12. Kapitel - Iliane
Nach der doch noch geglückten Entbindung des Kindes hatte Viola mich verärgert zum Markt geschickt, um frische Kräuter für unseren Vorrat zu kaufen, während sie die restlichen Krankenbesuche übernahm. Wie zu erwarten war, hatten mich die Einheimischen die ganze Zeit über misstrauisch angestarrt, nur Max Birkenbaum hatte mir ganz offen seine Meinung gegeigt - wenigstens war er ehrlich. Danach hatte ich die erste Gelegenheit beim Schopf gepackt, hatte mein Schwert, meinen Rucksack und meine anderen Habseligkeiten aus dem Haus des Heilers in Bree geholt und ihn Viola ausrichten lassen, dass ich mich bereits auf den Weg zurück nach Schlucht machen würde.
Ich war mehr als froh, als ich die Palisaden von Bree hinter mir lassen konnte. Korak, der auf meine Schulter flatterte, sobald wir ausser Sichtweite des Dorfs waren, war genauso froh, dass wir endlich wieder etwas Zeit für uns hatten und wir erzählten einander, was wir seit unserem letzten, viel zu lange zurückliegenden Treffen, erlebt hatten. Es war nicht einfach, einen geeigneten Ort und Zeitpunkt zu finden, um mit einem Raben zu sprechen, wenn man von allen die ganze Zeit misstrauisch im Auge behalten wurde.
«Was wirst du jetzt tun?», fragte Korak krächzend, als ich mit meiner Erzählung zu Ende kam. «Wirst du losziehen und dich Saruman vorstellen?»
Nachdenklich sah ich auf den ausgetretenen Pfad hinab, der unter meinen Füssen dahinglitt und versuchte einen Entschluss zu fassen.
«Nein», entschied ich schliesslich, «noch nicht. Ich will erst nochmals mit Gandalf sprechen, von ihm mehr darüber erfahren, wie es um den Westen von Mittelerde steht. Was ich vielleicht tun kann, um Saruman zu überzeugen. Und ausserdem ... ausserdem will ich ein Auge auf Iliane und das Kind haben.»
«Was ist, wenn sie sich daran erinnert, dass du sie mit Magie geheilt hat? Und sie dich verrät?», fragte Korak skeptisch.
«Ich kann nur hoffen, dass sie das nicht tut», gab ich leise zu.
Und Iliane tat es auch nicht - auch wenn ich nicht erfuhr, ob sie sich überhaupt daran erinnerte. Einige Tage später erhielten Viola und ich Kunde, dass es der jungen Mutter überraschenderweise wieder besser ging und sie sich trotz gegenteiliger Erwartung gut von der traumatischen Geburt erholte. Den kleinen Jungen, den sie zur Welt gebracht hatte, hatte der Vater Anwin genannt und er war sehr stolz auf seinen kleinen Sohn.
Diese Neuigkeit brachte mir einen scharfen Blick von Viola ein. «Was hast du getan, damit das Mädchen sich erholt hat? Und streite es nicht ab, Cal, ich weiss, dass du das warst.»
«Ich habe nichts gemacht, ihr nur ein paar Kräuter gegeben, die sie Blutung stillten und sie stärkten und dafür sorgten, dass sie sich entspannte, damit sich ihr Körper selbst heilen konnte», beschwichtigte ich die Heilerin. «Es war grosses Glück, dass sie es überlebt hat - ich wusste nicht, ob die Kräuter überhaupt helfen würden, aber ich musste es versuchen.»
Die Gesichtszüge der Heilerin wurden weicher. «Du hast das Herz am richtigen Fleck, Cal, und das Wissen, den Leuten hier zu helfen», sagte sie und seufzte. «Du musst nur versuchen, ihr Vertrauen zu gewinnen.»
Ich schnaubte. Was glaubte sie denn, was ich die ganze Zeit tat?
*****
Bei meinem nächsten Besuch in Bree erkundigte ich mich bei Herrn Butterblüm nicht nur nach Gandalf - er war seit meinem letzten Besuch im Pony nicht noch einmal dagewesen - sondern auch nach Iliane, der es offenbar besser ging. So hielt ich es von da an und schon bald erzählte mir der Wirt nicht nur von selbst von Gandalf sondern auch von der jungen Mutter. Und er erzählte auch Gandalf von meinem Interesse an dem Mädchen, wobei der Gute es wohl als ein grösseres und anders geartetes Interesse beschrieb, als es eigentlich war. Jedenfalls war Gandalfs Augenbraue weit hochgezogen, als er mich nach Iliane fragte.
«Nein, ich bin nicht in sie verliebt», gab ich verärgert ob dieser Anschuldigung zurück. «Und wenn schon - wo wäre das Problem?»
«Das Problem wäre dasselbe, wie es bei jedem jungen Mann wäre, der einer jungen, verheirateten Frau nachsteigt. Du solltest darauf achten, dass die Leute nicht denken, dass du dem Mädchen hinterhersteigst, Calenna. Das wird nur Ärger geben.»
«Ich weiss», maulte ich, doch ich hatte keine Lust das zu ändern. Danach lenkte ich unser Gespräch auf ein anderes Thema und fragte Gandalf, was es Neues aus der Welt gab. Offenbar standen die Zeichen zum Schlechten, auch wenn Gandalf kaum etwas Konkreteres als ein paar Überfälle von Banditen und Orks hier und dort schildern konnte.
«Aber was sicher ist, ist, dass sie immer dreister werden», sagte er düster und zog an seiner Pfeife. «Ausserdem habe ich Grund zu der Annahme ...», er sah sich verstohlen um und fuhr dann so leise fort, dass nur ich ihn noch verstehen konnte: «Ich habe Grund zur Annahme, dass 'Isildurs Fluch' wieder aufgetaucht ist.»
Verständnislos sah ich den alten Magkylir an. Was für ein Fluch?
Er verdrehte die Augen und hauchte dann noch leiser: «Der eine Ring.»
Entsetzt sog ich die Luft ein. Bisher glaubte man immer, dass er verloren gegangen sei. Unwiederbringlich verloren.
«Ich muss endlich etwas unternehmen!», entgegnete ich leise und versuchte dabei entschlossen zu klingen. «Ich sollte mich endlich Curumo vorstellen.»
Gandalf nickte nachdenklich. «Ja, vielleicht solltest du das. Aber ich habe eine Bitte, Calenna, erzähle ihm nichts von meinem Verdacht.» Auf meinen fragenden Blick hin fügte er an: «Saruman ist geradezu besessen von den Ringen der Macht und ich hege lediglich einen schwachen, unbegründeten Verdacht. Ich will erst mehr Gewissheit haben, bevor ich ihn mit dieser bisher haltlosen Vermutung behellige.»
Das klang einleuchtend, aber irgendwie auch verdächtig. Vertraute Gandalf Curumo etwa nicht? Oder zumindest nicht vollkommen ...? Weshalb? Aber ich fragte nicht danach.
*****
Erst viele Wochen nach der Geburt ihres Kindes begegnete ich Iliane wieder. Sie hatte sich ihren kleinen Sohn mit einem Tuch vor die Brust gebunden und erledigte auf dem Markt Einkäufe genau wie ich - Viola hatte mich wieder einmal ausgeschickt, während sie selbst auf Krankenbesuch war. Höflich erkundete ich mich nach dem Befinden der jungen Mutter, die mich strahlend anlächelte. Zögernd lächelte ich zurück, während ich aufmerksam zuhörte, wie sich ihr Leben seit der Geburt verändert hatte und sich nun nur noch um ihren kleinen Anwin drehte. Über ihren Mann sagte sie kein Wort und es schien mir, dass sie das Thema bewusst vermied. Pflichtschuldig lud ich sie zu einer Tasse Tee im Tänzelnden Pony ein, was sie gerne annahm und so sassen wir uns etwas später an einem kleinen Tisch in einer Ecke der Schankstube gegenüber und Iliane, die befand, genug von sich erzählt zu haben, versuchte mir etwas über mein Leben zu entlocken.
Wie alle anderen wusste sie natürlich, dass ich nach Bree kam und Arbeit gesucht hatte und mich schliesslich in Ermangelung anderer Möglichkeiten den Fallenstellern angeschlossen und dann später die weissen Wölfe getötet hatte.
«Wie hast du das geschafft?», fragte sie bewundernd und war mit meiner schlichten Antwort - «Mit Pfeil und Bogen» - alles andere als zufrieden.
«Bei den Fallenstellern mussten wir alle mit Pfeil und Bogen umgehen können und ich hatte bereits davor Erfahrung mit diesen Waffen gemacht», liess ich mich schliesslich zu einer ausführlicheren Erklärung bewegen.
«Wie? Wann?», fragte sie neugierig nach.
«Ich bin viele Jahre durch die Wildnis gereist.»
Ilianes Augen wurden wenn möglich noch grösser und bewundernder und ich erinnerte mich daran, dass sie selbst davon geträumt hatte, das Breeland zu verlassen. «Bist du viel herumgekommen? Bitte, Cal, erzähl mir davon.»
Unentschlossen sah ich die junge Frau vor mir an, auf deren Schoss ihr kleiner Sohn mit dem Kopf an die Brust seiner Mutter gelehnt schlief. Wie viel konnte ich ihr erzählen? Sollte ich ihr überhaupt etwas vom Leben ausserhalb des Breelands erzählen, wenn sie sich so sehr danach sehnte, hier wegzukommen? Vielleicht würde sie dann beschliessen, einfach zu gehen? Da ich wusste, wie ihr Mann sie behandelte, wäre es wohl nicht verwunderlich.
«Bitte, Cal», bat sie nochmals; beinahe verzweifelt.
Ich seufzte und begann zu erzählen: «Ich komme von östlich des Nebelgebirges aus einem kleinen Dorf namens Rhosgobel, das liegt in der Nähe des Düsterwalds. Dort habe ich bei meinem Onkel gelebt, der mir alles über Heilkunst beigebracht hat, was ich weiss.»
«Er muss sehr viel darüber wissen», sagte Iliane beeindruckt. «Die anderen sagen, es sei ein Wunder, dass ich Anwins Geburt überlebt habe. Nur Dank dir war das möglich, Cal.»
Ich nickte verlegen und sah ihr unsicher in die Augen. An wie viel konnte sie sich erinnern? Ich wusste es nicht und ich konnte sie auch nicht danach fragen.
Ich erzählte Iliane davon, wie ich mich in Rhosgobel um die Kranken und Verletzten gekümmert hatte und wie die Leute mir, anders als hier, vollkommen vertraut hatten. Auf ihr Nachfragen hin, weshalb ich bei meinem Onkel aufgewachsen hatte, erklärte ich, dass ich meine Eltern schon seit vielen Jahren nicht mehr gesehen hatte und nicht wusste, wie es ihnen ging, geschweige denn, ob sie noch lebten. Ich musste schwer schlucken, bei diesen Worten, die mir ganz plötzlich wieder die schwierige, gefährliche Situation in Erinnerung riefen, in der ich sie und meine Geschwister, meine Freunde, mein ganzes Volk zurückgelassen hatte. Während ich hier mit Iliane plauderte, überzog Sauron sie mit Krieg. Vielleicht kämpften sie gerade in diesem Moment gegen seine Armeen. Vielleicht waren sie bereits vor langer Zeit gefallen und ich wusste nichts davon.
«Ist schon gut, es geht ihnen sicher gut», sagte Iliane beruhigend und wischte mir eine Träne von der Wange. Ich zuckte zurück, als sie mich berührte und auch sie zog schnell ihre Hand weg, aber es war zu spät.
Es tat ihr weh zu sehen, wie der junge Mann vor ihr litt. Er sorgte sich um seine Eltern, wusste nicht, ob es ihnen gut ging, ob sie überhaupt noch lebten. Sie selbst wusste, dass ihre Eltern noch lebten, auch wenn sie sich oft wünschte, dass es anders wäre. Im selben Moment kam sie sich gemein und egoistisch vor und absolut schrecklich, so etwas zu denken. Eine kleine Träne kullerte aus den geheimnisvollen, dunklen Augen des Mannes, rollte von ihm unbemerkt über seine Wange. Iliane konnte nicht anders, als sich vorzubeugen und sie wegzuwischen. Doch in dem Moment, in dem sie die Wange des Mannes berührte, zuckte etwas durch ihre Fingerspitzen, dass sich anfühlte wie ein Blitzschlag. Eine unaufhaltbare, angsteinflössende Macht drückte gegen ihr Bewusstsein und drang darin ein. Das war er! Cal! Und er war ein ... er musste ein ... ein Zauberer sein! Das würde auch erklären, weshalb sie Anwins Geburt überlegt hatte.
Panik stand in Ilianes Augen und sie sah mich entsetzt an. Sie versuchte zurückzuweichen, doch ich griff flink nach ihrem Handgelenk. «Bitte, warte, Iliane. Lass es mich erklären», sagte ich eindringlich, auch wenn ich nicht wusste was und wie ich es erklären sollte.
Eine ganze Weile blieb sie starr mir gegenüber sitzen. Sie sagte kein Wort, bewegte nicht einmal die Lippen. «Wie hast du das gemacht?», hauchte sie schliesslich.
«Ich weiss es nicht. Es war keine Absicht, ich schwöre es, Iliane, aber manchmal passiert es einfach; ich kann nichts dafür.»
Sie nickte nur abwesend. «Hast du das schon einmal bei mir gemacht?», fragte sie tonlos. «Das hast du, oder? Als du mich geheilt hast. Was hast du dort gesehen?»
Ich biss mir auf die Lippen und schilderte ihr dann ihre ganze, traurige Geschichte. Sie nickte nur immer wieder stoisch mit leerem Blick. «Du solltest mich nicht lieben», sprach ich am Ende das aus, was mich an der ganzen Sache am meisten quälte. «Aus uns kann nie etwas werden ... Du bist verheiratet und hast ein Kind, du hast Verpflichtungen deiner Familie gegenüber. Trotz allem. Und ich ... du kannst kein Leben mit mir zusammen führen. Irgendwann werde ich weiterziehen müssen, fort von hier, und du wirst nicht mitkommen können.»
«Wieso sollte ich das nicht können?», fragte sie verzweifelt. «Wenn du mir hilfst, komme ich sicher mit dem Leben in der Wildnis klar.»
«Vielleicht ... aber was ist mit Anwin? Willst du ihn wirklich hier zurücklassen? Bei seinem Vater?» Das letzte Wort spuckte ich aus, als sei es ein vergammeltes Stück Fleisch.
«Dann nehmen wir ihn mit!», sagte sie verzweifelt.
Traurig schüttelte ich den Kopf. «Es gibt kein Wir, Iliane. Es wird nie eines geben. Es tut mir leid», sagte ich, dann stand ich auf und ging, wobei mir das Herz brach. Es tat weh, sie so verloren dort am Tisch zurückzulassen, mit der Gewissheit, dass es keine Möglichkeit gab, ihrem schrecklichen Leben zu entfliehen und ich es ihr sogar versagt hatte, in den Tod zu fliehen. Sie würde mich hassen.
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