Zu wenig
Während der Englischstunde musste ich immer wieder an Katharina denken.
Auch wenn ich sie vermisste und große Lust hatte, mit ihr zu schreiben, kam mir diese kurze Nachricht irgendwie zu kurz und nichtssagend vor. Besonders wenn man bedachte, was diese Woche alles passieren war.
Ich hatte die Schule gewechselt und neue Freunde gefunden. Ich hatte meine leibliche Mutter getroffen! Chiara. Erst gestern waren wir uns zum ersten Mal begegnet. Unser Treffen war einfach nur wunderschön gewesen.
Das war zu viel, um meiner allerbesten Freundin nur vier Worte zu schreiben.
Leider war gerade Unterricht, weshalb ich die Nachricht nicht löschen konnte, um etwas völlig anderes zu schreiben.
Die Tatsache, dass wir in der Stunde nur langweilige Grammatik durchnahmen, führte nicht gerade dazu, dass ich auf andere Gedanken kam - zumal ich das auch gar nicht wollte. Katharina hatte mehr verdient, als diese wenigen Worte.
Leider dauerte es ewig, bis die Englischstunde vorbei war. Die Doppelstunde!
Ich hörte kaum zu, redete fast nicht und erledigte mehr schlecht als recht meine Aufgaben.
Das klingt vielleicht übertrieben, aber durch den Gedanken an Katharina war mir erst klargeworden, was erst passiert war. Extrem viel.
Offensichtlich merkte man mir an, wie unkonzentriert ich gewesen bin. Gelegentlich kam nämlich Frau Tieg zu mir und sagte mir, dass ich mich auf den Unterricht konzentrieren sollte. Das brachte aber nicht viel, da ich mit meinen Gedanken immer wieder abdriftete.
Nach dem Unterricht fragte mich meine Klassenlehrerin, ob alles okay war. "Ich hatte bisher nicht den Eindruck, dass du eine schlampige Schülerin bist.", sagte sie zu mir.
"Es ist alles gut", erwiderte ich. Frau Tieg nickte stumm und sagte mir, dass ich jederzeit zu ihr kommen konnte. Ich bedankte mich und ging.
Auch in dieser Pause ging ich in mein Zimmer. Ich hatte jedoch nicht vor, Hausaufgaben zu machen.
Im Zimmer schnappte ich mein Handy und öffnete erneut den Kontakt von Katharina. Ich löschte die Nachricht, die zum Glück noch nicht angekommen war, da Katharina ihr Handy in der Schule immer in den Flugmodus schaltete, um die meisten Benachrichtigungen abzublocken. Ich tippte nun ein paar neue Texte, die ich jedoch alle wieder löschte:
"Ich habe dir viel zu erzählen und du mir auch. Bitte melde dich bei mir"
"Hast du Lust, nach der Schule mit mir zu schreiben?"
"Ich vermisse dich wirklich. Lass uns ein wenig Chatten. Vielleicht hilft das ja."
"Wie geht es dir? Sei ehrlich."
Die haben sich aber alle nicht richtig angefühlten.
Nach ein paar gelöschten Nachrichten fiel mein Blick auf den Schreibtisch, auf dem mein Block und ein Kugelschreiber lagen.
Vielleicht war mein Handy einfach nicht das richtige Kommunikationsmittel, um meiner allerbesten Freundin zu zeigen, wie viel sie mir bedeutete. Möglicherweise war ein Brief in diesem Fall besser, als ein kurzer, getippter Text. Auf jeden Fall hatte er eine größere Bedeutung und war viel persönlicher.
Ich setzte mich an den Schreibtisch und begann zu schreiben:
Hallo Katharina,
Tut mir leid, dass ich mich die ganze Woche nicht gemeldet habe. Irgendwie bin ich einfach nicht dazu gekommen. Ich hoffe, du freust dich über meinen Brief. Einen Brief zu schreiben finde ich einfach schöner, als eine WhatsApp. Das habe ich im Lockdown gemerkt, während ich mit Kia geschrieben habe. Sowas bedeutet einfach mehr, als ein kurzer Text auf dem Handy (und macht mir auch mehr Spaß). Es ist einiges passiert. Ich habe ein paar neue Freunde gefunden. Lily, Sophie und Feli. Die sind total nett. Dich werden sie aber niemals ersetzen. Du bist und bleibst meine beste Freundin. Für immer und ewig. Ich vermisse dich wirklich. Es war aber trotzdem richtig, auf dieses Internat zu gehen. Mir ist es wichtig, dass ich meine biologische Familie kennenlernen kann. Meine Eltern und Milo bleiben natürlich auch meine Familie. Immerhin bin ich bei ihnen aufgewachsen. Aber Kia und Chiara sind halt auch meine Familie und ich will, dass auch diese Familie ein Teil von meinem Leben ist und nicht nur ein Teil meiner Vergangenheit. Verstehst du, was ich meine? Ich bin in einem Zimmer mit meiner Schwester. Irgendwie krass. Bis vor ein paar Wochen wussten wir nichtmal, dass wir Schwestern sind und jetzt teilen wir uns ein Zimmer! Es ist aber auch sehr schön. Sie ist super nett und wir verstehen uns prima. Obwohl wir uns erst so kurz kennen, fühlt es sich gar nicht so an, als ob ich mir mit einem völlig fremden Mädchen mein Zimmer teile. Mehr so, als wären wir zusammen aufgewachsen. Total verrückt. Das ist aber noch gar nicht das krasseste, was ich dir zu erzählen habe. Meine leibliche Mutter lebt ganz in der Nähe (das habe ich dir ja schon erzählt, bevor ich die Schule gewechselt habe). Gestern haben wir uns zum ersten mal persönlich getroffen. Das war wunderschön. Sie war total liebevoll und wir haben uns voll gut verstanden. Chiara hat sich riesig darüber gefreut, dass ich gekommen bin. Ich hoffe, dass wir uns ab sofort öfter treffen. Seit ich meine Geschichte kenne frage ich mich manchmal, wie es gewesen wäre, wenn ich nicht adoptiert worden wäre, also wenn Chiara mich behalten hätte. Vermutlich wäre einiges anders. Auf der anderen Seite bin ich aber froh, dass es so gekommen ist. Mein Leben ist schön und ich hatte eine glückliche Kindheit mit dir und meiner Familie. Es ist nicht so, dass ich denke, dass es bei Chiara nicht schön gewesen wäre, aber eben völlig anders. Es ist kompliziert. Wie geht es dir? Was ist zu Hause los? Vermisst du mich auch so sehr? In den Ferien müssen wir uns unbedingt wieder treffen.
Mit freundlichen Grüßen
Lia
Den Brief zu schreiben fühlte sich tatsächlich besser und richtiger an, als eine kurze und unbedeutende WhatsApp. Nicht nur wegen unserer Freundschaft, sondern auch wegen mir selbst. Es fühlte sich einfach gut an, meine Gedanken und Gefühle auf ein Blatt Papier zu schreiben. Dieses Gefühl hatte ich auch schon im Lockdown, als ich mit Kia geschrieben und mich bei ihr über die ganzen Einschränkungen beschwert hatte, aber auch alls ich ihr von schönen Besuchen bei Oma Juliane erzählt hatte.
In dem Moment hoffte ich ehrlich gesagt, dass Katharina mir mit einem Brief antworten würde, anstatt mir nur eine WhatsApp zu schicken.
Gleichzeitig musste ich an die zwei Jungs denken, die mich damals auf die Idee gebracht hatten, mir eine Brieffreundin zu suchen. Haben die vielleicht doch Handys gehabt? Fanden sie es auch einfach schöner, Briefe zu schreiben?
"Danke", murmelte ich, obwohl mir klar war, dass keiner der beiden Fünftklässler das jemals hören würde. "Ohne euch wäre das alles nie passiert."
Ich faltete den Brief zusammen und legte ihn erstmal unter mein Kopfkissen, bis ich eine Gelegenheit fand, ihn abzuschicken.
Danach war auch die zweite Pause vorbei und ich musste zurück in den Unterricht.
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