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May hatte Ausversehen einen Ketterling beschworen, der von einem mysteriösen Leandro nicht nur animiert wurde, er hat ihn auch wieder zurückgebracht. Sowie Miss Torn ihren Liebestrank, denn endlich will sie ihr Herz für Großvatter Willow öffnen. Die Ruhe war perfekt für das Geständnis ihrer Gefühle, bis May einen Feuerschatten loßließ. Die Erde bebte, es stank nach Verbrannten und May wusste nicht, was ihr mehr schmerzte - die lauten Glocken oder die hysterischen Schreie der Menschen?
Das Gefühl ließ May nicht mehr los. Es bescherrte ihr überall Schmerzen - Rücken, Bauch, Kopf. Es äußerte sich in ihren weit aufgerissenen Augen, in der Gänsehaut und den Kribbeln im Nacken.
An der Theke hielt schon Miss Torn nach May Ausschau. Auch ihr stand der Schrecken im Gesicht geschrieben. "Zur Heiligen Elis, geht es euch gut? Was habt ihr dort hinten gemacht?"
Natürlich konnte Miss Torn nichts ahnen, sie war keine Zauberin. Der Enkelin blieb nichts anderes übrig, als den Kopf zu schütteln. Keine gute Idee, denn die unerträglichen Schmerzen wurden nur schlimmer. May war wenigstens noch jung, wie ging es nur Willow?
Wo war Willow überhaupt?
Miss Torn antwortete - den anscheinend waren Mays Gedanken so derart durcheinandner, das sie sie laut aussprach - ihr Großvater sei in den Keller gegangen, um Rosetten zu holen.
Doch das Gistena besitzt keine Rosetten mehr. Die Schneidereien neben dem Gistena, zwei verfeindete Stiefschwestern wie aus einem Märchen, hatten sie in einem Wettkampf alle gekauft. May wusste dies, denn zuletzt hatte sie die Sonnenblumen aus den Keller geholt. Und in den Lieferungen des Tages waren keine Rosetten dabei gewesen.
"Ich kann euch nicht mehr sagen, als ich weiß, Liebes. Was ist denn passiert, das ihr so geschockt dreinschaut?"
May hätte ihr gerne geantwortet, aber dann erreichte die Panik auch den vorderen Teil des Ladens. Die schrille Mischung aus Glocken und Schreien, Weinen und Geröll ließ Miss Torn aufschrecken. Ängstlich drehte sie sich zu den Schaufenstern. Nur konnte man nicht viel erkennen, sie standen mit Waren und Regalen voll. Sie mussten Großvater Willow finden, dann nachsehen, was dort draußen geschah.
"Miss Torn, sie werden in den Keller gehen, es gibt nur einen großen Raum. Den Lagerraum. Ich sehe mich oben um."
Skeptisch sah Miss Torn nach den Vorhang, der den Pausenraum von dem Laden trennte. Aber angesichts der Panik, die in ihr aufstieg, tat sie wie ihr gehießen.
May selbst stieg die schmalen Stufen in den ersten Stock hinauf. Im langen Flur, der die einzelnden Zimmer trennte und in einem Wohnzimmer auslief, war Willow nicht. Ihr Großvater fand sich auch nicht zwischen der hölzernen, alten Einrichtung in den beiden Schlafzimmern oder in den Badezimmern. Auch stand der alte Mann nicht am Gussherd in der Küche und kochte wie jeden Abend eine fantastische Leckerei. Selbst auf dem ungemütlichen Sessel, auf dem der Alte gerne Geschichten vorlaß, saß er nicht. Er musste im Keller sein.
Der Gestank von Verbrannten hatte im ersten Stock zugenommen. Auch hier ließ sie einen Feuerschatten los, er rannte in jede Ecke und zu jeden Spalt. Doch in der Wohnung brannte es nicht. Es blieb nur noch der Lagerraum.
Auf den Weg hinab kam ihr Miss Torn entgegen. Sie hatte ihn dort nicht gefunden, war sich aber ganz sicher, dass er in den Keller wollte. Dann bemerkte May, dass der Gestank nicht im ersten Stock zugenommen hatte, sondern überall. Mit zusammgengepressten Lippen versuchte sie, etwas draußen zu erkennen.
Grau. Schwarz. Rot. Hell leuchtend. Dann wieder Grau. Dieses Spiel wechselte sich stätig ab. Wie ein Feuer, das man immer wieder löschte und entfachte. Sonst ließ sich nichts erkennen, nur leichte Umrisse von Mensch und Tier, die hektisch umher rannten.
Das Gefühl des Schreckens, des Bösen, kehrte erneut verstärkt zurück. Großvater Willow war ein mächtigerer Zauberer als May es je werden würde, vielleicht hatte er es vor ihr verspürt und sich ungesehen nach draußen geschlichen.
"Dann sollten wir dort nach ihm suchen, oder nicht?", stotterte Miss Torn neben ihr. Der Armen war jegliche Liebe aus dem Gesicht gewichen. Sie zitterte am ganzen Leib.
May überlegte fieberhaft, wo ihr Großvater sein könnte, als sie einen Beutel mit Gegenständen füllte, die ihr nützlich vorkamen. Zuletzt legte sie sich einen schwarzen, einfachen Umhang um, ließ Daisy auf ihre Schulter krabbeln und griff Miss Torn am Ellebogen. Das war eigentlich alles andere als höflich und freundlich, aber Miss Torn sah überfordert aus dem Fenster. Die graue Dichte hatte sich nur noch verschlimmert. Als ob man das Beben gerufen hätte, fing es in der Sekunde an, als May die Tür öffnete. Die kleine Ladenglocke war viel leiser als die Stadtglocken, die unaufhörlich läuteten.
Die beiden Frauen humpelten auf die Straße. Wo noch vor wenigen Minuten der bunte Markt zu dem Reichtum dieser Stadt beitrug, war nichts mehr zu erkennen. Es schien fast so, als hätten die Leute ihre Kunst und Stände geschlossen und wären abgereist. Das Gefühl, diese schreckliche Gänsehaut und Schmerzen, ließen May aber etwas anderes erahnen. Etwas grausameres. Dies spiegelte sich in dem Gestank nieder: Verbranntes, Blut, Exkremente. Miss Torn hatte etwas zu May gesagt, aber der Krach war zu laut. In der nächsten Sekunde ritten Gardisten auf Südpferden an ihnen vorbei, dicht gefolgt von einem Klesto mit Zivilisten. Schreckhaft wie Miss Torn war, immerhin hatte der Wagen sie fast überfahren, stolperte sie rückwärts in einen kleinen Graben. May könnte schwören, ihren Knochen brechen zu hören.
Langsam wurde es unerträglich. Warum dieses Chaos? Wo war das Feuer?
Ein Brüllen. Es ging durch ihre Haut, Leib und Knochen, bis tief in ihre Seele: ein Drache. Und mit dieser Erkenntnis blitzen viele andere Erkenntisse in Mays Kopf auf: Die Stadt war des Todes geweiht. Der einzige sichere Ort war des Kaisers Palast und vielleicht ihr Lädchen, das mit hunderten, alten Schutzzaubern versehen war. Aber keine davon wäre ansatzweise stark genug, sie vor das Speien eines uralten Geschöpfes zu retten. Wenn sie es nicht in den Palast schaffen, waren die beiden Frauen schon so gut wie tot. May sah zu Miss Torn. Sie rieb sich ihren Knöchel, ihren Schuh hatte sie ausgezogen. Ihr Gelenk war dick, lila und geschwollen. Schicksalhafterweise waren Mays Heilzauber nicht das Gelbe von Ei. Wieder gallopierten Pferde und Esel an ihnen vorbei. Irgendwo meckerten Schafe und Kinder weinten. Dann krachte das nächste Haus ein und das Feuer am Horizont wurde größer. "Was sollen wir tun, May? Wo ist dein Großvater?" schrie die Blonde gegen den Lärm.
May wollte ihr antworten, aber Miss Torn versank in einer Dunkelheit. Ein Schatten hatte sich über sie gelegt, gigantisch, breit. Mit klappenden Zähnen drehte sie sich um.
Er war hässlich.
Seine Federn waren vergraut und mit Schlamm bedeckt. Ihm fehlte an beiden Hörnern ein großes Stück. An jedem Zentimeter fand sich ein Makel. Fehlende Federn, Nägel oder Körperteile, Narben, Wunden, Flecken - der Drache war ganz anders, als man sich ihm vorgstellt hatte. Dann verschwand er wieder in einem Höllenstrudel aus Feuer. Das Geschöpf war May und Miss Torn viel zu nahe. Sie mussten verschwinden. Jetzt.
Daisy krabbellte zu der verletzten Frau und stupste sie leicht an. Mit wackeligen Armen stand sie auf, der Knöchel hatte inzwischen eine neue Definition von Schwellung erreicht. Dann kam ihre Rettung, wie als ob man sie gerufen hätte. Ihre Rettung bestand aus vier Reitern und einem freien Pferd. Sie tauchten zwischen den Nebel so plötzlich auf, dass sie May fast überritten hätten. Sie erkannte unter ihnen einen Roten-Stoff-Mensch. Die drei anderen Männern stiegen von ihren Pferden und eilten zu den beiden. Sie trugen nicht nur das kaiserliche Emblem auf ihren Do, sondern trugen auch schwarze Rüstung. Diese Männer waren von dem kaiserlichen Palast höchstpersönlich geschickt worden. Und das nicht zur Rettung. Einer von ihnen packte Mays Haare, um sie zu sich zu zerren. Es ging zu schnell, die kleine Zauberin konnte nicht reagieren, der Schock und die Angst saßen zu tief. In der nächsten Sekunde waren ihre Hände gefesselt. Dann kam das Feuer. Es verschluckte einer der Männer, fraß ihn auf mit Haut und Haaren. May wurde auf eines der Pferde gesetzt, das unruhig schnaubte. Mit einem Mal kam ihre Stimme wieder zurück.
"Was soll das? Helfen sie ihr! Ihr und den anderen", schrie die Zauberin die Männer an. Aber niemand von ihnen schien auch nur daran zu denken. Die verletzte Frau lehnte mit einem so verzweifelten Blick an der Wand, dass Mays Brustkorb sich zusammenzog. "Sie wird nicht laufen können. Das ist Miss Torn, sie verdammte Kobolde."
Wieder richteten ihre Worte nichts an. Der Rote-Stoff-Mensch nahm die Zügel ihres Pferdes in die Hand, "May Pentragon, sie wurden auf kaiserlichen Befehl fest-"
"Helfen sie ihr, bitte."
"festgenommen. Folgen sie den Anweisungen oder wir haben den Befehl, sie zu-"
"HELFEN SIE IHR!"
Der Rote-Stoff-Mensch setzt wieder an, doch des Drachens Gebrüll kam ihm dazwischen. Das geflügelte Monster flog nun über ihren Köpfen hinweg. May rannten Tränen über die Wangen. Die Schneidereien waren längst eingebrochen, verbrannte Körper lagen um ihnen herum, das Chaos fand kein Ende. Jedes Mal, wenn man hätte meinen können, dass es nicht schlimmer hätte werden können, brach das nächste Haus ein, brannte das nächste Kind bei lebendigen Leib, hörten wieder verzweifelte Schreie abrupt auf. Ihr Großvater war verschwunden und nun musste sie Miss Torn zurücklassen?
Die Rufe der Reiter waren nicht mehr zu verstehen. Sie saßen wieder auf, niemand drehte sein Kopf zu Miss Torn, die widerwillig ein paar Schritte gingen. Ihre Tränen rannen über ihre Wangen, als sie May erreichte. Auch sie sagte etwas, irgendetwas, und hoffentlich würde die Gefangene sich später daran erinneren. Es waren Miss Torns letzte Worte an die junge Zauberin. Pferd nach Pferd trieben die Reiter ihre Pferde voran. Hinter May ritt nur noch der Rote-Stoff-Mensch, vergraben unter den vielen Lagen. Sie drehte sich so lange es ging zu der Schönheit um, doch irgendwann war ihre Scham zu groß. Ihre Angst zu groß. Wieder öffnete der vernarbte und enstellte Drache sein Maul. Sein Feuer streckte sich gierig nach dem Leben, das die Zauberin hilflos, verletzt und verwirrt zurückgelassen hatte.
Die Stadt war nicht mehr das Juwel, das es noch vor wenigen Stunden war, über Jahrhunderte hinweg. Auf dem Weg zum Palast ritten sie eine Anhöhe hinauf, dessen Aussicht ein grausamer Anblick war. Das Juwel brannte, blutetete und verlor alles, was es je ausmachte. Erschöpft klappte die junge Frau zusammen. Sie hatte Miss Torn zum sterben zurückgelassen. Niemals könnte sie das ihren Großvater gestehen.
Die Mauer war eiskalt. Sie stützte zwar ihren Rücken, aber sicherlich auch eine Erkältung. Mays gesamter Körper, jeder Muskel und Gliedmaße fühlte sich verdammt schwer an. Wenigstens berührten ihre Füße nicht den Boden. Sie hatte nicht mehr mitbekommen, wie die Reiter sie an ein paar niedrige Palastwachen übergaben, die sie meterweit unter den Boden in ein Verlies warfen. Als man mehr Zeit für die Gefangenen fand, hängte man einen nach den anderen an der Wand auf. Manchen entnahm man noch wertvolle Gegenstände, aber allzusehr wollte man sich nicht mit dem Gesindel aufhalten. Mays Wertsachen blieben unverschont, auch wenn es sich später als ihr Pech erwies. Danach ließ man sie tagelang hängen.
Das eiskalte Wasser ließ sie hochschrecken. Drei Rote-Stoff-Menschen, darunter Sir Ich-habe-den-Ketterling-animiert, standen ihr gegenüber. In seinem Augen gab May kein gutes Bild ab; ihre Haare umspielten ihr verdrecktes Gesicht, ihr Mantel war zerfetzt. Keine Stelle ihrer Haut oder Kleidung war nicht verrust oder ansatzweise sauber. Er hätte Mitleid mit ihr gehabt, wären da nicht die anderen hunderte Seelen, die in den vergangenen Tagen ihr Leben ließen. Und zu seinem Pech war der Aufklärungstrupp noch immer nicht erschienen.
Egal, wie aussichtlos die Lage der Kaiserstadt und die Frau vor ihm war, er wollte nur noch nach Hause. Sir Leandro musste an die weichen Locken der süßen Beatrice denken, die wie eine Frühlingsbrise ihr zauberhaftes Lächeln umspielten. Dahingegen war der Eimer hart. Er stellte ihn weg.
Mays Orientierungssinn brauchte eine Weile, bis sie begriff. Aber das war längst nicht nötig, denn einer der Rote-Stoff-Menschen ergriff das Wort. Eine Frau, ihre Stimme eisigkalt wie der Winter im Norden Duglanz. Sie informierte die Zauberin darüber, dass der Drachenangriff drei Tage zurücklag, Miss Torn als vermisst gildet, die Schäden unendlich hoch waren und die Kaiserstadt kurz vor dem Abgrund steht. All die Informationen rückten jedoch in den Hintergrund, als eine Wache krumme Stühle holte, damit sie sich setzten konnten. Die Zeit des Smalltalks war vorbei.
"Meister Pendragon," sagte Sir Leandro zähneknirschend, "ist nicht mehr aufgetaucht. Ein Großmagier wurde geschickt, ihn zu suchen."
Die Gefangene wollte fragen, wieso ein kaiserlicher Großmagier nach einem alten Mann wie ihren Großvater suchte, stattdessen entfloh sich nur ein Krächzen ihrer Lippen.
Sir Leandro war mit überraschenden Fakten noch lange nicht fertig, denn er sprach weiter: "Die anderen Großmagier suchen nach dem Versteck des Drachen." Dabei ließ er bewusst weg, wieso. Jedes Kind weiß, dass Drachen niemals nur einmal angriffen. Jedenfalls jedes Kind, das Märchen und Sagen lauschte. Die monströsen Gestalten kamen wieder, wieder und immer wieder, bis kein Leben mehr geopfert werden konnte. Es waren gierige, unglückbringende Wesen. Ihr Großvater hatte sie eine Zeit lang studiert, sie waren auch in den Büchern des Gistenas zu finden. Die Großmagier würden die Schriften mit sich nehmen, den Drachen aufsuchen, um ihn mit den erlernten Wissen töten, dachte sie nach.
Das Wasser war salzig. May leckte die wenigen Tropfen von ihrer Lippe, saugte an einer Strähne. Salzig hin oder her, sie war krank. Der Durst und die allgemeinen Umstände lasteten schwer auf ihrer Gesundheit. Ihre Stimme war schwach, aber die Menschen vor ihr lauschten auf jede einzelne Silbe. "Warum sagt ihr mir das alles?"
Der Blick Sir Leandros, mit dem er May bedachte, war wie eingefroren. "Das Gistena wird beschuldigt, einen Ketterling erschaffen und animiert zu haben. Meister Pendragon wird verhört, sobald er gefunden wurde. Viele gute Magier haben ihr Leben gelassen, wir können ihn nicht auch noch verlieren. Leider haben wir nicht genügend Kapazitäten", er überkreuzte seine Beine, streckte die Arme aus, "um dich ebenfalls vor dem Gericht oder dem Kreis zu verantwortlichen."
Die Frau mit der klirren Stimme stand von ihrem Stuhl auf. Kerzenschein ließ ihre Haut wie Mamor glänzen. "Daher wurde vom Kreuzkerat, die Berater des Gerichts, beschlossen, dass du nun mit sofortiger Wirkung als Vertreterin des Gistenas zur Verrräterin erklärt wurdest. In drei Stunden wirst du lebendig verbrannt."
Etwas starb in May. Es war klein gewesen. Klein, als sie den Laden verließ und in Rauch erstickte. Klein, als die Reiter sie gefesselt hatten und sie Miss Torn zurückgelassen hatte. Klein, als sie hier drinnen aufwachte und diese Rote-Stoff-Menschen vor ihr standen. Ihre kleine Hoffnung war soeben gestorben. Und sie wird ihr folgen.
"Ich habe keinen Ketterling animiert."
Man gab ihr nicht einmal mehr das Recht, sich zu behaupten. Die Zauberin wiederholte ihre Worte, aber niemand hörte ihr mehr zu. Als Veräterin blieb ihr nichts mehr als der Tod. Die Roten-Stoff-Menschen, bisauf Sir Leandro, wandten sich um. Die Dunkelheit ließ nicht erahnen, wohin sie gegangen waren. Der Mann vor ihr fleschte die Zähne.
"Versteh mich nicht falsch, kleine. Dein schmieriger Laden gehört niedergebrannt, nicht du. Man sollte dich verhungern lassen, und am Ende dir deinen Großvater auftischen."
May glaubte, sich verhört zu haben. Ein Schimmer Wahnsinn war in seinen Augen zu erkennen. Sie wiederholte ihren Satz, als wäre er ein Zauberspruch, der sie frei ließ.
"Natürlich hast du das nicht. Ich müsste sterben, aber ich habe ein richtiges Leben mit Frau, Kind, Ehre und Talent. Und wenn du dagegen ansprechen willst, verschwende deine letzten Minuten nicht damit. Der Kreuzkerat liegt in meiner Hand. Wenn du stirbst, stirbt das Geheimnis mit dir. Ich rate dir, dich niemals gegen uns zu stellen."
In ihren letzten Stunden weinte die Zauberin. Da war keine Hoffnung mehr. Alles, was sie liebte, war weg. Zwischendurch legte sich eine bleischwere Müdigkeit über sie, aber May wollte nicht schlafen. Ihre Gedanken drehten sich nur noch um das, was sie verloren hatte. Wäre ihre Tollpatschigkeit nicht zum Verhängnis geworden, wäre dann vielleicht noch Miss Torn am leben? Wäre ihr Großvater noch hier? Sie fand keine Antworten. Sie fand keine Ruhe.
Ein Koloss löste die Ketten. Mit einem Sack über den Kopf wurde May durch den Kerker geführt. Nunja, eher gezerrt und geschleppt. Nach all dem Hängen spürte sie weder Arme noch Fuß. Der Koloss, ein muskulierter Mann mit rabenschwarzer Kleidung und einer Fackel, bahnte sich den Weg durch den Schmutz und Dreck. May empfand eine seltsame Scham, all die anderen Gefangenen zu sehen, wie sie in ihrem Dreck, ihren Exkrementen lagen, wie sie weinten und schrien, oder sich sogar liebten. Niemals hätte sie sich ausdenken können, wie merkwürdig ekelhaft es in den Verliesen war. Hin und wieder begegneten ihr auch Rote-Stoff-Menschen, aber niemand sah May an. May sah niemanden an.
Die Sonne brannte auf ihrer Haut. Die junge Frau befand sich auf ihren Weg zu ihrem eigenen Grab. Sie wusste, dass jede Hilfe zu spät war. Jeder Gedanke an die Freiheit wäre eine Verschwendung, also dachte sie an alles, was sie verloren hatte. Mal wieder. Ihre Tränen versiegten, sie war vollkommen ausgetrocknet.
"Umso besser brenne ich nieder, bis unter Leib und Knochen, oder nicht?", dachte sie schmerzhaft. Eine alte Stimme erzählte ihr langsam eine Geschichte von der Liebe und einer Fee, von süßen Kätzchen und gigantischen Mäusen. Auch der Duft von frischen Brot hing in der Luft. Eigentlich nicht, aber daran zu denken war schöner, als an all die verbrannten Körper von Mensch und Tier. Vielmehr blieb May nicht mehr übrig. Irgendwann nahm man ihr den Beutel vom Kopf. Sie befanden sich auf den größten Platz der Stadt, bei dem einige Häuser auch mehrere Stockwerke mit Balkonen hatten. Hier befanden sich teure, luxuriöse Läden, Bäckereien, Dienstleistungen, Ärzte oder Ämter. Nun war nicht mehr viel davon übrig, aber der alte Glanz schien hier und da durch. Der Platz war in zwei Lagen aufgeteilt worden; die hintere Hälfte war mit braunen Stoffen ausgelegt. Es waren die angesammelten Leichen, die man noch identifizieren sollte. Und es waren tausende.
In der vorderen Häflte, in der May betrübt die Toten nachsah, stand ein großer Scheiterhaufen aus Schutt und alten Holz, das man nicht mehr verwenden konnte, und eine Meute. Es schien erst mehr Tote als Lebendige zu geben, aber als man die Zauberin auf den Berg Brennmaterial schmiss, sah sie das Ausmaß der vergangenen Nacht. Es waren nicht tausende Tote, sondern tausende Trauernde. Sie standen hauptsächlich um den Scheiterhaufen, alle in braunen Kleidern - die Farbe der Toten und der Trauer -, mit Tüchern und Tränen im Gesicht. Es waren ein paar Kinder dabei, sogar Waisen befanden sich unter ihnen. Mehr war nicht übrig geblieben. Die Trauernden legten noch mehr Holz, Heu und Stroh zu ihren Füßen. May fühlte sich lustlos und ausgelaugt, als sie sie betrachtete. Einige besaßen den Mut, ihr in die Augen zu sehen und ihr zu sagen, was ein fieses Miststück sie sein sollte. Es hatte sich schon über Berge und Täler herumgesprochen, sie war der Sündenbock für den Angriff des Drachen und dessen Folgen. Man machte aus ihrer Verbrennung eine große Show: ein Redner kam, sagte, sie solle brennen wie all die Opfer ihrer Taten, ein paar hochrangige Reiche sprachen ihr Leid und Unmut aus, das Feuer aus der Schale wurde als gesegnet bezeichnet. Sogar der Kreuzkerat, eine handvoll Menschen in teuren, braunen gezierten Stofflagen wohnten dem Ereignis bei. Und alle paar Minunten füllte sich der Platz mit Klestos, die neue Leichen fuhren.
Zuletzt gab man ihr ein einziges Recht zurück, indem man sie fragte, wohin ihre kümmerliche Asche geworfen werde sollte. Sie konnte die Frage schlecht unter den Rufen der Verbliebenen hören.
"In mein Gistena", flüsterte May.
"Das Gistena ist selbst zur Asche zerfallen", sprach eine Frau mit einem spitzbesetzten Schirm, edelsteinbesetzten Kleid und laufenden Tränen. Miss Torns Schirm. Sie ähnelte ihr so sehr, als wäre es ihre Mutter oder Schwester, mit ihren blonden Locken und der zierhaften Nase. "Wir haben es selbst niedergebrannt in Andenken meiner Schwester, du verfluchte Hexe. Verräterin. Drachenflüsterin!"
Die Meute stimmte mit ein, sie schrien, brüllten, fletschten die Zähne und hoben ihre Trauerstöcke. Drachenflüsterin. Dann nahm jemand aus dem Kreuzkerat die lodernde Feuerschale und hob sie über Mays Körper. Sie erkannte darin den Drachen, wie er -und nicht sie- die Menschen getötet hatte. Wie er -und nicht sie- diese Stadt erschütterte. Wie er-und verdammt nochmal nicht sie- Miss Torn umgebracht hatte. Die Flamme teilte sich, als sie über die Zaubererin geschüttet wurde. Im Spalt konnte sie ein Gesicht erkennen, pausbäckig, faltig, hinter einer Robe verborgen. Eine Eidechse saß auf dem Kopf des Großvaters, der ein Buch (May war sich nicht sicher, aber vermutete, das es jenes war, das sie aus dem Laden mitgenommen hatte) hielt und flüsterte. Er zauberte. Es war das letzte, was sie gesehen hatte. Danach folgte nur noch der qualvolle Schmerz, der ihr die Sicht, ihre Gefühle und ihr Körper entriss.
May Amelia Pendragon starb.
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