6. Kapitel - Imladris
Bruchtal war ein Ort, wie ich ihn noch nie gesehen hatte. Unglaublich schön und friedlich, aber irgendwie schien das Tal auch entrückt, als würde es auf eine seltsame Weise von der Aussenwelt abgeschirmt. Ich spürte, dass im Tal eine starke Magie herrschte und hatte bei meiner Ankunft gezögert, diesen Ort zu betreten, doch die Magie hier war freundlich und gut und schien darauf ausgelegt, alles Übel von diesem wundersamen Tal fernzuhalten. In Bruchtal lebten Elben, aber sie waren anders als die Elben meiner Sippe. Die Elben von Bruchtal waren Noldor aus der Sippe des Elbenfürsten Finwe.
«Seid willkommen in Bruchtal», begrüsste uns ein Elb, als wir über die Brücke und zwischen den beiden grossen, steinernen Elbenkrieger hindurchschritten, die die Siedlung von der Umgebung trennte. Der Elb schien nicht überaus begeistert davon, dass Zwerge nach Bruchtal kamen und auch die Zwerge waren den Elben gegenüber misstrauisch, doch die Gesetze der Höflichkeit verbaten es beiden Seiten, sich daneben zu benehmen. Ausserdem brauchten die Zwerge genauso dringend wie ich – wahrscheinlich sogar noch dringender, immerhin hatten sie ihre Ponys verloren – neue Vorräte. Mir wurde im Gegensatz zu den Zwergen nur ein nachdenklicher Blick zuteil, als der Elb mich begrüsste. Wie auch die Zwerge hielt er mich für einen Menschen, fragte sich aber wohl, was einen Menschen bewog, mit Zwergen zu reisen. Doch als dann Korak angeflattert kam und sich auf meine Schulter setzte, wich der Elb doch tatsächlich einen Schritt zurück. Natürlich war Korak ein etwas seltsamer Begleiter, doch die Zwerge hatten seine Anwesenheit stehts hingenommen. Dwalin sprach sogar etwas Rabensprache und konnte mit Korak sprechen, ein weiterer Grund, weshalb er mir mittlerweile nicht mehr so feindselig gegenüberstand. Den nächsten Blick, den ich vom Elben auffing, war deutlich weniger freundlich, sogar noch ablehnender als er sich gegenüber den Zwergen verhalten hatte. Trotzdem liess er auch mich eintreten und führte uns alle ins Haupthaus und in eine grosse Halle, wo uns ein grosser, schlanker Elb mit dunklem Haar entgegenkam.
«Herr Elrond», murmelten die Zwerge und verneigten sich. Schnell tat ich es ihnen gleich und verneigte mich, was Korak verärgerte, der krächzend von meiner Schulter flatterte und es sich auf der Lehne eines prachtvollen Stuhls an der Stirnseite der Halle gemütlich machte.
Offenbar kannten sich Herr Elrond und die Zwerge, nur die beiden jüngsten wurden ihm vorgestellt. «Und das ist Cal», erklärte Ori und deutete auf mich. Elronds Blick lag nun auf mir. Eine Macht schien von ihm auszugehen, ein Wille näherte sich dem meinen. Ich umschloss meinen Stab fester und stemmte meinen Willen gegen seinen und merkte, wie er sich schon nach einer kurzen Berührung zurückzog. «Krakrachz», murmelte ich leise vor mich hin, woraufhin Dwalin mich überrascht anstarrte und Korak am anderen Ende der Halle in keckerndes Lachen ausbrach. Elrond zog eine Augenbraue in die Höhe, sagte aber nichts dazu. Etwas in seinem Blick sagte mir allerdings, dass ich nicht so leicht davonkommen würde.
Elrond lud uns ein, zum Abendessen und über Nacht zu bleiben. «Bleibt, solange ihr mögt», bot er uns an und sein Blick lag dabei auch auf mir. Meine Beleidigung hatte ihn wohl wenig abgeschreckt, sondern eher neugierig gemacht.
Das Essen, das uns aufgetischt wurde, entbehrte jeder Kritik, trotzdem konnten die Zwerge nicht davon lassen, sich zu beklagen, dass es kein Fleisch gab. Mich störte es nicht, die ganzen Jahre bei Radagast war ich schliesslich auch gut ohne Fleisch ausgekommen, der verschrobene Istari würde niemals einem Tier etwas zuleide tun, eher würde er verhungern. Nach dem Essen bot man uns an, in die Festhalle zu kommen, wo Geschichten erzählt und Musik gespielt wurde. Die Zwerge lehnten dankend ab, aber ich beschloss hinzugehen und mir ein paar Geschichten anzuhören. Natürlich hatte man versäumt mir zu sagen, dass die Elben sie in ihrer eigenen Sprache vortragen würden, und so verstand ich kaum ein Wort von dem, was sie erzählten. Trotzdem lauschte ich den Geschichten und vor allem den Liedern, sie hatten etwas an sich, dass mich tief in meinem Innern berührte.
«Versteht Ihr, was sie singen oder braucht Ihr einen Übersetzer?», fragte jemand neben mir und ich zuckte zusammen. Unbemerkt hatte sich ein Mann neben mich gestellt, die Arme verschränkt und auf einem Bein stehend lehnte er an der Wand und beobachtete das Geschehen in der Halle. Er hatte dunkles Haar und graue Augen, ein scharf geschnittenes Profil und Bartstoppeln am Kinn, was ziemlich ungewöhnlich war für einen Elben. Ein Blick auf seine Ohren verriet mir, dass er ein Mensch war. Doch auch nebst dieser Tatsache schien er hier nicht wirklich hinzupassen, mit seiner braunen Kleidung und den Stiefeln, die bestimmt schon bessere Tage gesehen hatten.
«Einen Übersetzer, wenn Ihr so fragt», erwiderte ich.
In den Mundwinkeln des Mannes zuckte es, als er wieder zu mir sah. «Nun, was genau soll ich Euch denn übersetzen? Das Lied über Luthien Tinuviel oder die Geschichte von Turin Turambar?», fragte er schelmisch. Ich hatte selbstverständlich keine Ahnung, ob irgendeine der Geschichten, die er da aufzählte, tatsächlich erzählt wurde, doch aufgrund des Funkelns in seinen Augen, war ich mir ziemlich sicher, dass mindestens eine davon hier noch nicht erzählt worden war.
«Nun, fürs Erste würde ich mich auch mit Eurem Namen zufriedengeben», erklärte ich stattdessen.
Seine Augen blitzten auf und ein breites Grinsen erhellte sein ganzes Gesicht. «Nun, ich bin Aragorn, Arathorns Sohn. Es ist mir eine Ehre, Euch kennen zu lernen.»
«Ich bin Cal, freut mich ebenfalls», erwiderte ich. Aragorn schien noch auf etwas zu warten, doch ich hatte dem nichts mehr hinzuzufügen.
Schliesslich schien er beschlossen zu haben, es dabei zu belassen und fragte mich stattdessen, was mich hierher nach Bruchtal geführt hatte. «Eine lange Geschichte hat mich hierher geführt», sagte ich und dachte an die Erzählung der Zwerge. Das war nicht gelogen.
«Na dann, ich höre gerne lange Geschichten», meinte Aragorn und wechselte sein Standbein. Offenbar machte er sich für ein längeres Gespräch bereit.
«Nun, wenn Ihr die lange Geschichte in aller Ausführlichkeit hören wollt, dann müsst Ihr die Zwerge danach fragen. Sie kennen sie am besten und ich glaube nicht, dass ich all dem, was sie mir in den letzten Tagen erzählt haben, auch nur ansatzweise mit meinen Schilderungen gerecht werden könnte. Ausserdem habt Ihr diese lange Geschichte wahrscheinlich bereits einmal gehört. Sie handelt von einem Drachen namens Smaug und davon, wie die Zwerge, mit denen ich hergekommen bin, ausgezogen sind, um ihre alte Heimat zurückzuerobern», sagte ich und nutzte Aragorns vorübergehende Verblüffung, um mich davonzumachen. «Gute Nacht.»
Auf halbem Weg zu dem Zimmer, das die Elben mir zugewiesen hatte, wurde ich von Elrond abgefangen, der fragte, ob ich vielleicht Lust hätte, ihn auf einen kleinen Spaziergang zu begleiten. Mir nicht sicher, was ich davon halten oder wie ich aus der Sache anders wieder herauskommen sollte, willigte ich schliesslich ein und Herr Elrond führte mich über Brücken und durch Gärten, ganz gemütlich, als hätten wir alle Zeit der Welt. Es dauerte eine ganze Weile, bis er sein Schweigen brach.
«Ihr habt etwas Seltsames an Euch, Cal, etwas, dass ich selten zuvor bei jemandem bemerkt habe», beschied er mir. Ich schwieg. Was sollte ich darauf auch erwidern? Elrond beobachtete mich. «Ich weiss nicht, was Euch hierher geführt hat, oder ob es überhaupt Eure Absicht war, an diesen Ort zu kommen, aber nun seid Ihr hier und Ihr tragt diese ... diese Kraft in Euch – ich würde mich gerne versichern, ob Eure Absichten guter Natur sind.»
«Was würdet Ihr tun, wenn sie es nicht sind?», fragte ich neugierig und auch etwas herausfordernd, was Elrond ein leises Lachen entlockte.
Eine Weile gingen wir schweigend nebeneinander her und beobachteten die Blumenranken, die sich um Bögen und Geländer entlang unseres Weges schlangen, bis Elrond ein anderes Thema anschnitt – dachte ich zumindest. «Was wisst Ihr über die Ringe der Macht, Cal?»
Eine Weile überlegte ich und versuchte mich daran zu erinnern, ob mein Vater mir jemals etwas von Ringen der Macht erzählt hatte, dann fiel mir ein Gedicht ein:
«Drei Ringe den Elbenkönigen hoch im Licht,
sieben den Zwergenherrschern in ihren Hallen aus Stein,
den Sterblichen, auf ewig dem Tode verfallen, neun.
Einer dem dunklen Herrn auf dunklem Thron,
im Lande Mordor, wo die Schatten droh'n.»
«Das reicht», sagte Elrond und hinderte mich daran auch noch den Rest des Verses aufzusagen. «Was wisst ihr sonst noch darüber?»
Ich überlegte. «Nicht viel, nur dass es vor langer Zeit eine grosse Schlacht gab, bei der man dem 'dunklen Herrn' – also Sauron», Elrond zuckte leicht zusammen, als ich den Namen aussprach, «den einen Ring entrissen hat, den mächtigsten von allen.»
«Und sonst?»
«Nichts sonst.» Über die Ringe der Macht und all die Geschichten, die im Lauf der Zeit mit ihnen verbunden waren, wusste man in meiner Heimat gar nichts und das wenige, was ich wusste, kannte ich aus Erzählungen meines Vaters, der allerdings nur ungern über dieses Thema sprach. Seine Aufgabe seien nicht die Ringe, hatte er einmal gesagt, seine Aufgabe sei es, uns hier im Osten zu helfen, uns gegen den Feind zu wehren.
«Neun Ringe für die Menschen, sieben für die Zwerge, drei für die Elben und einen für Sauron. Und fünf Stäbe für die Magkylir. Irgendjemand scheint hier einen Hang zu ungeraden Zahlen zu haben», murmelte ich leise vor mich hin.
Doch scheinbar nicht leise genug, denn Elrond hatte mich gehört und horchte auf. «Was sagtet Ihr da?» Ich wollte abstreiten, etwas gesagt zu haben, doch wie alle Elben verstand es auch Elrond meisterhaft mit Worten Netze zu knüpfen. «Ihr scheint vielleicht nicht viel über die Ringe der Macht zu wissen, dafür aber einiges über die Istari – auch wenn Ihr sie bei einem anderen Namen nennt.»
«Ich weiss kaum etwas über die ... ähm ... Istari», sagte ich und versuchte dabei betont lässig zu wirken.
«Natürlich», meinte Elrond. «Ihr wisst nur, dass es einst fünf Istari gab, was schon mehr ist, als die meisten über sie wissen.» Einst. Er behauptete, dass es einst fünf waren, in diesem Punkt schien er ausgesprochen schlecht informiert. «Was wisst ihr denn sonst noch so über sie?», fragte er interessiert. Am liebsten hätte ich wieder 'Nichts' geantwortet, doch das würde er mir definitiv nicht glauben und auch meine zweite, pampige Antwort 'Das geht Euch nichts an' schien eher unangebracht, also entschied ich mich zu schweigen.
«Ich habe Euren Stab gesehen», sagte Elrond nach einigen weiteren Schritten. «Wirklich ein äusserst schöner Wanderstab. Euch scheint sehr viel an ihm zu liegen.»
Sollte das etwa eine Drohung sein? So oder so, das Gespräch bewegte sich langsam auf ein Gebiet zu, dass ich unter keinen Umständen ansprechen wollte. Wer ich war, ging Elrond nun wirklich nichts an. «Ich suche jemanden», platzte ich heraus. Elrond sah mich irritiert an. «Ihr wolltet doch wissen, weshalb ich hier bin: Ich suche jemanden – also nicht hier in Bruchtal, aber in Eriador – man hat mir gesagt, dass die Chancen gut stehen, dass ich ihn hier finde.»
«Wen denn?», fragte Elrond.
Ich biss mir auf die Unterlippe, unsicher, was ich darauf antworten sollte. Ach was sollte es, Elrond schien ein guter Mann zu sein und ausserdem Recht bekannt, wahrscheinlich konnte er mir sogar helfen. «Einen Istari. Sein Name ist Olórin.»
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