Kapitel 20
Es war erstaunlich einfach gewesen, einen Dolch aus dem Trainingssaal zu schmuggeln.
Die notdürftige Waffe, deren schartige Klinge bereits Rost ansetzte, war kein Vergleich zu Vìns eigenen Messern, doch sie würde trotzdem tödlich sein. Entweder waren die Rebellen sehr naiv oder sehr selbstsicher.
Vìn schlich durch denselben Gang zurück in Richtung Schlafgewölbe, den sie auch mit Conner genommen hatte. Den Dolch hatte sie in ihren Stiefel gesteckt, doch er würde einer näheren Musterung nicht verborgen bleiben. Deshalb hielt sie sich an die schmalen Nebengänge, die von den Rebellen normalerweise nicht genutzt zu werden schienen und teilweise nicht einmal beleuchtet waren. Doch ihr fehlte Conners jahrelange Erfahrung mit dem Tunnelsystem, und obwohl sie sich an die Abzweigungen erinnerte, die sie auf keinen Fall nehmen sollte – diejenigen, aus denen die warmen Luftströmungen kamen –, so fand sie auch nicht zu den Hauptadern zurück. Verärgert ließ sie ihre Finger über die Felswand streifen, auf der Suche nach einem Zeichen, das ihr bekannt vorkam, doch der kühle Stein gab nichts preis. Ihr Kopf schmerzte vom ständigen Versuch, mit verengten Augen gegen die Dunkelheit anzukommen. Sie hatte genug vom Leben unter der Erde, und ihr gesamtes Sein verlangte nach der Freiheit unter offenem Himmel. Hier unten schienen ihre Sinne gedämpft zu sein und sie fühlte sich fremd in ihrem eigenen Körper. Die anfängliche Erleichterung über die Entdeckung der Rebellen, die für ihre Sache kämpften, war längst abgeklungen. Genau wie auf Zaarlos waren hier Männer an der Spitze, die ihre Macht missbrauchten. Zumindest Varnir würde sich problemlos ins Militärcamp einfügen und hätte sicher keine Hemmungen, auf die Bastarde herabzusehen.
Die Rebellen behaupteten zwar, gegen die Obrigkeiten vorzugehen und den König stürzen zu wollen, doch bisher hatte Vìn davon nicht viel bemerkt. Auf Ocrioll waren sie abgeschieden von Castrhys, ohne Chance, etwas zu bewirken. Die Rebellen mochten den Soldaten von Zaarlos zahlenmäßig unterlegen sein, doch mit Hilfe der Bastarde im Inneren des Lagers und ihrer Kenntnis der Nordberge waren sie im Vorteil. Sie könnten das Militärcamp stürmen, Vìns Familie endlich befreien... Aber Vìn befand sich nicht auf dem Schlachtfeld, zog nicht gegen die Soldaten in den Krieg. Sie war eingesperrt von Felswänden, ihrer Waffen beraubt und völlig machtlos in dieser immer noch fremden Umgebung. Der Gedanke hätte beinahe gereicht, sie zusammengekrümmt zu Boden sinken zu lassen. Doch so leicht würde sie nicht aufgeben. Sie war ein Bastard von Zaarlos, auch wenn sie fern ihrer Heimat war... Sie schob die Angst und Verzweiflung beiseite, konzentrierte sich ganz auf den Zorn, der ihren Körper nach und nach in Brand steckte. Ihre Schritte wurden fester und ihre Haltung aufrechter. Ihre Familie war stark. Sie würden noch einige Monate durchhalten, und dann konnte nichts sie noch aufhalten, gemeinsam gegen die Obrigkeiten zu ziehen.
Auch im Tunnelsystem von Ocrioll war Vìn weniger allein, als sie vermutet hatte. Sie war in einem Gang angelangt, der sämtliches Licht schluckte, und ließ sich nur von ihrer Hand an der Seitenwand leiten. Sie nahm keine bewusste Veränderung wahr, doch mit einem Mal sträubte ihr Monster sein Fell. Sie hielt inne und wandte vorsichtig den Kopf, doch in der Tiefe der Schatten hatte sie keine Gelegenheit, ihre Umgebung abzuschätzen. In ihren Ohren dröhnte es, und sie schluckte schwer. Sie meinte, einen sanften Luftzug wahrzunehmen, ein stetiges Auf und Ab, dichter vor ihr, als ihr lieb war. Als sie realisierte, dass sie den Atem einer Person hörte, nahm sie unwillkürlich ihre Verteidigungshaltung ein.
»Wer ist da?«
Ein Geräusch ertönte, das hier so fehl am Platz war, dass sie es für einige Wimpernschläge nicht einordnen konnte. Es klang wie das Gluckern eines unterirdischen Baches, oder vielleicht wie das Heulen, wenn der Wind sich in hohlem Gestein fing. Jemand lachte, in einer hohen, reinen Stimme.
»Du. Und ich«, antwortete das Kind, und Vìn ließ ihre Hände sinken.
»Du schon wieder.«
Sie zuckte zusammen, als kühle Finger nach ihrer Rechten griffen und sich forsch um ihre Hand schlossen. Instinktiv versuchte sie, sich loszureißen, doch Kester war erstaunlich kräftig.
»Ich zeige dir den Weg hinein.«
»Ich will raus, nicht rein! Den Weg werde ich schon finden.«
»Du kommst nicht wieder heraus. Du bist bereits zu tief drinnen.«
Die Tonlage des Jungen war viel zu fröhlich für derartige Worte. Unwillkürlich lief ihr ein Schauder den Rücken hinunter, und ihre Gedanken suchten verzweifelt nach einem sicheren Thema, an das sie sich klammern konnten. Plötzlich erinnerte sie sich an etwas, das Kat vor einiger Zeit gesagt hatte.
»Deine Schwester wollte dich auf den Colonel ansetzen, und seine Beziehung zu Caz. Hast du etwas herausgefunden?«
Kester gab für einige Herzschläge keine Antwort, auch wenn seine Schritte etwas langsamer wurden.
»Welche Schwester? Ich habe fünf. Und zwei Brüder.«
»Ich meine deine leibliche Schwester. Kat.«
Mit einem Mal erstarrte Kester. Ein zarter Lichtschein wagte sich von irgendwo weiter vorn in den Tunnel hinein, doch Vìn konnte keine Öffnung erkennen. Die Gestalt des Jungen war noch immer kaum mehr als eine Silhouette, aber sie konnte seine Augen funkeln sehen.
Vìn verzog die Mundwinkel, sich ihres Fehlers bewusst. Auch wenn ihr klar war, dass sie biologische Eltern hatte, hieß das nicht, dass sie gern daran erinnert wurde. Ihr Sein wurde davon definiert, von Zaarlos abzustammen, mit ihren Bastarden als Brüder und Schwestern. Sie wartete stumm, bis Kester sich gefangen hatte.
»Ich kenne keinen Colonel.«
Der Waise schien plötzlich mehr Kind zu sein als jemals zuvor. Seine Stimme hatte einen trotzigen Unterton bekommen und sein Griff um ihren Arm lockerte sich. Vìn konnte es nicht sehen, doch sie nahm an, dass er die Arme verschränkt hatte.
»Ich meine Kostya. Er ist mit mir hierhergekommen.«
»Dann wirst du ihn doch wohl besser kennen als ich.«
»Kostya kenne ich, ja. Den Colonel nicht.« Sie stockte, als ihr bewusst wurde, dass diese Worte für einen Außenstehenden keinen Sinn machen konnte. Sie war die Einzige, die wusste, dass Kostya nicht immer der Colonel war. Und mit einem Mal zögerte sie, dieses Wissen zu teilen. Es hätte wohl eine Reise quer durch Zaarlos gebraucht, um es zu erklären. »Vergiss es einfach.«
Plötzlich lachte Kester wieder. »Ich vergesse nichts. Nie.«
»Wie auch immer.« Unwirsch schüttelte sie den Kopf und drängte sich an dem Jungen vorbei. Das Licht weiter vorn im Gang stammte eindeutig von Fackeln, von hier aus würde sie zurück zu den Hauptgängen finden. Einmal wandte sie sich um, um zu Kester zurückzublicken, doch von ihm war bereits keine Spur mehr zu sehen.
Vìn war erleichtert, als sie sich im Schlafsaal allein mit sich selbst vorfand. Ihre Sinne nahmen keine anderen Präsenzen wahr und auch ihr Monster blieb stumm, aber sie beeilte sich dennoch, den Dolch zwischen die Planken ihrer Pritsche zu klemmen. Mit kritischem Blick trat sie einige Schritte zurück, doch wenn man nicht unbedingt auf dem Boden herumkroch, würde die versteckte Waffe nicht auffallen. Zufrieden ließ sie sich auf ihr Bett fallen und schloss die Augen, nach Zeichen der Rebellen lauschend. In der Ferne hallte vereinzelt das Geräusch von Schritten, doch das war die einzige Spur von Leben. Das Abendessen musste noch in vollem Gange sein, und die Gewölbe waren leer wie sonst nie.
Kat hatte etwas von einer Versammlung gesagt. Aber Vìn war zu ausgelaugt, um sich darüber Gedanken zu machen.
Sie hatte auf Ocrioll jegliches Zeitgefühl verloren. Sie war daran gewohnt, die Tageszeit am Himmel abzulesen und die Jahreszeit am Wetter. Nun wusste sie nur noch, dass sie bereits viel zu lang im Untergrund eingesperrt war. Auf Zaarlos musste es nun eiskalt sein, denn der Winter war bereits nähergeschlichen, als Kostya und sie in die Berge aufgebrochen waren. Sie hatte gehofft, längst mit ihrer Familie wiedervereint zu sein, wenn Kälte und Hunger sie bedrohten. Ihre Gedanken wanderten ständig nach Zaarlos, hoffend und bangend, dass die Bastarde gut über die Runden kamen. Sie hatte das Gefühl, dass sie stillstand. Im Training mit Varnir kam sie nicht vorwärts, und der Rebell stellte sicher, dass sie keine Möglichkeit hatte, sich in den Rängen hochzuarbeiten. Wenn sie nicht einmal zur Oberfläche gehen durfte, wie konnte sie eine Mission nach Zaarlos schicken? Vìn waren die Optionen ausgegangen. Sie hätte sich sicher irgendwie nach draußen schleichen können, doch sie war nicht so naiv, zu denken, sie könnte allein dasselbe erreichen wie eine Armee von Rebellen. Diese Armee müsste nur endlich ausrücken.
Vìn stützte den Kopf in ihre Hände und biss die Zähne zusammen. Ihr Atem ging schwer, und sie kämpfte gegen die Welle der Emotionen in ihrem Inneren, die drohte, zu brechen. Mit ihrem Zorn stand sie im ständigen Kampf – er durfte nicht aufbrodeln und sie ertränken, aber auch nicht versickern und in Verzweiflung umschlagen. Allein in der gewaltigen Höhle im Untergrund von Ocrioll erlaubte sie sich einen einzigen Moment der Schwäche.
Eines ihrer Geschwister könnte tot sein, und sie würde es nicht mitbekommen.
Das Monster in ihrem Inneren jaulte auf und sie schnappte nach Luft. Mit rasendem Herzen richtete sie sich auf und klammerte sich mit den Fingern an die Kante ihrer Pritsche, dass ihre Knöchel weiß wurden. Der Gedanke versetzte sie in eine bodenlose Panik, die sie auf kaltem Fuß erwischte. Ihr Blick irrte in der Höhle umher, scheute vor den Schatten zurück, die sich an den Seitenwänden sammelten, und blieb schließlich am Eingang hängen. Eine einzige Gestalt hatte sich lautlos genähert, die Augen auf sie gerichtet, still wie eine Statue. Der Fackelschein umhüllte ihn und ließ ihn wirken, als käme er nicht von dieser Welt. Auf seinen Haaren lag ein rotgoldener Schein, und die goldenen Stickereien auf der Brust seiner Tunika woben das Wappen eines heulenden Wolfes. Ihr Atem stockte für einen Moment, bevor er schneller wurde. Sie konnte seinen Ausdruck auf diese Entfernung nicht lesen, schon gar nicht, wenn seine Augen im Schatten lagen.
»Verschwinde«, brachte sie hervor.
Kostya neigte nur den Kopf auf die Seite.
»Was hast du hier zu suchen?« Ihre Stimme war kaum mehr als ein heiseres Fauchen, doch sie wusste, dass er sie hörte. Provokant entspannt lehnte er sich mit der Schulter gegen die steinerne Wand der Höhlenöffnung.
»Ich habe mein Wölfchen verloren. Ist hier zufällig eines hereingeschlichen?«
»Ich bin nicht dein Haustier!«
»Wer sagt denn, dass ich von dir spreche?« Sogar durch das Halbdunkel sah sie sein Grinsen aufblitzen.
»Lass' mich einfach allein.«
Ihr gesamter Körper spannte sich an und ihre Muskeln verkrampften. Ihr Ungeheuer wollte sich auf ihn stürzen und mit Zähnen und Klauen von hier vertreiben, doch sie hatte nicht die Kraft, aufzustehen. Ihr blieb nur die Hoffnung, er würde einen Funken Verständnis zeigen und sie zurücklassen. Doch er jagte nur ein einziges knappes Wort in den kühlen Raum zwischen ihnen: »Nein.«
Er tat keinen einzigen unnötigen Schritt, sondern ließ sich direkt an der Wand hinabsinken. Er überschlug seine Beine an den Knöcheln und lehnte seinen Kopf gegen den Felsen. Den Blickkontakt zu ihr brach er ohne jeglichen Kommentar ab. Ungläubig musterte sie ihn noch für einen Moment, dann ließ sie sich mit einem Schnauben ebenfalls zurücksinken. Sollte er doch hierbleiben, das kümmerte sie nicht. Sie schloss die Augen.
Es war noch nie einfach gewesen, Kostya zu ignorieren. Seine Präsenz war vereinnahmend, und seine Anwesenheit reichte aus, um sie rot sehen zu lassen. Auch jetzt lauschte sie auf jedes verräterische Geräusch, das aus seiner Richtung kam, doch im Schlafsaal war es völlig still geworden. Nicht einmal auf den Hauptgängen schienen Rebellen unterwegs zu sein.
Vìn biss die Zähne zusammen und hielt ihren Atem so flach wie möglich. Und obwohl er auf der anderen Seite des Raumes saß, drang das ruhige Auf und Ab von Kostyas Atemzügen an ihre Ohren. Er schien völlig unberührt von der Situation, doch sie verbot es sich, auch nur einen einzigen Blick auf ihn zu werfen. Sie hoffte noch immer, dass er einfach verschwinden würde, wenn sie nur lang genug ausharrte.
Doch Kostya blieb.
Und irgendwann passte sich ihr Atem seinem an, und ihr Monster rollte sich zusammen. Sie war der Anspannung müde. Er würde sie nicht töten, nicht auf diese Art und Weise wenigstens. Und sie konnte den Mord an ihm auf einen anderen Tag verlegen.
Sie wusste nicht, wer von ihnen zuerst einschlief.
Doch als eine Rebellin keuchend in den Raum gerannt kam, fuhren sie beide erschrocken hoch. Ihre Verteidigungspositionen glichen einander wie Spiegelbilder.
Ein wenig Off-topic, aber mir ist da etwas aufgefallen: Der word count der Kapitel ist auf Wattpad immer ein wenig anders (weniger) als auf Word. Weiß jemand, welcher davon der richtige ist?
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