Türsprünge
Aufgeregt stand Anisa in ihrem Zimmer. Sie hatte gerade den Küchendienst für diesen Tag beendet und mit den anderen das Abendessen eingenommen. Es hatte Milchreis mit Sauerkirschen gegeben. Tobian und sie hatten das Ende herbeigesehnt und waren sofort aufgebrochen, als sie entlassen worden waren. Gemeinsam waren sie durchs Gebäude geeilt und hatten sich an der Treppe verabschiedet, wo es nach links zu den Jungsräumen ging und nach rechts zu den Mädchenunterkünften.
Atemlos war sie in ihr Zimmer gerauscht und wartete jetzt darauf, dass ihr Herz sich beruhigte. Als es soweit war, sagte sie: „Bibliothek, bitte öffne eine Tür in mein Schlafzimmer zu Hause." Sie verharrte angespannt, doch nichts geschah.
Es verging Minute um Minute, aber kein Durchgang tauchte auf. „Kannst du eine Tür in Tobians Raum öffnen?", erkundigte sie sich und setzte unsicher ein „Bitte" hinterher. Wieder passierte nichts.
„Was ist mit Histos Kämmerchen? Geht das, bitte?", flehte sie schließlich. Es dauerte ein paar Momente und endlich erschien ein Leuchtrahmen für einen Durchgang. Sie atmete durch und trat hindurch. Auf der anderen Seite landete sie in der ihr wohlbekannten Abstellkammer. Rasch kehrte sie zurück, bevor sie jemand bemerkte.
Der Türrahmen verblasste kurz darauf, während sie noch überlegte, was sie als Nächstes probieren sollte. „Und mein Zimmer zu Hause geht wirklich nicht?", erkundigte sie sich erneut.
„Vielleicht ja ein anderes Zimmer im Haus? Eigentlich ist mir egal welches?", versuchte sie es weiter.
Sie wollte gerade aufgeben und etwas Alternatives versuchen, da leuchtete eine neue Tür auf. Vorsichtig trat sie hindurch und stand im Keller ihres Zuhauses. Es roch ganz eigentümlich trocken. Fässer lagerten nebeneinander, Regale mit eingeweckten Birnen, Äpfeln, Tomaten, Gurken und anderen Gartenerrungenschaften reihten sich aneinander, Weinflaschen stapelten sich und in der Ecke häuften sich jeweils Berge von Kartoffeln, Zwiebeln, Kürbissen und Rüben. Sie war als Kind niemals hier runtergekommen. Aber als sie älter wurde und gerne in der Küche half, um dem bunten Treiben zu folgen, dem sie sonst nur selten nahekam, hatte sie manchmal der Köchin etwas von hier unten geholt. Vermutlich hatten die Dienstboten nur einen Vorwand gesucht, um sie loszuwerden, denn vor ihr hatten sie niemals frei sprechen können. Dennoch hatte sie sich nicht entmutigen lassen. Es war ihr einziges Fenster in die wirkliche Welt gewesen, weil sie sonst von allem abgeschottet und beschützt worden war.
Schnell hüpfte sie wieder in ihr Schlafzimmer in der Bibliothek und fragte: „Warum geht der Keller und nicht mein Zimmer?" Aber niemand antwortete ihr.
„Kannst du eine Tür in unseren Unterschlupf öffnen?", wollte sie wissen. „Bitte?", setzte sie nach, als nichts passierte, woraufhin sich tatsächlich ein Durchgang bildete. Im gleichen Moment starteten mindestens fünf Käfer von überall in ihrem Zimmer und Anisa schrie entsetzt: „Schließen! Bitte schließen!" Die Tür verschwand sofort. Das Mädchen packte sich ein Glas und sammelte die Tierchen ein.
„Heißt also, Bibliothek und Schwarm können nicht dasselbe sein", murmelte sie bei ihren Bemühungen. Sie musste sich teilweise ganz schön anstrengen, denn die Biester machten es ihr nicht gerade einfach. Hüpfend und rennend taumelte sie durch ihr Zimmer. Dabei fluchte sie hin und wieder und war zum Schluss regelrecht nassgeschwitzt, als sie triumphierend ihren Endgegner im Glas einsperrte.
„Gut, dann bitte jetzt in den Wald zu Glühbirnchen", bat sie atemlos. Erneut geschah nichts.
„Gibt es in der Nähe noch eine Tür?", erkundigte sie sich. Leuchtend wurde ein weiterer Durchgang gebildet. „Warte", hauchte Anisa. „Was denkst du, wo ich hingehen soll, Bibliothek? Du hilfst mir doch immer? Was wäre für mich der klügste, nächste Schritt?", wollte sie wissen. Ein zweites Tor bildete sich und das Mädchen wählte dieses. Sie befand sich mitten zwischen den schwarzen Büchern und zuckte erschrocken zurück, als sie ihre drückende Präsenz spürte. Die Tür zum Schwarm stand offen vor ihr und sie zögerte nur einen Moment, dann trat sie hindurch. Die Bibliothek konnte scheinbar keine direkte Tür zu der Vielen bilden.
Zum zweiten Mal betrat sie den Sternenraum mit seiner Blumenwiese. Der Schwarm verhielt sich ganz ruhig, als hätte er auf sie gewartet. Sie trat näher und wollte die Käfer aus ihrem Glas entlassen, doch Worte bildeten sich in ihrem Kopf: „Behalt die fünf. Sie können durch Glas atmen, selbst im Wasser. Falls Löcher im Glas sind, werden sie diese schließen. Allerdings sehe ich immer alles, was sie sehen. Höre, was sie hören. Fühle, was sie fühlen. Verstecke sie also gut, wenn du sie nicht bei dir trägst. Glühbirnchen würde sie nur zu gern in ihre Fingerchen bekommen und zerquetschen, so wie sie es mit meinem kleinen Freund gemacht hat, als ihr die wahre Autorin besucht habt."
„Das war Glühbirnchen? Ich dachte Egios hätte das Wesen unabsichtlich erwischt?", flüsterte Anisa.
„Seitdem ist sie vorsichtiger und lässt niemanden mehr mit durch die Tore. Aber ich habe meine eigenen Wege", antwortete die Viele vage.
„Was ist dein Problem mit der Bibliothek und Glühbirnchen?", erkundigte sich das Mädchen behutsam.
Der Schwarm vibrierte amüsiert. „Ich war einmal einer Meinung mit der Bibliothek. Diese aufgeblasene Glühbirne hat einfach noch nicht begriffen, auf welcher Seite sie stehen sollte. Wir haben nicht viel Zeit, ich kann dir nicht alles erklären. Geh nach Zinoka und tropfe etwas von Pritana auf das Bücherregal. Du findest es nur alleine mit Pritana oder Tobian mit Egios. Ihr müsst Zanzia auf eure Seite...", erklärte sie, konnte aber ihren Satz nicht beenden. Denn Glühbirnchen tauchte kreischend auf: „Was tust du hier, Anisa? Bist du verrückt geworden. Das ist gefährlich, komm sofort wieder mit."
Es war ein Befehl. Der Schwarm schwieg.
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