14. Kapitel - Der Grünweg
Korak hatte die beiden Flüchtigen schnell aufgespürt: Sie hatten sich auf der Strasse nach Westen geschlagen – weshalb auch immer. Weit waren sie jedoch noch nicht gekommen und so hatten wir sie schnell eingeholt. Iliane war mehr als erleichtert, als sie mich sah und nur zu gern bereit, sich mit ihrem Sohn auf das Pferd zu setzen. Bereitwillig überliess sie sich meiner Führung, bis ihr klar wurde, dass ich selbst mich von einem Raben führen liess. Doch trotzdem ich es ihr anbot, wollte sie nicht zurückbleiben und fügte sich in ihr Schicksal mir folgen zu müssen, wie ich mich in meines, welches mir ihre lästige Gesellschaft und die des zweijährigen Andwins aufbürdete. Ich musste einen Weg finden, die beiden wieder loszuwerden.
Korak und ich hatten den Grünweg nach Süden genommen und ein schnelles Tempo angeschlagen. Die Breeländer würden Suchtrupps nach uns ausschicken, die uns nicht einholen durften. Mein Körper fand schnell wieder in seinen alt vertrauten Rhythmus zurück, auch wenn ich spätestens am nächsten Morgen jeden einzelnen in den letzten Jahren vernachlässigten Muskel spüren würde. Iliane ritt inzwischen mit dem kleinen Andwin hinter sich auf dem gestohlenen Pferd neben mir her – oder versuchte es zumindest. Sie war nie zuvor auf einem Pferd geritten, nur ein oder zwei Mal auf einem Pony. Nachdem wir gerade einmal drei Stunden unterwegs waren, begann Iliane über Schmerzen zu klagen und der kleine Andwin schrie wie am Spiess. Nur widerwillig gestand ich den beiden eine kurze Rast zu. Wir konnten uns eigentlich keine einzige Pause leisten und ich verfluchte die beiden im Stillen dafür, dass sie mich aufhielten. Nach einer Viertelstunde trieb ich die beiden wieder an.
«Cal. Können wir bitte anhalten?», jammerte Iliane zwei Stunden später. «Ich kann einfach nicht mehr.»
Mit hochgezogenen Augenbrauen sah ich mich zu ihr um. «Du kannst nicht mehr? Du hast doch gar nichts gemacht ausser auf dem Ross zu sitzen? Wenn dann ist es das Pferd, das nicht mehr kann, aber der gute Junge scheint mir noch ganz fit zu sein.»
Leidend sah sie mich an. «Im Gegensatz zu dir bin ich eine Frau und Andwin ist ein kleines Kind. Das ist einfach zu viel für uns.»
Ich liess mich nicht erweichen: «Wir gehen weiter, bis die Sonne untergeht.»
Iliane starrte nach Westen, wo die Sonne sich langsam dem Horizont näherte. Eine Stunde würde uns noch bleiben, bevor die Lichtverhältnisse uns dazu zwangen, Halt zu machen. Wütend biss Iliane die Zähne zusammen.
«Ich habe einen Lagerplatz gefunden», liess Korak mich etwas später wissen. Die Sonne berührte jetzt bereits den Horizont, die Stunde war fast vorbei.
«Wo?», fragte ich den Raben.
«Was?», fragte Iliane. «Sind wir da?»
«Eine Meile südwärts von hier, wo die Strasse auf ein Wäldchen trifft. Es gibt dort eine kleine Lichtung, umgeben von dichtem Gestrüpp und einigen Felsen. In der Nähe ist auch eine Quelle», erklärte Korak.
Ich nickte dem Raben zu: «Danke mein Freund. Iliane, wir sind fast da.»
«Wo da?», fragte meine Begleiterin müde.
«An unserem Lagerplatz.»
«Hier sollen wir schlafen?!», empörte sich Iliane und sah sich auf der Lichtung um. Das Gestrüpp um uns war so dick, dass wir mindestens eine Viertelstunde gebraucht hatten, um uns zur Lichtung durchzukämpfen. An einem Ende wurde die Lichtung von ein paar überhängenden Felsbrocken begrenzt, unter denen wir bei einem allfälligen Wetterumschwung Zuflucht suchen konnten. Die Lichtung selbst war mit weichem Gras überwachsen. Alles in allem ein sehr guter Lagerplatz.
«Was hast du denn erwartet?», fauchte ich Iliane an. «Ein Gasthaus mit bequemen Federbetten?»
Ihre wutblitzenden Augen und der unzufriedene Ausdruck auf ihrem Gesicht waren ein überdeutliches Ja.
Verächtlich schüttelte ich den Kopf. «Du hättest nicht mitkommen müssen. Viola hat mich dazu überredet, den Sündenbock zu spielen. Ich kann mich auf Jahre hin nicht mehr in Bree blicken lassen, weil alle glauben, ich hätte deinen ach so lieben Gatten vergiftet und getötet – oder dich dazu angestiftet. Wenn, dann habe ich Grund zu klagen», fuhr ich sie an. Mit jedem Wort war ich einen Schritt auf sie zugegangen und so stand ich jetzt dicht vor ihr und konnte die Angst und Ungewissheit in ihren Augen sehen, die sie versuchte hinter der Wut zu verstecken. Sie zitterte sogar.
Ich trat ein paar Schritte zurück. Ich konnte ihre Angst sogar verstehen. Sie hatte die Grenzen des Breelands noch nie überschritten, auch wenn sie es sich so oft gewünscht hatte. Und nun war sie auf einmal hier, in der unbekannten Wildnis, und hatte keine Ahnung, wie man sich hier verhielt. Wie man überlebte. Aber ich weigerte mich, Mitleid mit ihr zu haben. «Such' ein paar Steine und leg' sie in der Mitte der Lichtung zu einer Feuerstelle zusammen. Dann nimm dem Pferd den Sattel ab und binde es an einem Baum fest. Den Sattel kannst du dort drüben unter die überhängenden Felsen legen zusammen mit meinem Rucksack. Wir können dann dort schlafen. Wenn du ein wenig Gras ausreist und dort damit ein Lager bereitest, wird es gemütlicher, aber es geht auch so. Andwin kann meinen Umhang als Decke haben.»
«Und was machst du währenddessen, Cal?», fragte Iliane.
«Ich geh los, sammle Brennholz und hole Wasser», sagte ich genervt, bevor ich meinen Rucksack ablegte, mir das Schwert umgürtete und meinen Stab zur Hand nahm. Die mittlerweile leeren Wasserschläuche nahm ich mit.
Ich war mehr als froh, als ich endlich von Iliane und Andwin wegkam. Die ersten ruhigen Minuten des Tages und ich genoss sie in vollen Zügen. Ich würde die beiden die nächsten Tage und Wochen am Hals haben, so lange wie es dauerte, bis wir die nächste, menschliche Siedlung erreichten, wo ich die beiden zurücklassen konnte. Bis dahin würde ich Nerven wie Stahl brauchen.
Als ich zum Lagerplatz zurückkehrte, beladen mit Brennholz, die prallgefüllten Wasserschläuche über die Schulter gehängt, fand ich Iliane vor meinem ausgepackten Rucksack wieder. Den Proviant, die Heilkräuter, die Kleidung, die Geldbörse, meinen Umhang, die beiden Landkarten sowie ein paar magische Utensilien, die ich von Aiwendil bekommen hatte, lagen ausgebreitet vor ihr im Gras. Verwirrt sah Iliane auf das Sammelsurium vor sich. Andwin lag inzwischen neben dem Sattel unter dem überhängenden Felsen und schlief seelig. Wütend scheuchte ich Iliane auf. Sie hatte nicht nur meinen Rucksack ausgepackt, sondern sich auch an meinen Vorräten vergriffen. Ich fauchte sie an, sie solle Feuer machen, und machte mich daran, meine Habseligkeiten wieder im Rucksack zu verstauen. Wie hatte sie es wagen können ...?!
«Wie soll ich das Feuer entzünden?», durchbrach Ilianes Stimme meine wütenden Gedanken und färbte sie mit ihren Worten noch dunkler.
Ungeduldig schob ich sie beiseite, stiess mit meinem Stab gegen die aufgeschichteten Zweige und flüsterte ein Wort der Macht. Sofort entflammten die Äste und ein fröhliches Feuer flackerte und tauchte die Lichtung in seinen warmen, orangefarbenen Schein.
Entsetzt starrte Iliane mich an. «Du ... Cal, du ... Du bist ein Zauberer», flüsterte sie angsterfüllt.
«Zu deinem Glück», fauchte ich sie an, «sonst hättest du auf die Annehmlichkeit eines warmen Feuers verzichten müssen. Aber gewöhn dich schon mal an diesen Gedanken – das hier ist lediglich eine Ausnahme. Es ist viel zu gefährlich, jede Nacht ein Feuer zu entzünden, wenn man nicht genügend Mitreisende hat, um jede Nacht Wachen aufzustellen.»
Sie nickte eingeschüchtert.
Stumm starrten wir ins Feuer. Ich ass ein paar Happen und nahm mir dann nochmals den Proviant vor. «Wir müssen rationieren, sonst haben wir bald nichts mehr zu Essen. Zwar findet man in der Wildnis immer etwas zu essen, wenn man nur weiss, wie man es anstellen muss, aber das dauert viel zu lange – ich will möglichst bald die nächste Siedlung erreichen.»
«Wohin gehen wir genau?», traute Iliane sich zu fragen.
«Nach Süden», murrte ich, nahm dann aber meine Landkarten zur Hand. Ich brauchte ein Ziel, am besten eines, dass mich meinem eigentlichen Ziel näherbringen würde. Iliane starrte mich mit grossen Augen an, während ich die Karten studierte – diejenige, die ich von meinem Vater bekommen hatte und die, die ich mit Langfingers Hilfe im Erebor an mich gebracht hatte. Ich hatte seit Ewigkeiten nicht mehr an den Dieb gedacht. Was wohl aus ihm geworden war? Wahrscheinlich hatten ihn die Zwerge oder die Stadtwachen von Thal wieder erwischt und er hatte inzwischen seine Hand verloren oder war hingerichtet worden.
Der Strasse, auf der wir unterwegs waren, und die die Breeländer «Grünweg» nannten, hiess eigentlich Nordstrasse. In Tharbad überquerte die Strasse dann die Grauflut und hiess von da an Südstrasse. Die Südstrasse führte weiter zu den Furten des Isen, die auch die Pforte von Rohan genannt wurden. Von da an hiess sie dann grosse Oststrasse. Mein Finger blieb über den Furten des Isen schweben. Dort würden wir die Grenze Rohans überschreiten – spätestens in Rohan würde ich Iliane und Andwin loswerden können. Aber da war noch etwas anderes ... höchstens zwei Tagesmärsche nördlich am Lauf des Isen entlang lag Isengard, der Ort, an dem Curumo sich niedergelassen hatte. Olórin hatte gesagt, dass es nicht sicher war, ob der weisse Zauberer mich ohne das Schreiben meines Vaters in den Orden der Magkylir aufnehmen würde, aber versuchen konnte, nein, musste ich es auf jeden Fall. Ich würde also nach Isengard gehen, beschloss ich.
«Aber das ist soo weit!», protestierte Iliane, als ich ihr erklärte, dass wir nach Rohan gehen würden und ihr – weil ihr Rohan kein Begriff war – das Land auf der Karte gezeigt und die Distanzen auf der Karte erklärt hatte. «Das kannst du nicht wirklich ernst meinen, Cal.»
«Ich meine es ernst. Und wenn es dir nicht passt ... du kannst immer noch nach Bree zurück», knurrte ich.
Unverständig sah sie mich an. «Was ist nur los, Cal? Wieso willst du nicht, dass ich mit dir mitkomme? Ich dachte, du ...», sie stockte und hielt inne, bevor sie ganz leise flüsterte: «Ich dachte, du liebst mich. Ich habe meinen Mann getötet, damit wir zusammen sein können. Weil ich dich liebe.»
Entsetzt starrte ich Iliane an, die sich von mir abwandte und sich neben ihren Sohn legte. Sie kuschelte sich unter meinen Umhang an ihn und schloss die Augen. Der Umhang, der Andwin zwar ganz gut als Decke dienen konnte, war bei weitem nicht gross genug für beide zusammen.
Ich sass am Feuer und betrachtete die beiden, bis das Feuer heruntergebrannt war und der Mond hinter dem Horizont verschwand. Und dann sass ich immer noch da und sah zu den beiden und dachte nach, bis der Himmel langsam heller wurde.
Die nächsten Tage vergingen in dem mir gewohnten Rhythmus: Frühmorgens aufstehen, den ganzen Tag zügig ausschreiten und erst zur Nacht halten, wenn die Sonne hinter dem Horizont verschwand. Allerdings machte ich diesmal ein paar Pausen mehr. Ich sprach nicht viel, ausser wenn es darum ging, Iliane und Andwin zum Aufbruch aufzufordern oder Anweisungen fürs Nachtlager und die Aufteilung des Proviants zu erteilen. Ich wusste nicht, wie ich mit Ilianes Liebeserklärung umgehen sollte und auch Korak wusste keinen Rat.
So verstrich die Zeit und wir erreichten Tharbad. Ich hatte mir erhofft, in der Stadt unseren Proviant aufstocken zu können, doch wir fanden nichts als Ruinen vor. Es gab kein Anzeichen eines Angriffs oder ähnlichem, stattdessen schien es so, als habe man die Stadt einfach aufgegeben und sie sei über die Jahre zerfallen. Wir lagerten nicht in der Stadt, wie ich es ursprünglich geplant hatte, sondern gingen weiter, überschritten die Brücke der Grauflut und schlugen erst mehrere Meilen weiter südlich unser Lager auf. Die Sonne war inzwischen längst untergegangen und nur das Licht des Mondes erhellte unseren Weg. Andwin war schon längst hinter Iliane auf dem Pferderücken eingeschlafen, als wir ein geeignetes Plätzchen erreichten. Während die Nacht voranschritt und der kleine Junge selig schlief, diskutierten Iliane und ich leise, wie es nun mit unseren Vorräten weitergehen sollte. Schliesslich beschlossen wir, am Abend unser Lager früher aufzuschlagen, um nach Nahrung zu suchen.
Nach langer Diskussion legten wir uns endlich zum Schlafen nieder. Iliane, Andwin und ich lagen ganz nahe beieinander, um uns vor der Kälte der Nacht zu schützen. Das ruhige Atmen von Andwin wiegte mich in den Schlaf und ich war bereits fast weggetreten, als ich eine zärtliche Berührung spürte. Iliane kuschelte sich an mich. Im Halbschlaf rückte ich mich näher an sie. Sie strich sanft über meine Seite, bevor ihre Hand wie zufällig über meine Brust glitt. Und über meinen Bauch. Und weiter nach unten. Bevor ich ganz begriff, was Iliane da tat, war es auch schon zu spät.
«Du bist gar kein Mann!», keuchte sie und wich mit weit aufgerissenen Augen vor mir zurück.
«Weiss ich», grummelte ich müde.
«'Weiss ich'? Mehr sagst du nicht dazu, Cal? Heisst du überhaupt Cal? Ich habe für dich getötet! Weil ich mich in den jungen Heiler verliebt habe, der Archet und Schlucht vor den weissen Wölfen gerettet hat! Der bei Andwins Geburt mein Leben und das meines Sohns gerettet hat. Und jetzt ...»
«Jetzt stellt sich heraus, dass es gar keinen jungen Heiler gibt, sondern nur eine Frau, die ihr Bestes gegeben hat, den Menschen und Hobbits in Bree zu helfen und dafür nur Misstrauen und Abneigung geerntet hat», grummelte ich. «Jetzt leg dich wieder hin, Iliane, ich bin immer noch die gleiche, wie vor fünf Minuten. Und ich will schlafen», gähnte ich.
Ganz vorsichtig legte Iliane sich wieder neben mich.
«Wer bist du wirklich?», flüsterte Iliane nach einer Weile.
Ich sah sie aus einem Auge an. «Ich bin Calenna, Tochter von Mórwen und Alatar», sagte ich mit einem Lächeln auf den Lippen, bevor ich einschlief.
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