Verrat
Als sie aus dem Untergrund auftauchten, nahm ihnen die Hitze des Tages den Atem. Die Sonne stand noch nicht sehr hoch am Himmel, aber bereits jetzt war es unangenehm warm nach der Kühle des unterirdischen Pyramidenmarktes.
Die Gänge um den Fakirstand hatten sich gefüllt und Leute eilten, ohne sie eines Blickes zu würdigen, an ihnen vorbei. Nur einer fehlte: Taunilus.
„Er wollte doch hier warten", beschwerte sich Irinia genervt.
„Bestimmt ist er gleich wieder da", beschwichtigte Anisa.
„Vielleicht hatte er hunger oder er wollte seine Paste auftragen", bemerkte Tobian.
„Warten wir halt", schnaubte Irinia und ließ sich nieder am schattigen Rand der Bühne. Zanzia warf ihr einen bewundernden Blick zu und setzte sich neben sie. Sofort quetschte sie die Künstlerin über ihr Leben aus, die sich jedoch noch einsilbig an dem Gespräch beteiligte. Alle anderen beobachteten lustlos die Umgebung und Anisa erzählte von den zurückliegenden Wochen. Zum Schluss erkundigte sie sich nach Tobians und Zanzias Erlebnissen seit ihrem letzten Treffen. Es waren tatsächlich fast 30 Tage vergangen, seitdem sie sich zuletzt in der Unterwasserzuflucht gegenüber gestanden hatten.
„Und hat euch Glühbirnchen geholfen?", erkundigte sich Anisa, als sie mit ihren eigenen Ausführungen fertig war.
„Ja irgendwie schon, aber eher unfreiwillig", grinste Tobian.
Zanzia ergänzte: „Ich habe sie ehrlich gesagt öfter gesehen, seitdem der Herr", sie knuffte dem Bibliotheksanwärter in die Seite und fuhr fort: „auf sein Zimmer verband worden war und sein Vater ihn bewacht hat. Der Überwacher hat uns ziemlich oft besucht und Glühbirnchen mitgebracht."
„Ach und was wollte er?", hakte Anisa nach.
„Nur das übliche Zeug. Autorensuche und so", murmelte Zanzia und erklärte dann gleich weiter:
„Jedenfalls, versuche ich schon seit einer Weile sie zu überzeugen mich mit in die Bibliothek zu nehmen. Aber sie weigerte sich."
„Vor fünf Tagen dann der Wandel. Was glaubt ihr, wie ich geguckt habe, als plötzlich Zanzia bei mir aufgetaucht ist? Glühbirnchen hat meinen Vater abgelenkt und ihm irgendeinen wichtigen Auftrag gegeben. Ab da durften wir wieder mehr Zeit verbringen. Und das sogar auf dem Gelände der Bibliothek!", rief Tobian triumphierend.
„Das Beste kommt noch", lächelte die Scheinautorin und zwinkerte.
„Ich kann inzwischen selber die Türen öffnen, um die Bibliothek zu verlassen und zu betreten. Allerdings kann ich keine Portale öffnen, die nicht mit der Bibliothek verbunden sind", berichtete er aufgeregt weiter und nickte Zanzia zu, um ihr zu danken, dass sie ihm die Überraschung überlassen hatte.
Er hatte sich wahrscheinlich Applaus erhofft, aber weder Anisa noch Irinia reagierten. „Ich hab einfach das Tor hierher geöffnet", erklärte er irritiert.
„Hast du ihr eigentlich je die Hand gereicht?", fragte da die ehemalige Bibliotheksanwärterin ohne jemand bestimmten anzusehen und alle außer der Junge starrten sie an. Der blickte beschämt zu Boden.
„Ich trau mich nicht", flüsterte er unbehaglich.
„Weil du die Antwort längst kennst?", fragte Anisa sanft.
Er nickte, dann fasste er nach Zanzias Hand. „Was war das denn?", zischte sie erschrocken und zog sich von ihm entsetzt zurück.
Tobian sah sie fest an und meinte mit brüchiger Stimme: „Wir sollten gehen."
Alle erhoben sich. „Du nicht Zazia. Falls du deine Meinung änderst, kannst du ja Bescheid geben, falls du Egios dann noch erwischst", raunte der Junge aschfahl.
„Du bist ein Gedankentauscher", zischte Zanzia.
„Echt jetzt? Ist sie doch ne Verräterin, ja?", wollte Irinia wissen und Tobian wandte den Blick unglücklich ab. Der Fakir im Rücken der Scheinautorin nickte hastig und deutete in eine Richtung.
„Das könnt ihr nicht machen", herrschte das Mädchen sie an, als sie begriff, dass sie ohne sie loszogen. Dann jammerte sie: „Ich hatte keine Wahl!"
„Können wir nicht, ja? Du bist einfach widerlich", meinte Irinia und zog die beiden anderen mit sich, die immer noch wie betäubt waren.
Zanzia wollte folgen, aber Tobian drehte sich um und schrie: „Bleib weg von uns!"Das Mädchen trat mehrere Schritte zurück, die drei rannten los und vermischten sich mit den Menschen.
Irinia übernahm die Führung und versteckte sie alle an einer Biegung unter einem Tisch, an dem lange Bahnen Stoff herunterhingen. Sie beobachteten, wie Zanzias Füße kurz darauf hastig an ihnen vorbeirasten. Ihre Schritte entfernten sich aber auch so rasch, wie sie aufgetaucht waren. Sie liefen in die entgegengesetzte Richtung zurück, was mit dem Hinweis, den sie von dem Fakir bekommen hatten, überein stimmte.
Am anderen Ende des Marktes hielten sie inne und sondierten die Lage.
„Hast du irgendetwas hilfreiches gesehen?", erkundigte sich Anisa matt.
Tobian schüttelte den Kopf: „So wie es aussieht, sind die Scheinautoren alle 100 Jahre zum Fest der Erneuerung dafür zuständig, alle schwarzen Bücher zu vernichten. So dass sie nicht Libros werden, die Einfluss nehmen können auf Menschen und Kräfte haben. Manchmal haben sie wohl zerstörrerische Kräfte gehabt und konnten sich zusammenschließen, wie der Schwarm. Sie wollen Egios und Pritana mit Feuer verbrennen", murmelte er schwach und schloss die Augen, bei dem Gedanken.
„Was ist mit Zanzia? Will sie das?", hakte Anisa nach.
„Sie hat uns belogen!", rief Irinia entrüstet. „Ist doch völlig egal."
„Sie war unentschlossen, aber zur Zeit nicht mehr", antwortete Tobian mürbe.
„Gibt es Hoffnung?", fragte das Mädchen unbeirrt weiter.
„Vielleicht eine Klitzekleine", seufzte der Junge.
„Ihr seid doch verrückt", zischte Irinia.
Anisa schüttelte den Kopf: „Der Schwarm hat gesagt, dass wir sie überzeugen müssen. Wir brauchen sie."
Plötzlich tauchte Taunilus zwischen ihnen auf. „Glühbirnchen ist nicht weit. Kommt schon", trieb er sie an und zog sie alle in die nächste Gasse. Dann rannten sie tief in die Stadt hinein und versteckten sich schließlich hinter einem alten Haus, dessen Garten völlig verwildert war. Die Bewohner schienen gerade nicht da zu sein.
„Wie hast du uns gefunden?", fragte Anisa immer noch außer Atem.
„Ehm, jetzt nicht komisch finden, aber ich rieche euch. Über Wasser ist es schwieriger und auch nur bei einer feuchten Luft möglich, jedoch hier geht es ganz gut", erklärte Taunilus. „Wenn ihr sitzen geblieben wäret, hätte ich die Glühbirne direkt zu euch geführt, sie war ziemlich nah, aber ich habe sie abgelenkt. Jetzt hat sie jedoch die Spur verloren."
„Zanzia hat uns verraten", flüsterte Anisa und legte ihren Kopf an seine Schulter.
„Das dachte ich mir schon. In der Luft war ganz schön viel Aggression, Verzweiflung und Wut. Und sie ist nicht hier, nicht wahr", seufzte er.
„Das riechst du? Und was noch so?", wollte Irinia interessiert wissen.
Anisa starrte ihn nur entsetzt an, als sie sich ruckartig wieder aufgesetzt hatte. Sie verbiss sich jedweden Kommentar.
Er zuckte mit den Schultern und änderte wohlweislich das Thema: „Was ist denn da unten passiert?"
„Naja, wir haben uns getroffen und kamen wieder hoch", fasste Tobian das Treffen emotionslos zusammen.
„Ich bin ein Fakir", rief aber Irinia stolz.
„Ahja", erwiderte Taunilus unsicher, ob das was Gutes oder Schlechtes war.
„Jemand, der ganz schnell heilt. Das ist doch super! Selbst ein abgetrenntes Gliedmaß würde ganz schnell wieder nachwachsen. Das ist so eine tolle Neuigkeit. Ich bin noch ganz aus dem Häuschen, aber wer beachtet mich schon, bei dem ganzen Heckmeck", berichtete sie euphorisch.
„Was machen wir jetzt?", unterbrach Tobian ihren Redeschwall.
„Wir könnten durch den Brunnen verschwinden", schlug Anisa vor, allerdings war ihr die Anspannung anzumerken.
„Leider nicht. Inzwischen sollte mein Bruder ihn erreicht haben. Er kann uns nicht folgen, weil er uns in der Stadt niemals finden würde, aber zurück können wir auch nicht", erklärte Taunilus bedauernd.
„Durch die Gänge der Bibliothek geht auch nicht, dann haben sie uns gleich wieder. Und sie sind nah, sie spüren bestimmt sofort, wenn sich hier was tut", meinte Tobian.
„Tja, die Herrschaften. Dann bleibt uns wohl nur die ganz altmodische, stinknormale, alte Art sich von A nach B zu bewegen. Nicht wahr?", lachte Irinia.
Alle blickten sie an.
„Ihr habt recht. Jetzt so als Fakir finde ich das auch langweilig", meinte sie ironisch.
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