunnel, der mit dem leisen Gluckern einer unterirdischen Quelle lockte. Die Luft schien hier wärmer und schwerer als draußen, und Vìn musste sich zwingen, tiefe Atemzüge zu nehmen. Der schmale Gang öffnete sich rasch zu einer kleinen Höhle, die mit großen Fackeln beleuchtet war. Tücher lagen am Eingang bereit und kaum zwei Schritte dahinter fiel der Boden in ein Wasserbecken ab. Es musste sich um eine heiße Quelle handeln, wie es sie ganz im Westen von Zaarlos auch gab. Nun beeilte Vìn sich doch, ihre Kleidung abzulegen und sich vorsichtig am Rand des Wassers niederzulassen. Ein heißes Bad hatte sie sehr lang nicht gehabt. Stück für Stück tauchte sie ihre Beine in das Becken hinein und schloss genießerisch die Augen. Es dauerte, bis sie sich ganz in die Quelle sinken lassen konnte, doch dann entkam ihr ein genüssliches Seufzen. Ihre Muskeln lockerten sich nach und nach und die Last ihres eigenen Körpers verschwand von ihren Schultern. Zum ersten Mal seit die Höhlendecke in Ocrioll sich über ihrem Kopf geschlossen hatte, konnte sie sich vollkommen entspannen.
Sie hätte es ahnen müssen. Ihr Monster hätte sie warnen sollen, dass sie sich nicht so gehenlassen konnte, immer ein Auge für mögliche Gefahren offenlassen musste... Die Schritte, die erklangen, trafen sie unvorbereitet. Panisch fuhr sie auf und stieß sich mit den Füßen am Beckenrand ab, paddelte auf den fernen Rand zu. Bevor sie sich aus dem Wasser ziehen konnte, erschien jemand im Eingang der Badekammer, gerade so beleuchtet vom Schein der Fackeln.
Auch wenn er keine Gefahr für sie darstellte, setzte ihr Herz einen Schlag aus. Kostya.
Ohh, ich freue mich auf das nächste Kapitel. Die Badekammerszene ist eine meiner Lieblingsszenen zwischen Vìn und Kostya. Diese beiden lassen sich wunderbar gemeinsam schreiben!
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