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Heraus kam niemand anderer als Lancaster. Ich musste schlucken. Solche Zufälle waren wirklich unheimlich. Was, wenn er ein Stalker war? "Du solltest besser aufpassen, Olivia!", rief er mir lächelnd zu. "Sie hätten mich gerade fast umgefahren", erwiderte ich etwas wütend. "Ist alles in Ordnung?", wollte er wissen und kam mit besorgter Miene auf mich zu, doch dann hupte ein Auto hinter seinem. "Komm, steig schnell ein", meinte er. Ich nickte bloß und folgte ihm. Drinnen war es angenehm warm. Meine Kleidung war völlig durchnässt und meine Haare trieften. "Es ist wirklich ein furchtbares Wetter", jammerte er, "wohin musst du?"
"Zu mir nachhause, aber Sie können mich bei der nächsten Haltestelle absetzen. Ich will Ihnen keine Umstände machen." Ups, er hatte mir doch eigentlich nicht wirklich angeboten, mich fahren zu wollen. Ich verfluchte mich selbst. Schnell versuchte ich von meinem Missgeschick abzulenken:"Vielen Dank, dass Sie mich ein Stück mitnehmen. Wohnen Sie hier in der Nähe? Was für ein Zufall..." Ich hoffte jedenfalls wirklich, dass es ein Zufall war.
"Ich wohne gleich hier um die Ecke." Ich nieste.
"Oh, willst du dich schnell abtrocknen?" Ich fühlte, wie mein Herz zu rasen begann und tausend verschiedene, nicht ganz jugendfreie Lehrergeschichten, welche ich die letzten Wochen im Internet gelesen hatte, spielten sich vor meinem inneren Auge ab. Als ich nichts darauf sagte, zuckte er schnell die Schultern:"Ich will nicht, dass du eine Erkältung bekommst, nachdem ich dich fast umgefahren habe. Das tut mir wirklich leid..." Ich winkte hastig ab.
Seine Wangen wurden ganz rot - wie süß. "Okay, gerne", stimmte ich verlegen zu und wischte mir mit dem Handrücken über mein nasses Gesicht. Das war mehr als nur eine schlechte Idee. Meine Eltern hätten mir den Kopf abgerissen, wäre ihnen das zu Ohren gekommen.
Nur ein paar Minuten später hielten wir vor einem Gebäude und stiegen aus. Flink liefen wir durch den Regen zur Tür und er zückte einen Schlüssel. Schließlich erklommen wir die Treppen zum ersten Stock. Es schien ein altes Gebäude zu sein, denn es hatte diesen speziellen Geruch. "Es ist nicht sehr aufgeräumt, aber das macht nichts, oder?", scherzte Lancaster und ich zuckte zusammen. "Nein, nein!", versicherte ich ihm kopfschüttelnd, aber etwas eigenartig war die Situation schon. Kurz zögerte er, als würde er stark überlegen, dann öffnete er die Tür zu seiner Wohnung. Das hatte ich mir nie erträumt, dass ich jemals zu ihm nachhause kommen würde. "Diese Zufälle sind schon eigenartig", meinte er langsam, als würde er meine Gedanken lesen. "Ja, wirklich!", beteuerte ich und trat hinter ihm ein. Insgeheim dankte ich allen Göttern und Mächten, zu denen ich jemals gebetet hatte.
Neugierig sah ich mich um. Ganz im Gegensatz zu dem alten Gebäude und Stiegenhaus schien die Wohnung unnatürlich modern, aber trotzdem gemütlich. "Was hast du überhaupt in der Gegend gemacht?", wollte er wissen und wir zogen unsere Schuhe und Jacken aus. "Ich war mit ein paar Freunden im Einkaufszentrum." "Oh, okay. Ah, das heißt, dass du trockene Kleidung dabei hast?", gab er erleichtert von sich. Noch bevor ich ihn aufhalten konnte, lugte er in meine Einkaufstüte, welche ich auf dem Boden abgestellt hatte. Der rote Büstenhalter lag ganz oben. Ich wollte im Erdboden versinken. "P-Pardon", stotterte er überrumpelt und stolperte ein paar Schritte rückwärts. "Kein Problem...", meinte ich mit knallrotem Gesicht, "aber nein, ich habe keine. Könnten Sie mir Ihren Föhn leihen?" "Natürlich. Er ist im Badezimmer", informierte er mich - sichtlich noch immer perplex. "Gut, könnte ich vielleicht, wenn es keine Umstände macht, hier duschen? Wenn nicht, ist das auch in Ordnung. Ich kann auch einfach wieder gehen", wollte ich unverschämterweise wissen. Schlimmer und peinlicher würde das wohl kaum noch werden, deswegen ergriff ich die Gelegenheit. Wie in Filmen war diese Situation leider überhaupt nicht. Dort würde spätestens jetzt romantische Musik oder ähnliches einsetzen, um alles etwas aufzulockern und natürlicher zu gestalten. In diesem Moment fühlte es sich einfach furchtbar unangenehm und surreal an. Juhu. "Sicher, wenn du das willst", antwortete er – diesmal mit fester Stimme. Dann zeigte er mir den Weg.
Plötzlich verschwand er kurz in einem Zimmer daneben. "Hier", er hielt mir ein T-Shirt und Socken hin und ich nahm es dankend an mich. "Welch Klischee", murmelte ich. "Was?", fragte er nach, doch ich hatte das Gefühl, dass er mich gut verstanden hatte. Dann sperrte ich die Tür hinter mir zu. Ich konnte mir es nicht verkneifen, die Laden seiner Kommode etwas zu durchstöbern, bevor ich unter die heiße Dusche stieg. Ich war schon ziemlich eigenartig, ich ekelte mich vor mir selbst. Das warme Wasser prasselte auf mich hinab und endlich wurde mir wieder warm. Wie war ich nur in diese unglaubliche, unrealistische Situation gelangt? Ich kicherte leise. Das war einfach zu viel für mich, aber es war auch eine Chance. Immerhin hatte Emma gemeint, ich sollte es machen. Andererseits würde sie solche Dinge nicht sagen, wenn sie gewusst hätte, um wen es sich handelte. Als ich schließlich meine Haare geföhnt und mich angezogen hatte, verließ ich das Badezimmer nur in Unterwäsche, T-Shirt und einem Handtuch, welches ich mir so gut wie möglich um die Hüften band. Schließlich hatte ich keine trockene Hose. Ob das Absicht gewesen war? Meine unmöglichen Gedanken überschlugen sich wieder 'mal und ich kam zu irgendwelchen komischen, voreiligen Schlüssen.
Lancaster saß auf der Couch im Wohnzimmer, doch als er mich sah, weiteten sich seine Augen, obwohl ich bemerkte, wie er sich bemühte, ruhig zu bleiben und mich nicht anzuschreien. Möglichst geschmeidig wollte ich auf ihn zugehen, aber plötzlich traf mich etwas an der Stirn und ich schrie auf. "Na hoppla!", er stürzte zu mir. "Jedes verdammte Mal passiert irgendetwas", zischte ich und rieb mir den Kopf. "Tut mir wirklich leid", entschuldigte er sich und ich sah mich verwirrt um. Ein komisches Gebilde aus Plastik und Glas ragte aus einem Schrank hervor. "Was soll das sein?", wollte ich genervt wissen. "Oh, das habe ich von Ms White zu Weihnachten geschenkt bekommen", erklärte er und kratzte sich im Nacken, "aber du solltest dich erst 'mal hinsetzen." Ich erinnerte mich, dass sie ja auch Kunstlehrerin war. Was für ein scheiß unnützes Ding. Es war als würde sie über uns wachen, diese Hexe.
Vorsichtig setzte ich mich auf die Couch und Lancaster sich neben mich. "Alles in Ordnung?", erkundigte er sich und legte seine raue Hand auf meine Stirn. Tief holte ich Luft, bevor ich die folgenden Worte aussprach:"Sie mögen Ms White, oder?" Überrascht senkte er seinen Arm:"Nein... also, nicht wirklich. Sie ist eine geschätzte Kollegin." Dann hielt er inne:"Wieso muss ich dir das überhaupt erklären?" "Nun ja...", flüsterte ich verlegen. "Egal, warum bist du eigentlich ohne Schirm alleine durch den Regen gerannt?"
"Ich habe mich mit Freunden getroffen."
"Ah, dann werden dich deine Eltern sicher schon vermissen."
"Nein... Ich habe mich mit ihnen gestritten."
"Das heißt aber nicht, dass sie dich nicht vermissen." Aufmunternd lächelte er mir zu. Oh, nein – emotional angehauchte Sprüche.
"Okay, aber ich will nicht nachhause."
"Aber hier kannst du nicht bleiben."
"Nein?", ich sah ihn mit großen Augen an, dann räusperte ich mich:"Natürlich nicht."
"Das würde sich nun wirklich nicht schicken, Olivia. Alle machen sich schon Sorgen."
"Ja, aber ich weiß nicht, wohin ich soll..."
Ich nahm all meinen Mut auf, um die folgenden Worte zu sagen:"Sie haben doch hier eine Couch. Wenn ich hier schlafe, dann stört das niemanden." Laut lachte er auf:"Na ja, viele stört das, denke ich. Das geht wirklich nicht." "Nachdem ich hier geduscht habe", ich sah an mir herab und zeigte auf das T-Shirt an meinem Leib, "und ich Ihr Gewand trage, würde das noch so viel Unterschied machen?" Er legte seine Lippen auf meine und das Feuer packte mich.
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