Die Magie des Waldes
Jedem Menschen wohnt ein Quäntchen Magie inne.
Jedem einzelnen.
Man muss es nur wecken.
„Mom? Ich bin mit Cherry verabredet!", rief Alis durch den Flur. „Ach ja, könntest du vielleicht später mit Benjo rausgehen? Könnte spät werden", setzte sie hinzu, was ihr einen missmutigen Blick von Benjo, der gerade in seinem Körbchen lag, einbrachte. Dann flitzte sie die Treppe hinunter und griff im Vorbeigehen nach ihrem Fahrradhelm.
Ihre Mom lehnte unten am Türrahmen der Küche, ein Geschirrtuch über die Schulter geworfen und mit einem besorgten Gesichtsausdruck. „Bist du dir sicher? Es wird schon bald dunkel und-" Alis unterbrach sie, bevor sie ihr ein schlechtes Gewissen einreden konnte. „In Misty Town, der Stadt am Ende der Welt, bin ich komplett sicher, und zwar vor jeder Art von halbwegs interessanten Vorfällen." Ihre Stimme triefte nur so vor Sarkasmus. „Keine Sorge, ich werde schon nicht von einem der zweihunderteinundzwanzig Einwohner – die du doch sowieso alle persönlich kennst –gekidnappt." Alis' Mom seufzte, hob beschwichtigend die Hände und meinte: „Aber pass gefälligst auf dich auf, alles klar?"
Alis nickte und umarmte sie kurz. Dann schnappte sie sich noch schnell das Fahrradschloss und öffnete die Haustür. Im Rausgehen rief sie noch: „Bis später!", dann verkündete ein leises Klicken, dass die Tür sich geschlossen hatte. Sie setzte ihren Helm auf und verschloss die Schnalle routinemäßig unter dem Kinn.
Kaum hatte sie ihr Fahrrad aus der Garage gerollt, stieg Alis auch schon auf und fuhr los. Ein Geruch von Kiefernnadeln und Erde wehte ihr um die Nase, als sie hinaus auf den Trampelpfad radelte, und der Fahrtwind peitschte ihr ins Gesicht. Sie trat ein wenig schneller in die Pedale. In ihren Ohren rauschte es, und sie genoss, wie die Landschaft an ihr vorbei rauschte. Leider konnte man um diese Uhrzeit nicht allzu viel sehen, aber auch die dunklen Schemen des Misty Forest waren wunderschön anzusehen. Es war eigentlich schade, dass niemand sich für diesen Wald interessierte, wo er doch das einzig Interessante war an der Kleinstadt Misty Town. Ein Wald, von einer dichten Nebelwand umgeben, die selbst im Sommer nicht weichen wollte: Das hatte nicht jeder, schon gar nicht, wenn man munkelte, dass der Wald magisch war.
Als sie das alte vom Wetter gegerbte Holzschild an der kommenden Kreuzung sah, hielt sie an und stieg vom Fahrrad ab. Das war der Treffpunkt. Hier, am Waldrand, trafen Cherry und Alis sich immer, wenn sie etwas gemeinsam unternehmen wollten. Cherry war noch nicht da, und Alis schloss ihr Fahrrad an eine Laterne.
Plötzlich spürte sie ein Ziehen in ihrem Magen. Es fühlte sich an, als hätte jemand ein Seil an ihr befestigt, als wollte sie jemand weg von der Laterne ziehen, hinein in den Misty Forrest. Alis drehte sich um, aber da war niemand.
Natürlich nicht.
Das Ziehen wurde immer stärker. Genauso wie die Neugier, zu erfahren, was es damit auf sich hatte. Sie warf einen Blick auf die Uhr: Cherry würde erst in einer Viertelstunde aufkreuzen. Schließlich wurde ihr Blick wieder zum Wald gezogen. Es schien, als würde der Nebel sich ein wenig lichten, genau an der Stelle vor ihr.
Plötzlich konnte sie einfach nicht mehr anders.
Sie folgte dem Ziehen und durchquerte die erste Nebelwand.
Ich muss ja nicht tief in den Wald hinein gehen, dachte sie. Nicht umsonst galt es als die Lieblingsmutprobe der Jungs, so tief wie möglich in den Misty Forrest vorzudringen. Im Herz des Waldes war – soweit Alis wusste – noch nie jemand gewesen. Falls doch, war er nie zurückgekehrt.
Ein eisiger Schauer lief ihren Rücken hinunter. Sie zitterte ein wenig, aber sie wusste nicht, ob es an der plötzlichen Kälte oder der langsam kriechenden Angst lag, die sich ihrer bemächtigte. Der Nebel nahm ihr die Sicht, und es herrschte Totenstille. Nicht einmal ihre eigenen Schritte konnte sie hören. Der Geruch des nassen Nadelwaldes war stärker geworden, sie konnte ihn förmlich schmecken.
Plötzlich lichtete sich der Nebel ein wenig, er hing nun wie Dunst in der Luft und die untergehende Sonne schien durch ihn hindurch wie durch einen fadenscheinigen Vorhang. Es wurde ein wenig wärmer, doch der eisige, schneidende Wind, der aufkam, ließ sie noch mehr frösteln. Es kam ihr vor, als sog sich der Nebel mit all den kleinen Tröpfchen aus Eiswasser in ihre Kleidung hinein. Sie stolperte, und der abrupte Laut hatte in der Stille etwas Unheimliches. Kurz kam sie zum Stehen und sah auf ihre Uhr.
Der Sekundenzeiger bewegte sich nicht mehr.
Na toll.
Wütend kickte Alis mit der Stiefelspitze gegen einen kleinen Stein. Er landete im Nebel, und sie stöhnte genervt. Das Geräusch verursachte ein gruseliges Echo, als würde der Nebel jeden Ton reflektieren, aber das nahm Alis nur am Rande wahr.
Natürlich wollte sie weitergehen, aber Cherry wartete auf sie...Vielleicht sollte sie umkehren. Sie drehte sich einmal um ihre eigene Achse. Dann noch einmal. Es sah alles so gleich aus...Panik erfasste sie. Wie sollte sie denn nun aus dem Wald hinaus finden? Sie hatte nur ihr Notfalltelefon dabei, ein kleines, uraltes Mobiltelefon, das nichts weiter konnte als Leute anrufen und E-Mails versenden. Doch hier hätte es sowieso nicht genügend Empfang, um zu irgendwem durch zu kommen. Ihr Herzschlag steigerte sich zu einem ängstlichen Flattern, und sie zitterte immer heftiger. Ein Ast knackte.
Erschrocken fuhr Alis herum. Ihr Herz schlug nun so schnell, dass sie befürchtete, es könnte aus ihrer Brust springen. Ihre rechte Hand zitterte wie Espenlaub. Doch da war nichts, nur der allgegenwärtige Nebel.
Aus einem plötzlichen Instinkt heraus rannte sie los, in die Richtung, in die das merkwürdige Ziehen sie zog. Sie konnte an nichts mehr denken, außer daran, dass sie weiter rennen musste. Immer weiter.
Der vorher so dichte Nebel wurde immer dünner. Die kahlen, skelettartigen Bäume zogen an ihr vorbei und bekamen zusehends mehr Blätter. Die beängstigende Stille wich dem leisen Geräusch des Windes im Laub der Bäume und dem harmonischen Gezwitscher der unsichtbaren Vögel in den Baumkronen.
Sie blieb stehen. Die Landschaft hatte sich nun komplett geändert, es sah aus, als hätte jemand eine Linie zwischen dem kalten, gruseligen Ort hinter ihr und dem wunderschönen Wald vor ihr gezogen. Das Ziehen hörte auf, als wüsste es, dass Alis nun sowieso nicht mehr zurück konnte.
Nicht, ehe sie das Herz des Waldes genau erkundet hatte.
Die Sinneseindrücke überfluteten sie förmlich, und es war ein unglaublich berauschendes Gefühl. Sie fühlte den lauen Herbstwind auf ihrer Haut. Eine leichte Böe spielte mit ihrem haselnussbraunen Haar und sie atmete den blumigen Duft ein. Nichts erinnerte mehr an den grauenhaften Nebelwald, den sie gerade eben durchquert hatte. Es war inzwischen stockdunkel, die Sterne strahlten an vereinzelten Stellen vom Himmel herab. Nicht einmal der Mond schien, es war Neumond. Alis hörte ein leises Plätschern und wandte sich in eine andere Richtung. Dort zwischen den schwarzen Silhouetten der Bäume – sie konnte ihre Farben gerade so erahnen – entsprang ein kleiner Bach. Das Sternenlicht warf Reflektionen auf das Wasser, es sah aus, als tanzten kleine Feen über den See. Langsam lief Alis los. Das Laub raschelte unter ihren Schuhen. Sie hörte das Rufen einer Eule. Der Laut pulsierte in ihrem Blut, wie ein zweiter Herzschlag. Ihre Schritte beschleunigten sich und sie begann, mit federnden Bewegungen loszurennen. Sie schloss die Augen und fuhr mit den Fingern die vorbeiziehenden Bäume entlang. Ihre Rinde war zerfurcht und obwohl Alis nicht hinsah, spürte sie jeden einzelnen Knoten und Riss, als würde sie in Zeitlupe darüber streichen. Das Rascheln der Blätter unter ihr wurde leiser und die Geräusche der Tiere und des Bächleins neben ihr immer lauter. Sie roch den erfrischenden Duft des Wassers und den herben Duft der Waldblumen um sie herum. Ihre Augen waren immer noch geschlossen, während sie schließlich in eine Art Sprint verfiel und ihre Schritte immer länger wurden. Sie wunderte sich nicht, warum sie den Bäumen einfach ausweichen konnte, sie spürte es einfach, wenn sie die Richtung ändern musste. Sie vertraute ihrem Instinkt und der Magie des Waldes, die sie durchflutete. Irgendwann, ohne zu wissen, wie viel Zeit vergangen war, blieb sie stehen und öffnete die Augen. Sie stand am Ufer eines funkelnden kleinen Sees. Glühwürmchen schwirrten um sie herum und erleuchteten die spiegelnde Wasseroberfläche. Ihr Blick fiel auf ihr Spiegelbild.
Mit großen, smaragdgrünen Augen blickte ihr das Abbild eines rostroten Fuchses aus dem Wasser entgegen.
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