4. Kapitel - Aiwendil
Der verhutzelte Mann bot mir an, ihm auf eine Tasse Tee in seine Hütte zu folgen. Misstrauisch stapfte ich hinter ihm her, immer noch eine Hand auf dem Schwertknauf. Dieses Männlein war irgendwie seltsam und es gefiel mir ganz und gar nicht, dass er wusste, dass ich eine Frau war.
«Nimm doch Platz», bot der kleine Mann an und wies auf einen Tisch in der Ecke während er selbst mit einer Teekanne in der Küche fuhrwerkte. «Aber gib mir ja acht auf den Igel!», wies er mich noch darauf hin, als ich mich gerade setzen wollte und ich sprang sofort zurück, als ich den auf einem Kissen schlafenden Igel auf der Bank sah. Beinahe hätte ich mich auf dieses Nadelkissen gesetzt. Mein Hintern hätte mir das nie verziehen, von dem Igel ganz zu schweigen. Vorsichtig griff ich nach dem Kissen und schob es etwas zur Seite. Der Igel blinzelte und sah mich aus treuherzigen Augen an, bevor er seinen Kopf wieder auf seine kleinen Pfoten legte und selig weiterschlief.
«Er mag dich», stellte das Männlein fest, während er ein Teeservice auf den Tisch stellte und auf der anderen Seite des Tisches platz nahm. «Das ist gut, wenn die Tiere dich mögen, dann hast du eine gute Seele.»
«Ähm, danke?», erwiderte ich.
Der verhutzelte Mann lächelte mich breit an und Fältchen bildeten sich in seinen Augenwinkeln. «Entschuldige meine Unhöflichkeit, ich sollte mich erst vorstellen: Ich bin Radagast; manchmal auch Radagast der Braune genannt.»
«Äh, ich bin Cal», erwiderte ich immer noch etwas verwirrt.
«Cal also. Und was führt dich hierher in den Düsterwald, so ganz allein und abseits aller Wege?», fragte Radagast und musterte mich neugierig mit seinen dunklen Augen.
«Ich bin auf dem Weg nach Westen, ich suche ...», ich hielt inne, nicht sicher, was ich erzählen sollte und was besser nicht.
«Ja?», fragte Radagast.
«Kennt Ihr einen gewissen Curumo?», fragte ich schliesslich.
Nun kniff Radagast die Augen zusammen und musterte mich eingehender. Er schien nach irgendetwas Ausschau zu halten, einem Zeichen oder einem Hinweis wahrscheinlich, jedenfalls schien er misstrauisch geworden zu sein. «Vielleicht», antwortete er vorsichtig.
«Oder einen Aiwendil oder Olórin», setzte ich hinzu.
Radagast zog eine Augenbraue hoch. «Wieso fragst du?»
«Nun ich ...» Ich wusste nicht, wie ich es angehen sollte. Dieser Radagast wusste etwas, da war ich mir ganz sicher, die Frage war nur, wie ich es aus ihm herauskitzeln konnte. «Ich soll mich diesem Curumo vorstellen, um in einen Orden aufgenommen zu werden», sagte ich kryptisch.
Radagasts andere Augenbraue war ebenfalls in die Höhe gewandert und er sah mich verblüfft an. «Aber das kann nicht sein», murmelte er vor sich hin und fragte dann: «Wer bist du wirklich, Cal?»
Ich seufzte. Nachdenklich musterte ich den verhutzelten, kleinen Mann, dessen Anblick mich immer noch seltsam dünkte. Ich würde reinen Tisch machen, beschloss ich. «Mein Name ist Calenna, Tochter von Mórwen und Alatar. Ich komme von Cuiviénen.»
Wenn möglich wurden Radagasts Augen noch grösser. «Alatar! Alatar!», rief er freudig. «Er lebt also noch und ist wohl auf, ja?»
Ich nickte verwirrt.
«Wie geht es ihm? Woher kennst du ihn? Moment mal ... du sagtest, er sei dein Vater!?»
Radagast sah mich an als hätte ich mich vor seinen Augen in einen Ork verwandelt.
«Äh, ja, er ist mein Vater. Und der meiner Schwester und meiner Brüder. Und es geht ihm gut, jedenfalls soweit ich weiss, immerhin ist es mehr als drei Jahre her, seit ich mich auf den Weg gemacht habe. Alles in Ordnung?», fragte ich Radagast, der während meines Berichts ziemlich blass um die Nase geworden war.
«Aber es wurde uns doch verboten, uns eine Frau zu nehmen», murmelte er in seinen üppigen, braunen Bart.
«Woher kennt Ihr meinen Vater eigentlich?», stellte ich die Frage, die mir unter den Fingernägeln brannte.
Radagast sah hoch und blickte mich mit einem undefinierbaren Gesichtsausdruck an. «Ich bin Aiwendil», erklärte er. «Ein Istari, genau wie du einer sein musst, habe ich nicht recht, Calenna?»
'Istari'. Das Wort klang fremd und lag mir schwer auf der Zunge. War das das Wort, dass in der Gemeinsprache für die Magkylir verwendet wurde? Schon möglich, allerdings klang es irgendwie zu rund dafür. Die Worte der Gemeinsprache waren in der Regel eher kantig.
Radagasts Blick huschte inzwischen zu meinem Wanderstab, den ich immer noch fest in der Hand hielt. Eingehend betrachtete er die Runen und streckte dann seine Hand nach dem Stab aus. Zögerlich übergab ich ihm den Stab und er untersuchte ihn genauer, fuhr mit dicken, klobigen Fingern die einzelnen Runen nach. «Der Stab eines Istari, weshalb ist mir das nicht gleich aufgefallen. Alatar hatte einen recht ähnlichen. Das ist doch nicht etwa seiner?» Ich schüttelte auf Radagasts fragenden Blick hin den Kopf und er fuhr damit fort über den Stab zu streichen. Schliesslich gab er ihn mir zurück. «Ein Istari ist nichts ohne seinen Stab, also pass gut darauf auf, Calenna. Aber das weisst du sicher», sagte er, genau wie mein Vater es tausende Male getan hatte.
Danach löcherte mich Radagast mit Fragen nach meinem Vater, meiner Heimat, meiner Familie und so weiter. Er war mehr als erstaunt zu hören, dass wir bei einem Volk aus Elben, Menschen und Zwergen lebten, die sich im ersten Zeitalter Ardas zusammengeschlossen hatten um einen Diener Melkors niederzuschlagen – einen Maiar, wie Sauron einer war –, der sich im Osten von Mittelerde häuslich hatte einrichten wollen. Radagast war erfreut zu hören, dass mein Volk nun auch gegen Sauron kämpfte, genau wie die Völker im Westen Mittelerdes und dann geriet er ganz und gar aus dem Häuschen, als ich ihm erzählte, dass Pallando – der fünfte Magkylir, oder Istari – weiter südlich von meiner Heimat eine Gruppe von Menschen um sich versammelt hatte und ebenfalls den Aufstand probte. Allem Anschein nach hatte Radagast nicht damit gerechnet, je wieder von seinen beiden alten Freunden zu hören, umso mehr freute er sich jetzt.
Schliesslich kamen wir wieder darauf zu sprechen, was ich denn hier im Westen von Mittelerde wollte, wo mein Volk doch auf jede erdenkliche Hilfe im Kampf gegen Sauron angewiesen war. «Ich soll mich Curumo vorstellen, damit er mich, als oberster des Ordens, offiziell in die Reihen der Magkylir – ich meine der Istari – aufnimmt. Mein Vater hat mir ein Schreiben mitgegeben, das meinen Anspruch belegt.» Ich zog meinen Rucksack auf meine Knie, wühlte darin herum und hielt dann schlagartig inne. Die Nähte waren an einer Stelle ganz sorgfältig aufgeschlitzt worden und der Brief war weg. Und ohne Brief würde Curumo wohl nicht gewillt sein, mir zu glauben, meinte Radagast, als ich ihm davon erzählte.
«Er will eben immer alles doppelt und dreifach bewiesen haben», erklärte Radagast. «Er war schon immer so skeptisch. Eigentlich ja keine schlechte Eigenschaft, aber für dich ist es jetzt doch recht ungünstig.»
Radagast wirkte nachdenklich, während ich verzweifelte. Sollte die ganze Reise einfach umsonst gewesen sein? Mehr als drei Jahre hatte der Weg von meiner Heimat hierher gedauert. Fast vier Jahre, wenn man die Zeit in den Kerkern des Erebors mitrechnete. Und jetzt stand ich hier und hatte überhaupt nichts in der Hand und somit auch keine Chance, die Aufgabe zu erfüllen, wegen der ich gekommen war.
«Und es gibt nicht die geringste Chance, dass er mich doch aufnimmt?», fragte ich Radagast bedrückt, doch der verneinte.
Eine Schale heisser Suppe – meine erste warme Mahlzeit seit Wochen – und das Angebot eine Weile hier zu bleiben – und in einem richtigen Bett schlafen zu können – heiterten mich schliesslich wieder etwas auf und meine Zukunft kam mir nicht mehr gar so schwarz und hoffnungslos vor.
Wie lange genau ich bei Aiwendil – oder Radagast, wie die Menschen ihn nannten – blieb, konnte ich im Nachhinein nicht mehr genau feststellen, aber es war jedenfalls eine lange Zeit. Anfangs hatte er mir angeboten, ein paar Tage zu bleiben, bis mir etwas einfallen würde, das ich tun konnte, um Curumo zu überzeugen. In der Zwischenzeit verfolgte ich, wie Radagast sich um die kranken und verletzten Tiere kümmerte und um sterbende Pflanzen und Bäume und schliesslich bat ich ihn, mich in diesen Dingen zu unterweisen. Radagast tat es nur zu gerne und lehrte mich, wie man aus Kräutern Salben herstellte und Tinkturen braute, wie man eine Wunde richtig reinigte und verband, einen Bruch schiente oder eine Verstauchung behandelte. Wie man einen Schnupfen kurierte, Fieber senken konnte, eine Entzündung bekämpfte. Wie man vorgehen sollte, wenn man es mit einer unbekannten Krankheit zu tun hatte und schliesslich auch, wie man mit Magie heilen konnte.
«Dem schwarzen Anhauch zum Beispiel», erklärte er, «ist nur mit den Künsten der Magie beizukommen, wenn man sie den richtig einzusetzen weiss. Oder aber, wenn man den Legenden trauen darf, mit den heilenden Händen des Königs von Gondor, doch es ist lange her, dass es in Gondor einen König gab, und fraglich, ob es je wieder einen geben wird.»
Mit der Zeit lehrte Radagast mich auch, mit den Tieren zu sprechen, damit ich nicht mehr die ganze Zeit darauf angewiesen war, dass Korak für mich übersetzte. Der Rabe war mir ein treuer Gefährte geworden und folgte mir auf Schritt und Tritt und hielt immer Ausschau nach unliebsamen Überraschungen, wie es sie im Düsterwald doch allzu oft gab. Vor allem im Süden des Waldes wimmelte es von düsteren, gefährlichen Kreaturen und die ganze Gegend war verseucht, seit der Nekromant sich in Dolguldur niedergelassen hatte. Und auch wenn er die alte Festung mittlerweile verlassen und in sein altes Reich zurückgekehrt war – Mordor – waren doch einige von seinem Gefolge immer noch dort zu Hause und unterstanden dem Befehl eines Nazgûl. Der Nazgûl war es auch, der den schwarzen Anhauch unter den Geschöpfen im Wald verbreitete, wodurch Radagast und ich allerhand zu tun hatten. Aber nicht nur um die kranken Tiere kümmerten wir uns, manchmal kamen auch Menschen aus dem nahegelegenen Dorf Rhosgobel, wenn ihr eigener Heilkundiger in einer Angelegenheit keinen Rat mehr wusste. Manchmal konnten wir ihnen dann helfen, manchmal war es bereits zu spät und alles was wir noch tun konnten, war ihre Schmerzen zu lindern, damit sie auf dem letzten Stück ihres Weges weniger leiden mussten.
Vier Winter waren so ins Land gezogen, ohne dass ich mich gross darum gekümmert hatte. Das Geschehen im Wald und das Kümmern um die Tiere und Pflanzen hielt mich so auf Trab, dass die Zeit unbemerkt an mir vorbeiglitt. Doch an diesem Frühlingsmorgen wachte ich mit einem ungewohnten Gefühl auf, einem Drang etwas zu tun, etwas anderes, als nur den kranken Tieren und Menschen zu helfen und die Hinterlassenschaften einer dunklen Macht zu beseitigen. Ich musste etwas gegen das eigentliche Übel tun, das stand mir an diesem Morgen ganz klar vor Augen.
Radagast nickte nur, als ich ihm beim Frühstück davon erzählte und meinte: «Ich wusste, dass du früher oder später zu diesem Schluss kommen würdest. Du bist jung, Calenna, und es wundert mich nicht, dass du dich auf lange Sicht nicht mit dieser Arbeit hier zufriedengeben wirst. Hast du bereits einen Plan, was du tun wirst?»
Bei diesen Worten schrumpfte mein Tatendrang in sich zusammen, doch er erlosch nicht. Radagast hatte recht: Ich konnte zwar ins Blaue hinein davonziehen, doch wahrscheinlich würde mich das nicht sehr glücklich machen. Ich brauchte eine Aufgabe und einen Plan – oder zumindest Ansätze eines Plans – wie diese Aufgabe umzusetzen wäre. Und eine Aufgabe war schnell gefunden. Im Grunde genommen, war es von vorneherein klar gewesen, dass ich mich weiter um die Aufnahme in die Reihen der Istari bemühen musste, um dann gemeinsam mit denen, die aktiv gegen den Feind vorgehen wollten, zu kämpfen.
«Curumo wirst du nicht leicht überzeugen können», griff Aiwendil das Thema wieder auf, dass mich vor all den Jahren zum Aufgeben bewogen hatte. «Allerdings, wenn ich es mir recht überlege, könnte es natürlich sein ... wenn du Olórin von dir überzeugen kannst ...», überlegte er.
«Dass er mir glaubt, wenn Olórin es tut», kürzte ich Radagasts Ausführungen ab.
«Genau», strahlte er mich an.
«Nun gut, und wo finde ich Olórin?»
«Öhm...», machte Radagast und guckte ratlos aus dem Fenster, «das könnte zum Problem werden.» Er verzog sein Gesicht während er nachdachte. «Anders als Curumo und ich – und als Alatar und Pallando – ist er nie sesshaft geworden. Er zieht immer noch durch die Welt und ist mal hier und mal dort, und besonders da, wo es gerade am heissesten zu und her geht. Allerdings ist es momentan doch eher ruhig und friedlich – verdächtig ruhig und friedlich.»
«Na gut, aber wenn es keinen Aufruhr gibt, wo ich ihn suchen könnte, wo denn dann?»
Radagast überlegte und starrte dabei nachdenklich aus dem Fenster. Eine Weile beobachtete ich ihn, dann zupfte etwas an meinem Hemd und ich nahm die Hände aus dem Schoss und schaute dem kleinen Igel, der mich gezupft hatte, zu, wie er über mein Bein in meinen Schoss krabbelte und es sich dort gemütlich machte. Es pikste etwas, doch das Leder, aus dem die Hose war, fing glücklicherweise das meiste ab. Und auch wenn, der Kleine war einfach so niedlich, wie er so eingerollt da lag und einfach wunschlos glücklich aussah.
«Ich habe eine Idee», verkündete Radagast schliesslich mit einem Funkeln in den Augen. «Vor ein paar Jahren hat Olórin den Zwergen geholfen, den Erebor zurückzuerobern.» Ich verzog das Gesicht bei diesen Worten, denn sie riefen mir meine ungerechtfertigte Gefangenschaft bei den Zwergen wieder ins Gedächtnis. Radagast bemerkte nichts davon und erzählte munter weiter: «Für dieses Unterfangen hat er einen Meisterdieb angeheuert. Einen Hobbit.»
«Was ist ein Hobbit?», fiel ich ihm ins Wort. Von Hobbits hatte ich noch nie etwas gehört.
«Das sind nette, kleine Leute, so viel ich weiss. Etwa halb so gross wie ein Mensch, mit krausem Haar und spitzen Ohren und haarigen Füssen. Sie sind nicht besonders mutig, wenn ich das recht verstanden habe und sie leben in einer Gegend, die sich Auenland nennt.»
«Aha», machte ich und versuchte mir so einen Hobbit bildlich vorzustellen. Es gelang mir nicht wirklich. Haarige Füsse und spitze Ohren wie die Elben? Irgendwie ging das nicht so recht zusammen. «Und wo liegt dieses Auenland?»
Radagast zuckte die Schultern. «Keine Ahnung, irgendwo in Eriador, im Westen jenseits des Nebelgebirges.» Das war eine sehr vage Auskunft. Aber einen Moment mal, ich hatte doch ... Ich schubste sachte den kleinen Igel aus meinem Schoss und sprang dann auf, um aus meinem Zimmer die beiden Karten vom Westen Mittelerdes zu holen, und breitete sie auf dem Tisch aus, wobei ich ein paar Nüsse bei Seite schieben musste und deshalb von einem Eichhörnchen empört angekeckert wurde. Radagast sah mir neugierig zu, während ich die Karten glattstrich und beugte sich interessiert über sie. Besonders die alte Karte schien ihn zu faszinieren und ein wehmütiges Lächeln zeigte sich auf seinem Gesicht, woran ich erkannte, dass er wieder einmal in Erinnerungen schwelgte. Ich interessierte mich mehr für die aktuelle Karte, die alte hatte ich eigentlich nur wegen der Ortsnamen, die dort auch in der Sprache der Elben angegeben waren, mitgenommen. Nachdem ich den Düsterwald und Rhosgobel, das nahegelegene Dorf, lokalisiert hatte, suchte ich mit Hilfe von Radagasts Auskunft nach dem Auenland. Eriador war nicht schwer zu finden, immerhin war es ein riesiges Gebiet, dass sich über die ganze Breite zwischen den Ered Luin, den Blauen Bergen, und dem Nebelgebirge ausbreitete. Zu meiner Überraschung fand ich das Auenland beinahe auf Anhieb; netterweise war es ziemlich genau in der Mitte von Eriador platziert. Und nach einem Weg brauchte ich auch nicht lange zu suchen, die Strasse, die auch durch den Düsterwald führte, setzte sich über einen Gebirgspass fort und führte hinter den Bergen durch ganz Eriador und mitten durch das Auenland.
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