Kapitel 17
Sie waren zu dritt, als sie Vìn am nächsten Morgen holen kamen.
Der laute Gong, der von den steinernen Wänden widerhallte, hatte sie mit rasendem Herzen aufgeweckt. Deswegen saß sie bereits auf der Kante des Bettes, als sich die Rebellen durch ein Klopfen ankündigten. Sie öffnete die Tür mit einem plötzlichen Ruck, der ihre Besucher allesamt zusammenzucken ließ. Conner war der Einzige der Rebellen, den sie wiedererkannte, und er schien nicht freiwillig hier zu sein. Er hatte den Kopf zwischen die Schultern gezogen, als wollte er schrumpfen, und wich ihrem Blick aus.
Die beiden Frauen dagegen musterten sie offen. Sie hätten unterschiedlicher nicht sein können – eine von ihnen groß und kräftig, mit hellbrauner Haut und dunkler Iris, die andere klein und blass. Deren blaue Augen funkelten Vìn fröhlich an, und sie war es auch, die zuerst das Wort ergriff.
»Schön, dich kennenzulernen! Du bist meiner Einheit zugeteilt worden, wir freuen uns immer über Neuankömmlinge!« Sie pustete sich eine ihrer schwarzen Locken aus der Stirn. Ihre Stimme war hell und klar, und sie konnte nicht älter sein als Vìn. Die andere Rebellin legte ihrer Freundin eine Hand auf die Schulter.
»Was Kat hier eigentlich sagen wollte – wir heißen dich bei den Rebellen willkommen. Ich bin Chandra.« Ihre weichen Züge ließen sie ungefährlich wirken. Ihre dunklen Haare fielen ihr glatt und voll auf die Schultern, und ihre Haltung war etwas gebeugt – sie schien keine Kämpferin zu sein. Beide Frauen starrten sie erwartungsvoll an, doch Vìn wusste nichts mit ihnen anzufangen. Neue Bekanntschaften beschränkten sich bei ihr normalerweise auf rasch ausgetauschte Beleidigungen oder das Kreuzen von Klingen.
»Mein Name ist Vìn.«
Ein Strahlen brach auf dem Gesicht der jungen Rebellin, Kat, aus. Sie wandte sich zu Conner um. »Ich habe dir doch gesagt, sie beißt nicht!«
Vìn machte sich nicht die Mühe, ihr zu widersprechen. Doch als Kat sie am Unterarm packte und in den Gang hinauszog, war sie wirklich kurz davor, dem Mädchen die Zähne zu zeigen. So unauffällig wie möglich befreite sie sich und fing einen entschuldigenden Blick von Chandra auf.
»Wir werden dich ein wenig herumführen«, erklärte die Rebellin mit einem Lächeln, »Das Tunnelsystem kann anfangs ziemlich verwirrend sein. Solang du dich an die Fackeln hältst, kannst du aber nicht verlorengehen.«
Vìn nickte knapp und folgte ihr mit festen Schritten durch die Gänge. Es zogen sich vier Hauptadern durch den Untergrund von Ocrioll, von denen an Knotenpunkten weitere Tunnel in alle Himmelsrichtungen abgingen. Die Felsen waren hier wohl schon immer von Hohlräumen durchzogen gewesen. Die Rebellen hatten Ocrioll mit Hacken und Pickeln gezähmt, die Höhlen gesichert und ausgebaut und mit Tunneln verbunden. Nur das Höhlensystem im Westen, das sich am tiefsten in die Erde gegraben hatte, war laut Conner natürlicher Art und nicht ungefährlich. Die Gänge waren teilweise einsturzgefährdet oder endeten unvermutet in Seen aus heißem, flüssigem Gestein.
Sie befanden sich in einem der Hauptgänge, als Geräusche zu ihnen vordrangen, die Vìn nur zu gut kannte. Da war das Klirren von Metall auf Metall und raue Rufe aus menschlichen Kehlen... unbewusst wanderten ihre Hände zu ihren Dolchen, doch ihr Gürtel war leer. Ihre Atmung wurde schneller und sie hätte sich beinahe auf Chandra gestürzt, als diese ihr die Hand auf die Schulter legte.
»Mach' dir keine Sorgen. Dort vorn befindet sich der Trainingssaal.«
Die Rebellin schien ihr den Ausbruch nicht übel zu nehmen, doch Vìn war sich sicher, dass Conner etwas murmelte wie »von wegen, sie beißt nicht«. Kat war die Einzige, die von der angespannten Atmosphäre nichts mitbekam. Sie lief unbekümmert voran und hatte den Eingang zum Trainingssaal bereits erreicht. »Wenn wir Glück haben, sehen wir eine der Eliteeinheiten trainieren.« Über ihr schmales Gesicht huschte ein verschwörerisches Grinsen. Vìn folgte ihr wesentlich vorsichtiger.
Auf den ersten Blick wirkte das Treiben in dem gewaltigen Gewölbe wie ein einziges Chaos. Einige Rebellen waren in Zweikämpfe verwickelt, andere hatten sich zu kleinen Gruppen zusammengefunden. In der Mitte des Trubels kamen sich die Kämpfer gegenseitig in die Quere. Verschiedene Stimmen versuchten immer wieder, den Lärm zu übertönen, doch nicht einmal als Außenstehende verstand Vìn die gebrüllten Befehle. Aber nach einer Weile des stummen Zusehens entdeckte sie, dass zumindest die Rebellen, die im hinteren Teil der Höhle kämpften, eine eigene Ordnung hatten. Die Duellanten schienen aufeinander abgestimmt zu sein und immer wieder innezuhalten, um unhörbare Worte auszutauschen. Ein Krieger in voller Rüstung stand auf einem Steinblock über ihnen und dirigierte ihre Schritte.
»Das ist Galyon«, erklärte Chandra leise, die ihrem Blick gefolgt war. »Er ist einer der besten Kämpfer hier und war bereits Waffenmeister am Hof des Königs, bevor er Caz hierhergefolgt ist. Aber er weigert sich, einen Führungsposten anzunehmen.«
Kat, die augenscheinlich bereits das Interesse an den Trainierenden verloren hatte, drehte sich zu ihnen um. »Wie auch immer, die wirklich interessanten Leute sind nicht hier. Zu schade.« Ungeduldig zog sie am Ärmel von Chandras Tunika. »Lass uns dem Speisesaal einen Besuch abstatten.«
Conner gab ein leises Hüsteln von sich, als er den Rebellinnen folgte, doch keine von ihnen schenkte ihm ihre Aufmerksamkeit. Vìn musterte ihn offen und registrierte mit Genugtuung, dass er den Kopf wieder zwischen seine Schultern zog.
»Es gibt viele Aspekte, die für dich noch wichtig sind. Chandra und Kat lassen sich zu schnell ablenken.« Dem musste sie innerlich zustimmen. Die mangelnde Zielstrebigkeit der Frauen irritierte sie. Conners knappe Beschreibungen waren ihr da wesentlich lieber, doch seine Stimme zitterte, sobald er den Mund öffnete. »Die Rebellen teilen sich in zwei Gruppen – Verteidiger und Späher. Die Späher trainieren normalerweise früh morgens und spät abends, weil sie tagsüber auf Missionen gehen. Manchmal werden sie sogar tagelang auf Außenposten geschickt.«
»Also waren es Späher, die Kostya und mich gefangen genommen haben.«
Der Rebell zuckte bei diesen Worten zusammen, obwohl sie nicht als Angriff gemeint waren. »Ich würde eher sagen, sie haben euch die Möglichkeit gegeben, eine Rolle in der Befreiung von Castrhys zu spielen. Aber ja, sie waren Späher. Verteidiger bleiben in den Tunneln und werden eher defensiv als offensiv trainiert.«
Sobald er diese Worte geäußert hatte, spielten sich in ihrem Kopf die Bilder der Trainingsszene ab, die sie vor wenigen Momenten beobachtet hatte. »Wir haben gerade den Verteidigern zugesehen, nicht wahr?«
»Genau. Chandra und ich gehören zu ihnen, Kat ist eine Späherin.«
»Was macht ihr dann hier?«
»Kat ist unsere Freundin.« Zum ersten Mal zuckten Conners Mundwinkel. »Sie kann sehr überzeugend sein.«
Das hatte Vìn bereits mitbekommen. Sie war wenig überrascht, dass es das Mädchen mit dem Lockenhaar war, das auch an ihrem nächsten Ziel die Führung übernahm. Der Speisesaal war ähnlich geräumig wie das Trainingsgewölbe, wirkte aber wesentlich zivilisierter. Lange Tafeln und Holzbänke füllten den Raum beinahe vollständig aus. Kerzenhalter an den Wänden und auf den Tischplatten warfen einen warmen Schein auf die Rebellen, die sich über grobe Schüsseln und Teller gebeugt hatten. Quer über Tische und Bänke waren rege Gespräche entstanden, von denen nur Fetzen zu verstehen waren. Ein Gang öffnete sich auf der anderen Seite des Gewölbes, vor dessen Eingang eine weitere Tafel aufgebaut worden war. Sie bog sich unter dem Gewicht der Töpfe, die von einigen Männern mit dunklen Schürzen gebracht wurden.
»Wie könnt ihr hier so viel Nahrung haben?«, brachte Vìn ungläubig hervor. Ocrioll war eine karge Insel, bisher hatte sie hier kaum Spuren von Tieren oder fruchtbarem Boden gesehen.
»Wir haben weiter südlich Weizen angebaut, der überwintern kann«, erklärte Conner erstaunlicherweise, ohne dazu aufgefordert werden zu müssen. »Außerdem haben wir nur im Winter Fleisch, damit sich die Bestände erholen können, wenn es wärmer wird. Dann können wir auf verschiedene Getreide ausweichen.«
Sie fragte sich unwillkürlich, ob ihre Familie nicht hätte hungern müssen, wenn die Soldaten ihre Jagdsaison ähnlich organisiert hätten. Der Gedanke schmerzte und sie krampfte unwillkürlich die Fäuste zusammen. Die Rebellen hatte es nicht gekümmert, woher sie kam und wie sie ihr bisheriges Leben verbracht hatte. Wenn die Bastarde es nur über das Gebirge schafften, würden sie hier alles finden, wonach sie sich gesehnt hatten. Vielleicht, wenn sie erst mit dem Alltag der Rebellen vertraut war, könnte sie mit Verstärkung nach Zaarlos zurückkehren...
Chandra, die sie sanft am Ärmel ihrer abgewetzten Tunika zog, riss sie aus ihren Gedanken. »Setzen wir uns. Kat und Conner holen unsere Rationen.«
Sie folgte der Rebellin zu einer der Tafeln, ging aber nicht auf deren Gesprächsversuche ein. Ihre Augen waren fest auf ihre beiden anderen Begleiter geheftet, die viel zu lang brauchten, den Saal zu durchqueren. Als Kat endlich eine Schale mit Brot vor ihr abstellte, stürzte Vìn sich auf das Essen, das auf Zaarlos nur den Soldaten zugekommen war. Die Bastarde hatten Fleischreste abbekommen, die zäh oder noch roh waren, selten sogar eine Schale voll Eintopf, die übriggeblieben war. Doch Brot war länger haltbar als Eintopf und konnte getrocknet noch den Pferden verfüttert werden. Vìn sah nicht einmal auf, bis sie ihre Ration restlos verschlungen hatte.
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Als sie nach einem Tag voller verwirrender Eindrücke auf einer Pritsche im Schlafgewölbe lag, krampfte Vìns Magen.
Mit zusammengebissenen Zähnen rollte sie sich auf die andere Seite. Sie hatte damit zu kämpfen, keinen Laut über ihre Lippen kommen zu lassen. Der schnelle Atem, der zu ihrer Linken leise an ihr Ohr drang, zeigte ihr, dass Kat noch wach war. Die Rebellin mit der wilden Lockenmähne hatte ihr einen Schlafplatz direkt neben ihrer Liege angeboten, augenscheinlich begeistert über den Neuling in ihrer Gruppe. Sie hatte berichtet, dass der Anführer der Späher – Varnir –, im Normalfall kein frisches Blut duldete, sondern Oona diejenige war, die Neuzugänge unter ihre Fittiche nahm. Doch durch die Ankunft des Colonels verbreiteten sich Gerüchte und Unruhen unter den Rebellen, die besondere Maßnahmen forderten. Wie diese aussahen, wusste selbst Kat nicht.
»Wenn ich meinen Bruder finde, setze ich ihn darauf an«, hatte die Rebellin verschwörerisch geraunt, als sie einen ausgestorbenen Nebengang entlanggelaufen waren, »Er ist der beste Spion hier unten, aber leider auch der eigenwilligste.«
Nach dieser Beschreibung war Vìn nicht überrascht gewesen, dass sich Kester als Kats Bruder herausstellte. Der Junge war eines der wenigen Waisenkinder, die auf Ocrioll lebten, und war nach dem Tod seiner Mutter halb wild in den Tunneln aufgewachsen. Die Ocrioll-Waisen erinnerten Vìn schmerzlich an die Zaarlos-Bastarde. Die Augen zusammenkneifend rollte Vìn sich um sich selbst zusammen. Der Gedanke an ihre Familie schmerzte mehr als ihr rebellierender Magen, und als ihre Bilder vor ihrem inneren Auge auftauchten... Sie presste ihre Handflächen gegen die Schläfen, als könnte das die Bastarde vertreiben.
Milos hatte sie nie loswerden können, nicht durch böse Blicke und schon gar nicht durch geschnappte Beleidigungen. Er hatte das Talent, geradewegs durch ihre Rüstung aus Zorn sehen zu können. Sie wusste, dass sie keine angenehme Gesellschaft war. Ihre Aggression und Ungeduld hatte sie auch gegenüber den Kindern laut werden lassen, nur selten – doch die erschrockenen Blicke auf den Gesichtern ihrer jüngeren Geschwister würde sie nie vergessen. Leiv war der Einzige, der im selben Ton zurückgefaucht hatte, stolzer und wilder als alle anderen.
Tief durchatmend zog Vìn sich ihre raue Decke enger um die Schultern. Unwillkürlich fragte sie sich, ob Arik tatsächlich eine Decke aus dem Haupthaus gestohlen hatte, so, wie er es vor ihrem Aufbruch geplant hatte. Bisher war sie immer zur Stelle gewesen, ihn davon abzuhalten, und stattdessen eine Pferdedecke aus den Stallungen zu entwenden. Sie musste darauf vertrauen, dass Milos ein Auge auf die risikofreudigen Jungen hatte und Torren sich gut in seine neue Aufgabe einfand.
Es war nicht fair. Sie sollte nicht hier liegen, auf diesem verdammten Bett, mit vollem Magen und geschützt gegen die Kälte der Nacht. Bisher war sie ohne derartige Annehmlichkeiten ausgekommen. Die Anwesenheit ihrer Familie war alles, was sie brauchte – ihre Körperwärme, die sie auch im härtesten Winter warmhielt, und ihre Stimmen, die sie langsam in den Schlaf wiegten.
Wenn Vìn gekonnt hätte, hätte sie nicht gezögert, eine Wagenladung voll Proviant und Decken über die Berge zum Lager zu schaffen. Das war doch, weshalb sie zu dieser Reise aufgebrochen war – in der Hoffnung, das Leben ihrer Bastarde zu erleichtern. Vielleicht war der Mord an Kostya nicht der richtige Weg. Vielleicht konnte sie seine Beziehungen zu Caz nutzen, um eine Mission gen Zaarlos zu schicken... Aber der Colonel hatte sich den gesamten Tag nicht gezeigt, und sie hasste sich selbst dafür, dass ihr Blick unwillkürlich die Mengen nach ihm abgesucht hatte. Sie war nicht auf ihn angewiesen, und sie war erleichtert, dass sie seine Gesellschaft nicht länger ertragen musste.
Das Knurren ihres Monsters vibrierte durch ihre Knochen. Es war beunruhigend still gewesen, seit sie ihre Dolche aufgegeben hatte, doch nun drängte es sich mit der vollen Kraft seiner Zähne und Klauen wieder an die Oberfläche. Der Colonel war es, der ihr ihre Messer genommen hatte. Insgeheim hatte sie gehofft, er würde sie ihr lassen, als sie die Dolche mit herausforderndem Blick in seine Richtung gestoßen hatte. Aber in seinem Blick war kein Funken von Verständnis gewesen.
Mit zu Fäusten geballten Händen und unter dem zornigen Blick ihres Ungeheuers beschloss Vìn, sich selbst in den Rängen der Rebellen hochzuarbeiten. Sie würde nach ihren Bastarden schicken, und wenn sie erst vereint waren, konnte niemand sie noch aufhalten, gegen den König zu marschieren. Die Tage seiner Schreckensherrschaft waren gezählt.
Das Kapitel ist vielleicht ein wenig unspektakulär, dafür freue ich mich umso mehr auf das nächste. Wir treffen jemanden, der nicht unbedingt mein Lieblingscharakter, aber auf jeden Fall eine meiner Lieblinsschachfiguren ist!
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