Kapitel 10
Sie hatten erst eine Nacht im Inneren der Schlucht verbracht und waren marschiert, bis die Sonne im Zenit stand, doch Vìn fühlte sich bereits wie ein eingesperrtes Tier. Ihre Blicke wanderten ganz von selbst immer wieder die Felswände hinauf, verzweifelt nach einem Ausweg suchend. Und Kostya trug nicht unbedingt dazu bei, das beklemmende Gefühl zu besänftigen.
Der Colonel lief mit betont entspannter Miene neben ihr, doch seine Schritte schienen schwerer zu werden. Der Marsch ging nicht spurlos an ihm vorbei. Vìn genoss die körperliche Anstrengung, aber innerlich war sie sprungbereit. Ihr Monster hatte sein Fell gesträubt und zuckte bei jeder hektischen Bewegung Kostyas zusammen. Er hatte sie am vorherigen Tag immer wieder angegriffen, aus dem Nichts heraus – sie hatte Schläge gegen den Nacken, ihren Oberarm und ihre Beine einstecken müssen. Sie hatte keine Angst vor Kostya, doch dass sie keine Chance zur Verteidigung hatte, ließ sie vor Anspannung förmlich vibrieren. Und trotz wiederholter Seitenblicke in seine Richtung war sie nicht schnell genug, seinem Schlag gegen ihre Rippen auszuweichen.
Zischend atmete Vìn ein und rieb sich über die pochende Stelle. Kostya hatte den Rhythmus seiner Schritte nicht verändert und hielt seine Augen konzentriert auf den knietiefen Schnee zu ihren Füßen gerichtet.
»Kann es sein, dass es dir Spaß macht, nach mir zu schlagen?«
Er machte sich nicht die Mühe, sein Grinsen zu verbergen. »Mein Vergnügen obliegt vor allem deinem amüsanten Trotz. Aber da das eine das andere bedingt, sicher.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, wie das zu meinem Training beitragen soll.« Sie musste sich zwingen, ihre Wut in einen Vorwärtsdrang umzulenken. Kostya sollte nicht noch mehr Anreiz zu Sticheleien bekommen.
»Eben diese Vorstellungskraft ist es, was dir fehlt, Wölfchen. Du sollst deine Umgebung und dich selbst ständig analysieren.«
Mit einem Augenverdrehen schnaubte sie. »Ich vermeide es für gewöhnlich, dich länger als nötig anzusehen.«
»Bitte, wir wissen beide, wie gutaussehend ich bin. Aber, so schwer dir das auch fallen mag, du brauchst Fokus. Deine rechte Seite ist schwach. Nutze dieses Wissen – schütze sie im Besonderen, und überrasche deine Gegner. Sie werden nicht erwarten, dass du von links angreifst.«
Ihr Mund öffnete sich bereits für eine Erwiderung, da hielt sie inne. Sie konnte sich nicht bewusst an jeden Moment erinnern, doch es schien ihr, als hätte Kostya sich bisher ausschließlich zu ihrer Rechten befunden. Was ging hinter dieser Maske des unnahbaren Colonels vor? Befand er sich tatsächlich ständig in Kampfbereitschaft?
Er fing ihren Blick auf und zog die Augenbrauen hoch.
»Wenn du mich jetzt töten wolltest, wo würdest du mich angreifen?«
Sie schnaubte. »Wenn ich dich jetzt töten wollte, würde ich dir das sicher nicht sagen.«
»Du hast gute Instinkte.« In seinem Unterton schwang eine Spur Zufriedenheit mit. Vìn verengte die Augen. »Aber du willst mich jetzt nicht töten. Also, wo?«
Seine Worte waren kontrolliert, doch die Gelassenheit war aus ihnen verschwunden. Ihre Reise begann, Tribut zu verlangen. Wenn sie Kostya töten wollte...
»Oberschenkel«, presste sie hervor, und im selben Moment sprang sie auf ihn zu. Der Dolch in ihrer Hand zielte auf Kostyas Rippen. Sie waren ungeschützt, als sein Arm mitten im Schritt nach vorn schwang. Für einen Wimpernschlag hörte sie das Reißen von Stoff und spürte einen Widerstand, dann fror die Welt ein. Kostya war zurückgeschnellt und hatte die Hände zur Verteidigung bereit gehoben. Vìn wagte keine Bewegung. Ihr abgehackter Atem färbte die Luft vor ihrem Gesicht weiß. Sie hätte Kostya nachsetzen können, ihn vielleicht sogar zu Boden bringen, doch selbst ihr Ungeheuer verharrte in Lauerstellung.
Es war Kostya, der das eisige Schweigen brach.
»Gut.« Mehr sagte er nicht. Doch er ließ seine Arme fallen und setzte seinen Weg in die Schlucht fort, nicht ein einziges Mal zurücksehend. Sie schloss sich ihm ohne zu zögern an.
»Nicht gut genug. Du atmest noch.« An ihrer Knochenklinge haftete nicht einmal ein Tropfen Blut. Sie war kaum bis zu seiner Haut vorgedrungen.
»Ich würde dich nicht trainieren, wenn ein Mord an mir im Bereich des Möglichen liegen würde.«
Vìn knurrte etwas Unverständliches, über dessen Sinn sie sich selbst nicht ganz sicher war.
Die nächsten Meilen legten sie schweigend zurück. Das Knirschen des Schnees unter ihren Stiefeln war das einzige Geräusch, das die beinahe vollkommene Stille störte. Und selbst das wurde von den eisbehangenen Wänden der Schlucht sofort verschluckt. Die Felsspalte führte sie durch Knicke und Kurven immer tiefer ins Herz des Gebirges. Die Wildnis wirkte vollkommen, so unberührt, als wären sie die einzigen Wesen auf der Insel. Das hier war Vìns Zuhause. Und doch fühlte sie sich fremd hier, weit ab vom Knacken und Heulen im Westwald. Vielleicht war es nicht grundsätzlich eine Niederlage, dass Vìns Attentate misslungen waren. Der Colonel war schlechte Gesellschaft, aber wenigstens schlug ihr Herz nicht allein in dieser Stille. Zumindest, wenn in seiner Brust kein Stein ruhte.
Als Kostya die Stimme hob, verschwand ein Teil der Anspannung aus ihrem Körper.
»Du hast auf meine oberen Rippen gezielt, weil sie ein schwacher Punkt sind und ein Treffer mich stark beeinträchtigt hätte. Durch die Vorwärtsbewegung meines Armes ist es mir schwergefallen, deinen Stich abzuwehren. Außerdem hast du mit rechts angegriffen, weil ich weiß, dass links deine starke Seite ist. Die Wahrscheinlichkeit, dass du mich verletzt, war hoch.«
Er erwartete keine Antwort darauf, und sie hielt ihren Mund geschlossen. Es schien beinahe, als bräuchte er die Sicherheit seiner Analysen, nachdem sie ihn derart überrascht hatte.
»Beinahe alle Gegner, denen du begegnen wirst, werden kampferfahrener sein als du. Sie kommen zu denselben Schlüssen wie du, und das meist schneller. Ich will, dass du mehr denkst. Sei kreativ. Treffe sie dort, wo sie es niemals erwarten werden, und zwar hart genug, dass sich der Kampf zu deinen Gunsten wendet.«
»Ich habe dich getroffen, oder nicht?«
»Wie du bereits sagtest.« Er zuckte die Schultern. »Nicht gut genug.«
Sie bleckte die Zähne, aber sie war über den Punkt hinweg, sich von ihm provozieren zu lassen. »Hätte ich doch auf deinen Hintern gezielt, dann müsste ich dich jetzt vielleicht nicht mehr ertragen.«
Er stieß ein leises Lachen aus, doch es lag keinerlei Freude darin. »Du musst schon zu den Göttern beten, wenn du willst, dass ich vor meiner Zeit von dieser Erde gehe.«
»Ich glaube genauso sehr an die Autorität der Götter wie an die von General Sírnir.«
Sie bemerkte den raschen Seitenblick, den Kostya ihr zuwarf, doch sie hielt ihre Augen stur geradeaus gerichtet. Sie hatte gelernt, den Blickkontakt zu ihm zu vermeiden. In seinem Ausdruck stand für gewöhnlich etwas, das ihr Monster in Sprungbereitschaft versetzte, und für heute war sie auf keinen Kampf mehr aus.
»Unterschätze den General nicht, Wölfchen.«
Kostya ließ seine Warnung ohne weitere Ausführungen in der Luft stehen. Stumm stapften sie nebeneinander durch die Schlucht. Vìn atmete bewusst tief durch, obwohl die Kälte in ihrer Lunge stach. Hier unten war es windstill, doch in der Luft lag trotzdem der Geruch nach neuem Schnee. Ihnen stand ein Sturm bevor.
Kostya riss sie erneut aus ihren Gedanken.
»Wenn nicht an die Götter, woran glaubst du dann?«
Ihre Schritte stockten kurz. Die Frage hatte sie nicht erwartet. Doch die Antwort erschien klar in ihrem Kopf.
»Zaarlos. Die Bastarde.« Sie schob ihr Kinn vor. »Mich.«
Kostya gab nicht die erwarteten Widerworte. Stattdessen nahm sie aus dem Augenwinkel ein leichtes Nicken wahr, mit dem sie nichts anzufangen wusste. Jegliche weitere Reaktion blieb aus, als hätte er seine Energie verloren und müsste sich vollkommen auf den Weg konzentrieren.
Nach sie Meile um Meile gelaufen waren, schmerzten auch Vìns Muskeln. Doch sie genoss die Anstrengung und sehnte sich danach, dass ihre Gedanken vor Erschöpfung verstummten. Kostya aber machte bereits Halt, als der Himmel noch vom letzten Tageslicht erhellt wurde.
Sie folgte seinem Blick zu einer Aushöhlung in der Seitenwand der Schlucht. Die Felsspalte war übersät von Vorsprüngen und Einbuchtungen, doch diese hier hatte sich tiefer in den Stein gegraben. Mit vorsichtigen Schritten wagten sie sich nacheinander ins Zwielicht. Die Höhle war groß genug, dass sie beide in der Nacht vom Wetter geschützt würden, doch zu klein, um unerwünschte Überraschungen zu beherbergen. Kostya musste seinen Kopf einziehen, um aufrecht stehen zu können. Vìn bezweifelte, dass sie auf den nächsten Meilen einen ähnlichen Lagerplatz finden würden. Doch sie war nicht willens, ihre begrenzte Zeit zu verschwenden.
Als Kostya sich umdrehte und Anstalten machte, seinen ledernen Reisebeutel abzulegen, trat sie ihm mit verschränkten Armen in den Weg.
»Ein Übungskampf.« Seine Augenbrauen hoben sich bei ihrem herausfordernden Ton. »Keine heimlichen Überfälle. Als ebenbürtige Gegner.«
»Wir werden sehen, ob wir ebenbürtig sind«, war die knappe Antwort.
Der Colonel folgte ihr in den Schnee heraus, und als sie zu ihm herumfuhr, hatte er bereits sein Schwert gezogen. Ihre Finger fuhren zu ihren Dolchen, doch sie hatte kaum eine Chance, seinen ersten Hieb abzuwehren. Fluchend duckte sie sich. Die Messer waren Verlängerungen ihrer Arme, als sie im selben Atemzug nach vorn sprang und konterte.
»Wie war das mit den heimlichen Überfällen?«, knurrte sie Kostya entgegen, aber der wirbelte nur sein Schwert herum und setzte zu einem Rückhandschlag an. Vìn sich fallen und hieb mit einem Dolch nach seinem Knöchel, doch seine Füße waren längst außer Reichweite getanzt. Scheinbar mühelos drängte er sie zurück und zwang sie zu einer Verteidigungshaltung. Einem plötzlichen Instinkt folgend warf sie sich nach vorn. Sie fing seinen Schlag mit einem der Messer ab und zielte mit der rechten Hand auf seine Rippen. Kostya traf ihre Schulter mit der Faust.
Er leitete seine Bewegungen in eine Drehung um und trat ein paar Schritte zurück, ohne den Rhythmus aus Hieben gegen sie zu unterbrechen.
»Neige deine Klinge in einem flacheren Winkel, wenn du meinem Schwert entgegenkommst«, presste er hervor, »Du musst die Wucht verringern, sonst brechen entweder deine Knochen oder deine Messer.«
Genau wie er zuvor schluckte sie ihre Erwiderung herunter. Ihr Kopf drehte sich von der ständigen Bewegung und sie hatte kaum Gelegenheit, sich eine Taktik zu überlegen. Zum ersten Mal, seit sie auf diese Mission aufgebrochen waren, war ihr zu warm. Der schwere Stoff ihres Umhangs flatterte um ihre Beine, doch Kostya gewährte ihr keine Möglichkeit, ihn abzustreifen.
Es gefiel ihr nicht, wie lässig er sie mit seiner längeren Waffe auf Abstand hielt. Seine dunkelroten Strähnen lockten sich vom Schweiß und in seinen Augen stand ein fiebriger Schein, doch trotz der Anstrengung hatte er die Oberhand.
Vìn hatte ehrlich versucht, ihre klaren Gedanken zu behalten und Herrin jeder ihrer Bewegungen zu sein. Doch als sie sich vor einem harten Schlag wegducken musste und beim Aufrichten einen Schnitt an der Wange kassierte, fror ihr Verstand ein.
Für einen winzigen Moment sah sie ihre eigenen Augen in der Reflektion auf Kostyas Schwert aufblitzen. Gemeinsam mit ihrem Monster wand sie sich an seinem Arm vorbei und schlug ihre Klauen in seinen Nacken. Er wirbelte herum und erwischte sie mit der Breitseite seiner Klinge an der Schulter, doch sie hatte seine Haut bereits aufgerissen. Als ein Blutstropfen von ihrem Dolch in den aufgewühlten Schnee fiel, breitete sich ein zähnebleckendes Lächeln auf ihrem Gesicht aus. Sie konnte die Worte nicht ausmachen, die Kostya ihr entgegenwarf. Der Kampfesrausch nahm all ihre Sinne ein. Wieder und wieder attackierte sie ihn. Die Schläge, die sie einstecken musste, kümmerten sie nicht. Da waren nur noch die geschärften Knochen in ihren Händen, die auf den Mann herabfuhren, der ihre Familie so viele Sonnenkreise unterdrückt hatte.
Als die Bewegungen seines Schwertarms langsamer zu werden schienen, heulte sie triumphierend auf. Ihr Körper war bis in den letzten Muskelstrang angespannt. Vor ihren Augen waren die Messer nur noch weiße Schemen, die sich stellenweise dunkel färbten. Sie schnitten durch Stoff und Haut, trafen auf Rippen und Schultern und Arme. Kostyas Angriff wich sie mühelos aus. Doch er wechselte urplötzlich die Richtung und ihre Hand schien zu explodieren. Instinktiv presste sie ihre Finger an den Körper. Er ließ ihr keine Zeit, sich neu zu orientieren, sondern setzte ihr sofort nach. Ohne ihr zweites Messer hatte sie keine Chance gegen ihn, doch sie weigerte sich, das zu akzeptieren. Ihre Attacken auf ihn wurden immer verzweifelter. Von einem Schnitt in ihrer Augenbraue wurde ihr Sichtfeld gestört. Beinahe blind stieß sie nach seinem Oberschenkel, doch seine freie Hand schnappte urplötzlich nach vorn. Seine langen Finger umklammerten ihr Handgelenk und zwangen sie, die Waffe fallen zu lassen. Er hakte seinen Fuß hinter ihren und stieß sie zu Boden. Sie lag im Schnee, unfähig, sich zu verteidigen, und er lauerte wie ein drohender Schatten über ihr. Seine lohfarbenen Augen bohrten sich wie Leuchtfeuer in ihre. Langsam, als würde sie aus einem Traum erwachen, der sie nicht entkommen lassen wollte, klärte sich ihr Blick. Die feuchte Kälte von unten begann, zu ihr vorzudringen. Und das Pochen unzähliger Prellungen brachte ihren Körper zum Zittern.
Kostya sagte nichts, drehte sich nur stumm zur Höhle um. Doch der Blick, den er ihr über seine Schulter zuwarf, war enttäuscht. Die Welle an Frust, die in ihr aufbrandete, lag nicht nur an ihrer Niederlage.
Ihr glaubt gar nicht, wie sehr ich mich auf das Training der beiden freue!
Übrigens... die Kaz-Brekker-Referenz konnte ich mir nicht verkneifen. Wem ist sie aufgefallen? ;)
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