3. Kapitel - Der Düsterwald
«Quer durch den Düsterwald, nur weil ein Vogel behauptet, dass er uns führen könne? Das ist Wahnsinn!», rief Langfinger aus, nachdem ich ihm von Koraks und meinem Entschluss berichtet hatte.
«Korak ist ein Rabe und ich vertraue ihm.»
Langfinger lachte humorlos. «Du bist wahnsinnig, Cal, wenn du das auch nur in Erwägung ziehst. Der Düsterwald ist schlimm genug, wenn man ihn auf einer der Strassen durchquert.»
«Wahrscheinlich ist er weniger schlimm als sein Ruf. Ich bin schon in vielen Gegenden gewesen, die sich als weniger schlimm herausgestellt haben, als die Leute behaupteten», widersprach ich.
Langfinger schüttelte nur den Kopf. «Man merkt, dass du nicht von hier kommst.»
Während des Gesprächs waren wir weitergegangen und hatten nun den Waldrand erreicht. Hier beschlossen wir zwischen ein paar Büschen ein Nachtlager aufzuschlagen und uns für den Rest der Nacht auszuruhen. Korak würde in der Zwischenzeit über den Düsterwald fliegen und nach einem geeigneten Weg Ausschau halten. Kaum hatte ich meine Decke ausgebreitet und mich hingelegt, schlief ich auch schon ein.
*****
Dirren sah hinunter auf den schlafenden Mann. Eigentlich war er mehr ein Junge als ein Mann. Keinerlei Anzeichen von Bartstoppeln und so dürr und schmächtig und die kindlichen Gesichtszüge. Was hatte dieser Junge nur ausgefressen, um in den Verliesen der Zwerge zu landen? Es war seltsam, irgendwie fühlte er sich für den Jungen verantwortlich. Immerhin hatte der ihn aus den Kerkern befreit. Dirren fragte sich noch immer, wie der Junge es eigentlich geschafft hatte, sich zu befreien. Vielleicht war er schlank genug gewesen, um sich durch die Gitterstäbe zu quetschen, dachte er schmunzelnd. So jemand wäre sicher ein nützlicher Weggefährte. Vor allem für einen Dieb wie ihn. Der Junge würde an so einige Dinge herankommen, die für ihn unerreichbar wären. Dirren schüttelte den Kopf. Er musste diese aufkeimenden Gefühle verdrängen. Ja, vielleicht sollte er sich einen jungen Mann suchen, der ihm behilflich sein konnte, doch Cal war dazu definitiv nicht geeignet. Der Junge hatte einen zu starken Willen. Egal was Dirren sagen würde, dieser Sturkopf würde den Weg mitten durch den Düsterwald einschlagen und sich dabei auf die Führung eines Raben verlassen. Eines Raben! Der Junge glaubte, er könne mit Vögeln sprechen. Er musste verrückt sein. Das war es: Cal war verrückt. Und deshalb konnte Dirren auch nicht mit ihm mitgehen, so einfach war das. Er erhob sich und rollte seine Decke zusammen, griff nach seinem Rucksack, band die Decke fest und schulterte ihn. Er hatte sich bereits einige Schritte von dem schlafenden Jüngling entfernt, als er innehielt und zurückschaute. Mit wenigen Schritten ging er neben Cal in die Knie und griff nach seinem Rucksack. Mit geübten Griffen und so leise, wie es nur mit langjähriger Erfahrung möglich war, räumte er den Rucksack aus. Den Proviant, den Wasserschlauch, darunter die beiden Karten, die von den Zwergen und die andere, seltsame Karte – allerdings bezweifelte Dirren, dass sie wertvoll genug war, um sie zu verkaufen – ein paar Kleider zum Wechseln, darunter dicke, warme Winterkleidung. Langfinger fragte sich, weshalb Cal Winterkleidung mit sich herumschleppte, schliesslich hatten sie Frühsommer. Damit war der Rucksack leer, mal abgesehen von ein paar Krümeln vertrockneten Brots, die wohl schon länger in dem Rucksack gelegen hatten. Das konnte doch nicht sein. Dirren drehte den Rucksack um und schüttelte ihn und tatsächlich, mit einem leichten Klirren fiel eine Geldbörse aus einem Seitenfach des Rucksacks. Dirren fing sie geschickt auf, bevor sie laut klirrend auf den Boden treffen konnte, und schaute hinein. Es waren nur ein paar wenige Kupferstücke und eine einsame Silbermünze darin. War das denn zu fassen? Dieser Junge reiste mit nichts als ein paar Kleidern, einer Karte und einigen Münzen von geringem Wert. Aber Dirren war nicht gewillt, sich mit den paar Münzen zufrieden zu geben und tastete den Rucksack weiter ab und bald ertastete er etwas, dass zwischen die Stoffschichten eingenäht sein musste. Er zog ein schmales Messer aus seinem Stiefel und trennte eine Naht nahe des Gegenstands auf, bevor er mit zwei Fingern danach fischte. Es war ein Brief. Ein zusammengefaltetes Stück Pergament, verschlossen mit einem blauen Siegel. Die Prägung kannte Dirren nicht, doch sie sah wichtig aus. Auf dem Pergament standen einige geschwungene Schriftzeichen, die Dirren jedoch nicht lesen konnte. Zwar konnte er lesen – jeder Dieb, der etwas auf sich hielt, konnte das; allein deshalb schon, damit ihm nicht eine mögliche, gute Gelegenheit entging – doch diese Schriftzeichen waren ihm fremd. Trotzdem beschloss Dirren den Brief mitzunehmen. Wieso sollte man einen Brief in einen Rucksack einnähen, wenn er nicht wirklich wichtig war? Und wohl auch streng geheim. Wenn er an den richtigen Mann kam, würde Dirren das Schreiben sicher für teures Geld verkaufen können. Kurzerhand steckte er den Brief ein und gleich auch die Geldbörse. Dieb war Dieb. Dann räumte er den Rucksack wieder ein und machte sich aus dem Staub. Cal merkte von all dem nichts, sondern schlief selig und träumte von einem Bett zu Hause weit im Osten.
*****
Ich wachte erst auf, als Korak mit einem lauten Krächzen neben mir landete. Die Sonne stand schon hoch am Himmel und der Rabe informierte mich, dass ich lange geschlafen hatte und wir nun unbedingt aufbrechen müssten. Ich sah mich nach Langfinger um, doch er war nirgends zu sehen.
«Er muss sich aus dem Staub gemacht haben. Als ich in der Morgendämmerung zurückkam, war er jedenfalls nicht mehr hier», erklärte Korak.
Ich seufzte: «Nun, er schien ohnehin nicht sehr begeistert zu sein von unserem Plan, den Düsterwald zu durchqueren.»
«Natürlich nicht. Er ist ein Krakrachz», machte Korak. Langfinger war eine Krähe? Was sollte das den heissen? Korak klärte mich auf und ich begriff, dass sich 'Krähe' aus der Rabensprache auch als 'Feigling' übersetzen liess.
Korak drängte zum Aufbruch und so räumte ich mein Nachtlager zusammen und griff – nachdem ich einen Happen gegessen und einen Schluck getrunken hatte – nach meinem geschnitzten Wanderstab und folgte dem Raben tiefer in den Wald hinein.
Stunde um Stunde führte er mich auf einer einigermassen geraden Strecke durch den Wald hindurch und liess mich zwischendurch immer wieder ein Stück allein weitergehen, während er sich über die Baumwipfel aufschwang und nach dem Weg sah. Tage vergingen so, vielleicht auch Wochen. Nachts stieg ich auf Koraks anraten hin jeweils auf einen Baum und schlief so gut es eben ging in einer Astgabel – immer mit der Befürchtung hinunterzufallen. Und wie die Zeit so verging und sich von eintönigen Tagen zu Wochen ausdehnte, geschah, was unweigerlich geschehen musste. Ich bekam meine Tage. Ich presste mir die Hand auf den Bauch, während ich trotz des Ziehens in Magennähe weiterlief. Und weiter und weiter und weiter. Meine Brustwarzen schmerzten unter dem Verband, den ich mir straff um den Oberkörper gebunden hatte, um dieses Zeichen auf meine eigentliche Identität zu verstecken. Wieso ich das tat? Nun, es war nicht zu leugnen, dass man als Mann um einiges sicherer reiste denn als Frau, auch wenn es in der Wildnis und in den von den Orks und den dunklen Menschen kontrollierten Gebieten trotzdem niemals sicher war. Auch meine einstmals schönen, dunklen Locken waren diesem Versteckspiel zum Opfer gefallen und meine kurze Strubbelfrisur kündete davon, dass ich beim letzten Mal nichts als mein Schwert gehabt hatte, um sie zu stutzen. Das kann ich übrigens nicht weiterempfehlen. Ich weiss bis heute nicht, wie es mir gelungen ist, mich dabei nicht zu enthaupten.
«Kro kor krako!», informierte mich Korak, als er das nächste Mal zwischen den Ästen zu mit hinabsegelte und sich auf meine Schulten setzte, um sich etwas auszuruhen. Wir sind bald da. Die Frage war nur, wo 'da' war. Etwa eine Stunde später brach ich durch ein paar Sträucher und landete beinahe in einem Fluss. In letzter Sekunde gelang es mir, mich an einem Ast festzuhalten. Korak flatterte empört krächzend von meiner Schulter, als ich so plötzlich taumelte.
«Und wie kommen wir jetzt da rüber?», fragte ich Korak, während ich auf das schnell fliessende Wasser sah und den Fluss hinauf und hinab blickte. Korak wirkte verlegen. Offenbar hatte er daran nicht gedacht. Irgendwie verständlich, immerhin hatte er selbst sich nie über so etwas Gedanken machen müssen. Trotzdem war der Rabe sehr bedrückt, als sich herausstellte, dass sein genialer Plan einen Haken hatte. Er folg sofort los, um nach einer Möglichkeit zu suchen, den Fluss zu überqueren. Währenddessen beschloss ich, die Zeit, in der er weg war, für ein längst überfälliges Bad zu nutzen. Ich hatte keine Ahnung, wie gut Raben riechen konnte, aber es war jedenfalls ein Wunder, dass Korak den Gestank, den ich verbreitete, aushielt.
Nach dem ich gebadet und meine Kleider gewaschen hatte, fühlte ich mich wieder halbwegs wie ein Mensch und so wohl wie schon lange nicht mehr. Ich verdrückte einen ganzen Laib Kram und stillte meinen Durst mit dem Wasser aus einem nahen Bach. Auch meinen Wasserschlauch hatte ich jetzt endlich wieder auffüllen können. Während ich am Flussufer sass und mit den Füssen im Wasser herumplatschte, fragte ich mich langsam, wo Korak blieb. Ich hoffte, der Ärmste würde sich nicht übernehmen, nur weil er einen verzeihlichen Denkfehler gemacht hatte. Ich spielte mit meinem Wanderstab herum und zeichnete mit meinen Fingern die Runen nach. Mein Vater hatte mich die Bedeutung jeder einzelnen Rune gelehrt und sie mich eigenhändig in den Stab schnitzen lassen. Das war ewig her und es musste mir wohl noch länger vorkommen, als es tatsächlich war. Mehr als drei Jahre waren mittlerweile vergangen seit meinem Aufbruch von zu Hause. Weit im Osten von Mittelerde in den Ausläufern der Orocarni, der Berge des Ostens, lag das Tal von Cuiviénen. Früher einmal hatte es an einem grossen Binnenmeer gelegen, doch das war lange her und längst war jedes Anzeichen von einem Meer von dort verschwunden. Dort in diesem Tal lebten mein Vater, meine Mutter, meine Geschwister und der Rest meines Volkes. Wir waren ein bunt durchmischter Haufen aus Elben, Menschen und Zwergen. Wirklich eine bunte Mischung. Mein Vater hatte erzählt, dass eine Verbindung zwischen Elben und Zwergen hier im Westen undenkbar sei. Auch eine Verbindung zwischen Elben und Menschen oder Menschen und Zwergen sei hier etwas überaus Sonderbares, auch wenn es hier ein Geschlecht hoch angesehener Halbelben (und Halbmenschen) geben sollte, das Haus von Elrond, Earendils Sohn, dessen Vater mit einem Silmaril an der Stirn als Abendstern über den Himmel segelte. Was ein Silmaril war, hatte ich nicht genau begriffen und auch sonst kam mir die ganze Sache – mal abgesehen von den Halbeleben – ziemlich seltsam vor. Aber ich sollte in diesem Punkt meinen Mund wohl besser nicht zu weit aufsperren, immerhin war mein eigenes Leben seltsam genug. Ich war zur Hälfte Elbin und zur Hälfte Magkylir. Wenn ihr nicht wisst, was ein Magkylir ist, dann ist das absolut verzeihlich, immerhin gibt es nur fünf von ihnen, mit mir sechs, denn scheinbar hatte bei mir – anders als bei meinen Geschwistern – die Magkylir-Seite durchgeschlagen und ich hatte die Talente und Gaben meines Vaters geerbt. Und das war der Grund, weshalb er mich auf die lange Reise nach Westen geschickt hatte. Ich sollte zum Obersten seines Ordens gehen, um mich offiziell in ihre Reihen aufnehmen zu lassen. Ebenfalls dieser Aufgabe geschuldet war, dass ich mich zum Erebor begeben hatte. Ich hatte gehofft, dass die Zwerge mir vielleicht Auskunft geben konnten. Stattdessen hatten sie es – aus mir unerfindlichen Gründen – für nötig befunden, mich einzusperren. Und ja, um ganz ehrlich zu sein, gibt es noch einen weiteren Grund, weshalb es verzeihbar ist, wenn ihr noch nie von den Magkylir gehört habt: Es ist nämlich das Wort, das mein Volk für diese Gruppe verwendet, den entsprechenden Ausdruck in der Gemeinsprache kennne ich nicht.
Korak kam zurück und erklärte, dass es flussabwärts keine Stelle gab, wo ich den Waldfluss überqueren konnte, jedenfalls nicht, wenn ich nicht in das Reich der Waldelben geraten wolle. Darauf hatte ich nun wirklich keine Lust und ausserdem führte flussabwärts in die falsche Richtung. Ich machte mich auf meinen Wanderstab gestützt auf den Weg den Fluss hinauf. Korak hatte sich wieder auf meiner Schulter niedergelassen und ruhte sich aus. Vorerst musste er nicht vorausfliegen und nach einem Weg Ausschau halten.
Wieder zogen sich die Tage zäh wie altes Leder während ich den Fluss entlangwanderte. Es dauerte, bis ich endlich weit im Norden eine Stelle fand, an der der Fluss eine breite Furt bildete und ich ihn durchqueren konnte. Danach führte Korak mich geradeaus nach Südensüdwesten. «Nicht das wir zu nahe an die Gebiete der Orks kommen», erklärte er. «Tief in den Wald hinein trauen sie sich nicht.» Ich war mir nicht sicher was mir lieber gewesen wäre – die Orks oder die eintönige, lange Wanderung durch diesen Wald. Und dann sahen wir eines Tages von fern Rauch aufsteigen und Korak berichtete von einem seltsamen, kleinen Haus unter den Wurzeln eines vor langer Zeit umgestürzten Baumes. Ich legte eine Hand auf den Schwertknauf und umschloss mit der anderen meinen Wanderstab fester, während ich mich vorsichtig der Hütte näherte. Ein paar Vögel flatterten aufgeregt auf als sie mich erspähten, doch Korak beruhigte sie mit seiner krächzenden Stimme. Noch während er auf die anderen Vögel einredete, kam ein kleiner, verhutzelter Mann in brauner Kleidung aus der Hütte und sah mich neugierig an.
«Du bist also nicht gefährlich und eine Freundin dieses getreuen Raben», meinte der Mann und musterte mich aufmerksam. Ich war zu verblüfft, um etwas darauf zu erwidern. Der Mann hatte doch tatsächlich verstanden, was Korak sagte.
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