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Großvater Willow verschwand, ein hässlicher Drache ließ die Stadt zu Asche zerfallen und Miss Torn verstarb den Flammen. Einzig May blieb übrig - vom Kreuzkerat als Verräterin abgestempelt. Sir Leandro hat sie beschuldigt, schuld an dem Angriff des Drachen zu sein und niemand wollte ihm widersprechen. Die Großmagier werden Willow jagen, die Schriften des Gistenas an sich reißen und den Drachen töten. Von dem Gistena ist nicht mehr als Ruß übrig und May Amelia Pendragon selbst wurde bei lebendigen Leibe verbrannt.
Drachenflüsterin.
Ihr Herz klopfte so schnell, dass May fürchtete, es würde platzen. Und mit ihrem Herz ihr Kopf, ihre Brust, einfach alles. Ihre Pupillen wurden größer, das Blut floss heiß und schnell. Es stieg hoch zu ihren Wangen, sie lief rot an. Ihr Körper hörte nicht mehr auf Adrenalin auszuschütten und sie wie eine verrückte Pilzsamenraucherin auf einen Trip fühlen zu lassen.
Klare Bilder tauchten vor ihrem inneren Auge auf: Sie stand mit Miss Torn draußen, ein Drache am Himmel - äußerst hässlich zudem-, Sir Leandro und sie in einem Kerker, der Marktplatz, wie die Menschen sie anschrien und Drachenflüsterin brüllten, das Feuer. Sie konnte noch die Flammen auf ihrer Haut spüren, ihr eigenes, verbranntes Fleisch riechen.
Und die Qualen. Das war das schlimmste gewesen: wie das Feuer sie fraß, um nichts übrig zu lassen.
"Zur Heiligen Elis, geht es euch gut? Was habt ihr dort hinten gemacht?"
Miss Torn stand lebendig vor ihr. In ihrem wunderschönen Kleid, mit den perfekten Locken und einem offenen Mund, sichtlich von irgendetwas erschrocken. May hatte ein Dejavue - ein Gefühl, all dies schon einmal erlebt zu haben. Sie schüttelte den Kopf, was sollte sie denn sagen? Sie fühlte sich elendig, ausgelaugt - aber nur seelisch. Ihr Körper jedoch lief wie eine gut geölte Maschine, war auf Trab und zu allem bereit. Hatte sie nicht doch gerade eben das schreckliche Empfinden gehabt, jenes nur die Zauberlinge empfinden zu vermögen? Irgendetwas böses, trauriges war passiert. Eine Ahnung blitzte durch Mays Körper. Der Drache.
"Euer Großvater ist Rosetten holen gegangen, Liebes. Was ist denn passiert, das ihr so geschockt dreinschaut?"
Miss Torns gütigen Augen suchten Mays Körper nach Wunden und Flecken ab, vergebens. Die Zauberin konnte schon ahnen, was passieren würde. Sie verstand es nur nicht.
Als nächstes erreichte eine Mischung aus Glocken, Schreien, Geröll und Weinen die Frauen. May würde gerne nachdenken, was da draußen passiert, nur wusste sie es bereits. Sie wusste auch, dass die Schaufenster zu verstopft waren, dass Willow nicht in der gemütlichen Wohnung oder im Keller war und was draußen auf sie lauerte. Sie konnte es nur noch nicht begreifen.
"La ilusión. Eine Illusion, eine Vorhersage", überlegte May. Als würde es nicht in ein Drehbuch passen, musterte Miss Torn sie. Noch nie hatte May die vornehme Dame mit gerunzelter Stirn gesehen. Die Zaubererin schnappte sich ein Buch mit schwarzen Einband. Es war staubig, alt, schwer. Noch eines der Lexika.
Tod, Wahnsinn, Krankheiten und Schmerz. Klang gar nicht mal so übel, angesichts der Tatsache, dass May höchstwahrscheinlich eine Illusion heimgesucht hatte. War das möglich? War es tatsächlich möglich, dass sie eine mögliche Zukunft gesehen hatte, in der Miss Torn und May starben, der Übeltäter des Drachenangriffs davonkam und Willow irgendwo alleine gejagt wurde? Dann konnte sie dieses mal wenigstens etwas dagegen unternehmen.
Hitzköpfig schickte May Miss Torn schnell in den Keller, um freie Bahn im Laden zu haben. Sie nahm sich den verwunschenen Rucksack-ohne-Ende und stopfte Reihe für Reihe alles hinein, was ihr unter die Augen kam. Als sie Miss Torns tänzelnden Schritte hörte, war May bei einer Glasvitrine angekommen. Es war die Vitrine hinter der Theke, in der die wirklich gefährlichen Gegenstände untergebracht worden waren. Über ihre Lippen huschten leise verschiedene Schlüsselwörter, bis der Schlüssel sich drehte, der Mechanismus sich griff und die Tür aufschwang. Allem voran nahm May das tote Buch -gefährliche Zaubersprüche, Dämonenbeschwörungen, Todeswünsche, und eigentlich so ziemlich alles verbotene, geachtete und gefährliche behielt das Buch für sich. Sie konnte es wirklich nicht nochmal im Gistena lassen.
Zuletzt nahm sich May einen Umhang. Die Zaubererin fasste sich ein Herz: In ihrer Illusion mag schon alles den Bach untergegangen sein. Aber dieses Mal war sie vorbereitet. Dieses Mal würde Miss Torn nicht sterben und Willow ihr beim brennen zusehen.
"Wir werden nach draußen gehen, auf den Marktplatz", stellte May fest. Sie nahm Miss Torn am Ellebogen, egal, ob die Netiquette dies verachtete. Ein einfacher Zauberling sollte nicht eine solch vornehme, reiche Dame berühren.
"Oh, ist da mein Willow?", fragte Miss Torn verzweifelt. Sie war überfordert, wusste nicht, was da draußen auf sie wartete. Und als beide Frauen durch die Tür gingen, begleitet von dem lauten Krach der Glocken und des Chaos, liefen Tränen Miss Torns heißen Wangen hinab. Die Augen Mays suchten den Himmel nach einen Schatten ab. Der Drache -sofern es denn wirklich so sein solle- hatte noch nicht den Marktplatz erreicht. Sie mussten in die Gassen verschwinden, Zeit finden. Ihr Kopf rauchte und dampfte, während May an einen Plan tüftelte. Der Palast wäre der einzige, sichere Ort gewesen. Wenn dort nicht der Kreuzkarat und die Verschwörung auf sie lauern würde. Das Gistena hielt in ihrer Illusion nicht stand. Die Stadt war bisauf ein paar Gebäuden zerstört gewesen. Sie hatte keinen Anhaltspunkt zu dem Aufenthaltsort ihres Großvaters- Vielleicht konnten sie in die Katakomben fliehen, wären aber dort gefan-
Miss Torn schrie nach ihr. Ein paar Schritte lag sie zurück, völlig aus der Puste. Russ und Schutt färbten ihr Kleid grau, die Locken vom Rauch völlig verdreckt. Das letzte Brüllen nur noch wenige Meter entfernt. "Wa-was", japste die Dame, "geht hier vo-vo-vor? Wo gehen wir-"
Weiter kam sie nicht. Das Dach und fast ein Stockwerk eines Gebäudes löste sich, mit kurzen Abstand flog der Drache darüber. Er musste sich kurz gestützt haben. Unter seiner Last verrutsche das Mauerwerk, die Steine und das Holz lösten sich. Scheppernd flog das Geröll zu Boden und begrabte Miss Torn gleich mit. May musste mitansehen, wie sie unter den Gestein zerquetscht wurde, als würde ein Mensch eine Ameise zertreten. Es war viel zu schnell gegangen. Benommen rannte May dorthin, wo gerade noch die Frau gestanden hatte. Allerdings nicht zu nahe heran; sie wollte nicht auch zermalmt werden. Das Blut floss die Rinnen entlang, haftete, klebte an Mays Schuhen und Umhang. "Wieso?", brachte sie nur heraus. Sie wollte es weiterhin hinterfragen, aber keine Silbe verlasste ihren Mund. Für einen kurzen Moment stand die Erde still, nur etwas am Horizont bewegte sich. Es war der äußerst unangenehme Drache, der über die Menschen hinwegflog. Sein Körper faltig, verbrannt, zernarbt, verkrüppelt. Er hinkte mit den Flügeln leicht auf einer Seite, konnte so nicht perfekt gerade fliegen.
May hatte sie nicht gerettet. Weder in ihrer Illusion, noch dieses mal. Die Kreatur flatterte über ihren Kopf hinweg, über die Blei-Miss Torn, die anderen Leichen und Menschen. All der Tatendrang und Mut war aus ihr gewichen. Als hätte sich ein Schalter umgelegt, der die ganze Zeit über ihre Angst und ihre Unruhe ausgegrenzt hatte. Sie war nichts mehr weiter nun, als das kleine, ängstliche Schäfchen vom Anfang. Die Aussicht darauf, wie die Stadt beim nächsten Morgengrauen wahrscheinlich aussehen würde, ließ das Blut in Mays Adern gefrieren. All das, was sie mitgenommen hatte, könnte den Körper ihrer fast-Freundin nicht zusammenflicken. Zwischen Stein und Kleid konnte sie gelbe Blütenblätter erkennen.
Ihr blieb nur noch übrig, nach ihrem Großvater zu suchen. Mit einer kurzen Umdrehung wendete sie sich von dem Körper ab, ging ein paar Schritte. Der Schock saß zu tief. Mit Glück schaffte die Zauberin es an die kaputten Häusern vorbei, die schmale, kleine Gasse entlang. Die Häuser standen dicht beieinander, hier und da wurden sie von Pfaden gettrennt. Die bunten Fahnen und Girlanden waren verbrannt. Bei einem schmalen Brunnen hielt May an. Sie konnte nicht mehr das Bild ertragen, das immer wieder in ihr aufblitzte. Miss Torns traurige Miene, bevor das Gewicht des Drachen zu viel war und ihre zierliche Figur-
"Nehmt sie fest!", brüllte jemand hinter ihr. Mit einem Blick nach hinten stellte May fest, dass die Reiter und der Rote-Stoff-Mensch sie gefunden hatten. Ihre Statur, die Pferde und ihre Ausrüstung glichen eins zu eins der in ihrer Illusion. Sogleich sie versucht hatte, ihrem Schicksal zu entkommen, war es ihr hinterhergeeilt. Sie spürte eine Erkenntnis, die der in ihrer Illusion glich: Sie war nirgends sicher. Weder vor dem Drachen, noch vor dem Kerker und ihrer Hinrichtung. Ihre letzte Hoffnung war ihr Großvater gewesen, aber er war verschwunden. Sie spürte mit einem so starken Schlag plötzlich das Gefühl des Verrats, dass ihre Beine nachgaben. An dem Brunnen gekümmert, versteckte die Frau ihren Kopf. Verraten, ja verraten hatte ihr Großvater sie! Das einzige verbleibende Familienmitglied, der ihre Träume verwirklichte und ein Teil von ihrem Leben war. Hatte Großvater Willow seine Enkelin wirklich zum sterben zurückgelassen?
Dann kam es, wie es kamen musste. Mays Illusion, so dachte sie, war perfekt gewesen. Wie ein Spiegel, der die Zukunft zeigte. Ihre Zelle war widerlich, der hinterlistige Plan Sir Leandros war widerlich und der Gestank ihrer eigenen, verbrannten Haut war widerlich. Es war wie ein nicht endendes Theaterstück, das May schon gesehen hatte. Zwar konnte sie sich nicht an jeden Wortlaut erinnern, aber an den harten Akzent der Frau oder das grelle Licht, nachdem sie endlich wieder das Sonnenlicht erblickte, war ihr viel zu bekannt vorgekommen. Und weil es so kam, wie es kamen musste, stand sie auf ihren eigenen Grab.
"Wir haben es selbst niedergebrannt in Andenken meiner Schwester, du verfluchte Hexe. Verräterin. Drachenflüsterin!"
Es war Miss Torns Schwester, die vor ihr stand. Genau wie in ihrer Illusion war der Marktplatz mit Überlebenden gefüllt. Die Trauernden in ihren braunen Gewändern; die unzähligen Klestos mit Leichen; die gehobenen Trauerstöcke. Ihre Konzentration jedoch galt nur Miss Torns Schwester. Ein braunes Kleid, schwarze Spitze, dunkle Edelsteine und Perlen, ein Diadem, teurer Schmuck - sogar ihr Trauerstock und der Spitzenschirm waren der Trauer nicht angemessen kostspielig. Miss Torn wirkte stets anmutig und elegant. Von einer solchen Schönheit, dass sie soetwas niemals nötig gehabt hätte.
"Wie wagt ihr es über Margaret zu reden?! Sterben sollt ihr. Schüttet endlich das Feuer über diese hässliche Bratze!"
May hörte ihr nicht mehr zu. Sie war die Beleidigungen leid. Zudem sang die Meute vor ihr zu Genüge Drachenflüsterin im Chor - war das nicht schon genug?
Jemand aus den Kreuzkerat, dessen braune Stofflagen noch auffälliger waren als die der Schwester, nahm die gesegnete Feuerschale. Auf diesen Moment hatten alle gewartet, selbst die Zaubererin. Sie hatte ihn nicht auf den Marktplatz entdecken können, sodass das ihre einzige, letzte Chance war. Doch als das Feuer sich teilte, sah sie nicht ihren Großvatter Willow reden und zaubern.
Leid. Weinende Waisen, wütende Eltern, verlassene Seelen, verruste Körper. Als der Spalt sich schloss, erkannte May auch wieder den Drachen. In der Flamme streckte er seine Flügel aus, speite Feuer. Auch wenn May sah, wie er - und nicht sie - die Menschen um ihr Zuhause, ihre Familie und ihr Leben brachte, dachte sie anders. Auch wenn May wirklich erkannte, wie der Drache - und ganz sicherlich nicht sie - Miss Torn umbrachte, wie die Steine auf sie trafen, wie die einst glorreiche Stadt nur noch ein kümmerliches Drecksloch wurde. Egal, was die Zaubererin im Feuerschein musterte, stand für sie eines fest:
Sie selbst war an all dem Schuld.
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