Der Libros Egios
Atemlos rannte sie einen langen, dunklen Tunnel entlang. Ihr war nicht ganz klar, ob sie vor etwas davonlief oder hinterher. Angstvoll blickte sie sich um, was wahrscheinlich dafür sprach, dass sie davonrannte. Eine graue Bibliotheksrobe umhüllte ihren Körper. Sie hatte eine gelbe Schärpe umgelegt, die zeigte, dass sie bereits die nächste Stufe aufgestiegen war. Der Gang schien schier endlos in beide Richtungen weiterzugehen. Irgendetwas trieb sie weiter, selbst wenn ihre Kräfte schwanden. Sie spürte die Gefahr näher kommen, ohne sie bestimmen zu können. Das Gefühl wurde übermächtig und sie war sich sicher, dass etwas Schreckliches passieren würde...
Da erwachte sie. Anisa lag in ihrem winzigen Einzelzimmer. Eine unbequeme Pritsche, ein kleiner Tisch zum Arbeiten und ein Witz von einem Schrank für ihre Habseligkeiten. Die kalten, kargen Steinwände trugen nicht gerade zur Wohlfühlatmosphäre bei, aber sie beschwerte sich nicht. Alle Novizen waren so untergebracht, um unabgelenkt ihren Studien nachgehen zu können. Im ersten Jahr hatten sie keinen Unterricht und durften sich nur mit der Bibliothek und den sich darin befindenden ungeschriebenen Werken vertraut machen. Vor lauter Langweile hatte sie tatsächlich angefangen, sich mit den unterschiedlichen Gefäßen und ihren Inhalten zu beschäftigen. Gelbe Flüssigkeiten deuteten auf Texte der Lyrik hin, blau stand für Epik und rot für Dramen. Weiß bis hin zu grau-farbenen Fluiden zeugten von wissenschaftlichen Büchern, während schwarz, sich ihr bis dato als Erscheinungsweise vollkommen entzogen hatte. Sie hätte wirklich gerne eines der Fläschchen vom Vortag näher untersucht. Leider waren sie gewarnt worden, dass so ein Unterfangen sehr gefährlich war. Wer wusste schon, was so ein Buch mit ihrem Geist anstellte.
Da sie einmal wach war, zog sie sich ihre Bibliotheksrobe mit der blauen Schärpe über und lief ins Gemeinschaftsbad, wo sie sich alleine rasch wusch und für den Tag fertig machte. Im Spiegel sahen ihr große, graue Augen entgegen, deren gelben Punkte gerade nicht strahlen wollten, zu trüb war ihre Stimmung von dem Traum. Sie flocht ihre langen braunen Haare rasch in zwei Zöpfe, die sie ineinander wandt und aufsteckte. Die Turmuhr schlug in der Ferne fünf Mal.
Als sie den weitläufigen Komplex mit den Dormitorien und der Mensa verließ, begannen gerade die ersten Sonnenstrahlen über den Horizont zu ziehen. Einige Vögel zwitscherten und andächtig blieb sie stehen, um die Ruhe zu genießen. In der Ferne erhoben sich die Ausläufer des Gebirges Zin und erinnerten sie wieder einmal daran, wie weit ihr geliebtes Meer entfernt lag.
Sie lief über den weiten Platz, in der Mitte standen wie immer stoisch und erhaben die drei Zentralmonolithen aus Blau-, Gelb- und Rotstein. In deren Nähe fühlte man sich klein wie eine Maus und sie verbeugte sich etwas in ihre Richtung, bevor sie das stattliche Gebäude betrat. Drei Stufen führten hinauf in das einladende Portal, jede Treppenstufe in einer anderen Farbe: blau, rot und gelb. Das Plateau oben war so weiß wie Schnee und die Tür silbrig grau. Sie stand, wie immer offen und so schlüpfte sie in die große Vorhalle, in der sie vor fast einem Jahr zum Studium begrüßt worden war.
Damals war sie nicht alleine gewesen. Mit ihr waren 20 weitere Lehrlinge angereist und hatten ihre Zeit an der Bibliothek begonnen. Von diesen 20 schafften normalerweise nur 10 das erste Jahr. Nach dem zweiten Jahr waren es in der Regel 5. Dann nur noch zwei und mit etwas Glück, blieb einer nach dem vierten Jahr als Bibliothekar an diesem geheimnisvollen Ort zurück. Nicht die besten Aussichten. Jedoch wollte sie ohnehin nicht bleiben. Daher perlte der Druck ab, wie an einem Lotusblatt. Sie liebte diese Blätter. Als Kind hatte sie stundenlang mit ihnen gespielt und Tropfen rauf und runter gepustet oder das Laubwerk so bewegt, dass die perfekten Tröpfchen geschmeidig über die pelzige Oberfläche fuhren. Im Garten ihres Elternhauses hatte es einen ganzen Teich mit diesen Pflanzen gegeben und immer wenn sie unbeobachtet war, hatte sie sich einen Vorrat besorgt. Zu ihrem großen Missfallen war das schwierig gewesen, weil ihre Aufpasser nie weit weg waren, um jedes Unheil von ihr fern zu halten.
Ihre Schritte hallten nun auf dem Marmorboden wider, damals hatte man nur das Stimmengewirr und Geraschel all dieser Anwärter mit ihren Familien und der anwesenden Bibliothekare gehört. Der Direktor hatte eine kleine Willkommensrede gehalten und sie auf ihre Aufgabe sich mit ihrem neuen Zuhause vertraut zu machen eingeschworen. Seitdem hatte kaum ein Bibliotheksangehöriger das Wort an sie gerichtet. Ihr Mentor Kratos war aufgetaucht und hatte ihr mürrisch ein paar Regeln erklärt:
1) Du sollst niemals ein Buch beschädigen. Sie sterben.
2) Lerne die Bücher und die Bibliothek kennen.
3) Frage nicht, finde selbst heraus.
4) Keine geschriebenen Bücher haben Zutritt in der Bibliothek der ungeschriebenen Bücher.
5) Zuwiderhandlung wird mit Rausschmiss geahndet.
Warum also war sie noch hier? Hatte sie nicht die erst Regel missachtet? Nicht, dass sie es absichtlich getan hätte. Das Buch war ihr vor einigen Tagen aufgefallen, als sie in dem Raum eine wundervolle türkisblaue Flüssigkeit immer wieder erspürt hatte. Nur Angehörige der Bibliothek durften die Gefäße berühren und dann ihre Essenz spüren. Die Worte flogen in Bruchteilen eines Augenblicks durch den Kopf und hinterließen ihren Abdruck im Geist. Was war die innerste Aussage einer Geschichte, eines Dramas oder eines Gedichtes? Dieses Gefühl blieb zurück und Anisa liebte es, Schätze zu entdecken, die ihr positive Emotionen zuflüsterten, die sie von alleine kaum einmal erspürte.
Das Türkisblau der Geschichte war ihr so rein und freundlich erschienen. Zaghaft hatte sie danach gefasst und war über die Heftigkeit der negativen Empfindung – pure Einsamkeit – so erschrocken, dass sie das Gefäß umgestoßen hatte. Aufgeregt hatte sie versucht das Ganze in ihre Gedanken ungeschehen zu machen, denn jede Geschichte – jedes Gefühl – war kostbar und ein verlorenes Buch schien ihr das Grausamste, was sie sich überhaupt vorstellen konnte. Kratos war ziemlich schnell aufgetaucht und hatte mit seinem Zauberstab die Flüssigkeit aufgesammelt.
Was danach geschehen war, schien ihr inzwischen völlig absurd und unreal. Schwarze Geschichten, sprechende Bienenschwärme, fliegende Glühbirnen, ihnen verschlossene Geheimgänge, Stromschläge verteilende Bücher in der heiligen Bibliothek und dann noch das Bild dieses seltsamen Mädchens. War irgendwie alles etwas zu viel für nur einen Tag.
Ihr Weg führte sie zurück in das Zimmer mit der ehemals türkisblauen Flüssigkeit. Die Stelle, an dem der Epos gestanden hatte, war leider leer. Ob er wohl einen neuen Platz bekommen hatte?
Später am Nachmittag kehrte sie zurück in den Sesselraum. Tobian schien bereits auf sie gewartet zu haben. Er legte sofort das Buch weg, als sie auftauchte. „Hallo Anisa", begrüßte er sie. „Ich war mir ehrlich gesagt nicht sicher, ob du kommst."
„Ach was. Endlich passiert mal was", erwiderte sie gut gelaunt. Sie deutete auf das Buch und erkundigte sich: „Was machst du gerade?"
„Wollen wir nicht zuerst deine Flüssigkeit suchen?", schlug er ausweichend vor.
„Hab ich schon. Sie ist nicht wieder da", bemerkte sie und schaute ihn erwartungsvoll an.
„Was waren ihre Merkmale?", überging er ihr Ansinnen.
Sie seufzte und meinte knapp: „Zuerst türkisblau und schmaler, länglicher Kolben, dann aber dunkelblau mit einem klobigen Gefäß, das ebenfalls dunkelblau gefärbt war. Allerdings grünlicher, deshalb konnte ich es unterscheiden. Die Essenz der Geschichte war Einsamkeit." „Ein Epos also, der eine unheilverkündende Botschaft aufweist. Hast du die Essenz gespürt nachdem die Geschichte ein neues Gefäß bekam?", wollte er wissen.
„Wie soll sich denn bitte die Essenz verändern?", fragte sie überrascht.
„Hast du?", hakte er nach.
„Nein", erwiderte sie beklommen.
„Die Gefäße geben Hinweise auf die Essenz. Jedes Detail ist wichtig", erklärte er. Ein Zucken ging durch sein Buch und er lächelte wohlwollend in seine Richtung. Er lief hinüber und schlug es auf. Die Seiten zeigten eine Tabelle mit Gefäßformen, Farben und Konsistenzen von Flüssigkeiten und die damit einhergehenden Essenzen. Solche Aufzeichnungen hatte Anisa noch nie gesehen. Fasziniert strich sie darüber und spürte ein Kribbeln in den Fingern.
„Normalerweise versetzt Egios jedem einen Schlag, der es wagt ihn ungefragt zu berühren. Du hast Glück. Er mag dich", bemerkte Tobian.
Erschrocken zog sie ihre Finger zurück. „Was ist er?", flüsterte sie ehrfürchtig. „Ein schief gegangener Zauber", seufzte ihr neuer Freund. „Mein Vater wollte ein Buch retten, vor seiner Verwandlung zu einer schwarzen Flüssigkeit. Das Buch wurde geschrieben – aber ich konnte es nicht mehr rechtzeitig beenden. Da hat mein Vater es verflucht, was auch schief ging. Wir sind miteinander verbunden. So wirklich versteh ich das auch alles nicht."
„Dein Vater hat dich sein Buch schreiben lassen?", rief sie entsetzt. Tobian lachte. „Da ist es wieder. Jeder andere würde sich wundern, dass mein Vater ein Bibliothekar ist. Du aber wunderst dich, dass der Bibliothekar seinen Sohn schreiben lässt, was eine große Ehre ist – nebenbei bemerkt", fasste er seine Gedanken zusammen.
„Schon, aber was für eine Verantwortung für einen", an dieser Stelle zögerte sie: „Jungen Menschen."
„Ich habe versagt. Es war Zufall, mein Vater hatte nie die Absicht mir die Aufgabe zu übertragen", gab er kleinlaut zu. Anisa sah zu dem Buch. „Aber dafür hast du einen wunderbaren Freund gewonnen. Oder nicht?", beschwichtigte sie.
Verwundert schaute Tobian zu seinem roten Folianten und meinte: „So hab ich das noch nie gesehen. Hätte ich es gewusst, hätte ich ein kleineres Format gewählt."
„Und wärst fertig geworden", erklang ihre prompte Antwort.
Der kräftige Junge blickte verträumt zu Egios und lächelte zufrieden. Dann kam wieder Leben in ihn und er fuhr die Spalten der Tabelle entlang, blieb an klobiger, dunkelblaugrüner Rundkolben und schließlich blaue Flüssigkeit (Epik) hängen. Darunter waren drei weitere Rubriken: fester, flüssiger, gasförmiger Zustand.
Neugierig kam Anisa näher und meinte: „Ich wusste nicht einmal, dass eine Geschichte eine anderen Aggregatszustand einnehmen kann. Definitiv flüssig, zähflüssig." Am Ende der Spalte stand nur ein Wort: „Verzweiflung". Beide starrten sich entsetzt an. „Ich habe dafür gesorgt, dass die Essenz des Buches von ‚Einsamkeit' zu ‚Verzweiflung' gewechselt hat. Wie schrecklich.", flüsterte Anisa. Ihre Hände zitterten, sie fühlte sich wie ein Mörder. Es würde aussichtslos sein, einen Autor für diese ungeschriebene Geschichte zu finden.
Plötzlich zuckte das Buch und blätterte selbstständig ein paar Seiten weiter. Da stand: „Je dunkler die Flüssigkeit wird, desto weniger Zeit bleibt, um einen Autor zu finden."
„Beim Wustu", stöhnte Anisa. „Ich habe sein Todesurteil unterschrieben." Sie schlug die Hände vors Gesicht.
„Es ist nicht sehr ratsam, ein negatives Gefühl als ersten Text zu wählen", seufzte da hinter ihnen eine Stimme. Sie fuhren herum und Bantea stand mit dem beschädigten ungeschriebenen Buch vom Vortag am Geheimdurchgang. Bedeutungsschwer blickte sie auf Anisa, die sie mit großen, betrübten Augen anstarrte.
„Ich habe doch nicht gewählt", flüsterte die Unglückliche.
Bantea lächelte milde und versetzte: „Das Buch hat dich gerufen und du hast reagiert. Es setzt all seine Hoffnung in dich. Wie man hört, scheinen auch die schwarzen Bücher auf dich zu reagieren. Sei vorsichtig."
Dann umwickelte sie das Fläschchen mit einem Tuch und ließ es langsam in Anisas Hand gleiten, um gleich darauf den Raum zu verlassen. Dieses Mal allerdings auf die herkömmliche Art – durch die Bibliothek.
„Wieso reagieren denn jetzt auch noch die schwarzen Bücher auf dich?", erkundigte sich Tobian.
„Weiß ich doch nicht. Als ich dort war, hätte ich sie gerne näher untersucht. Sie haben geblubbert, das fand ich allerdings komisch", erklärte sie leichthin. „Okay", war seine einzige zaghafte Reaktion auf ihre Eröffnung. Er setzte ein paar Mal an, etwas zu sagen, jedoch ließ er es wiederholt bleiben.
Irgendwann platzte Anisa der Kragen und sie rief aufgebracht: „Sag es endlich!"
„Also ich will dir ja nicht zu nahe treten, aber ungeschriebene Bücher reagieren nicht auf Menschen. Sie beeinflussen sie, aber sie tun im Allgemeinen nichts", erklärte er. Sein Buch fing wieder an sacht zu vibrieren und blätterte ein paar Seiten weiter.
Da stand:
„Die Flüssigkeit hat kein Eigenleben, jedoch kann ihre Aura Menschen anziehen oder auch abstoßen. Ein ungeschriebenes Buch ist immer auf der Suche nach einem Autor, wenn ein passender Kandidat in der Nähe ist, weiß das Buch sofort Bescheid."
Liebevoll streichelte Tobian seinen Folianten. „Du hast mich gewählt. Es tut mir so leid, dass ich dich enttäuscht habe", murmelte er. Da schrieb das Buch in roten Buchstaben quer über die Seite: „Du hast mich nicht enttäuscht. Es war ein schwieriges Unterfangen und ich bin nicht unglücklich."
Die Schrift wirkte ausladend und schwungvoll. Als Egios den Satz beendet hatte, verblasste der Text sofort und nach einigen Augenblicken, war nichts mehr davon zu sehen.
„Danke", flüsterte ihr neuer Freund und meinte dann wieder optimistischer: „Egios schreibt nur ganz selten selber etwas. Dass du das sehen durftest, ist wirklich eine große Ehre."
Sie nickte und freute sich aufrichtig. Jetzt hatte sie sogar ein Buch zum Freund. Langsam wanderte ihr Blick runter zu ihrer eigenen Geschichte, die einsam aus dem Tuch herausschaute.
„Bist du sicher, dass du dir das aufhalsen willst?", erkundigte sich Tobian.
„Sicher nicht, aber was bleibt mir übrig?", krächzte sie hilflos. Da durchzuckte sie ein Geistesblitz: „Was wenn wir die Prozedur wiederholen, die dein Buch zu einem lebenden Buch gemacht hat?" Zuerst wirkte ihr Gegenüber geschockt, dann meinte er lächelnd: „Was glaubst du, warum ich hier bin? Alle möchten das nachstellen, aber sie bekommen es nicht hin. Mein Vater am allerwenigsten."
„Was ist mit dir? Glaubst du, man könnte das wiederholen?", fragte sie ihn.
Ein geheimnisvolles Grinsen huschte über sein Gesicht, dann erklärte er: „Mal wieder stellst du die richtigen Fragen. Mein Vater will den Ruhm für sich einstreichen, er kommt gar nicht auf die Idee, dass ich wichtig sein könnte und ihm etwas vorenthalte. Bücher wollen nicht leben, meins zumindest nicht. Sie wollen geschrieben werden. Das gibt ihnen Daseinsberechtigung. Mein Buch ist ein Außenseiter, fühlt sich alleine in dieser Welt und hasst seinen Zustand, immer von mir abhängig zu sein."
„Die Frage ist doch, ob es lieber in diesem Zustand sein möchte, als ein dunkles Buch zu werden?", flüsterte Anisa.
Ein Zittern ging durch den Folianten und es schlug eine neue, leere Seite auf. Da stand: Die Antwort auf diese Frage lautet ganz klar: Kein Buch möchte ein schwarzes Buch werden! Weggesperrt und ohne Hoffnung sich mitzuteilen, vegetieren sie vor sich hin. Möchtest du das, wenn du es dir aussuchen kannst?"
„Sind die schwarzen Bücher wirklich so schlimm für uns Menschen?", wollte sie wissen. Tobian wusste es nicht und zuckte mit den Achseln, dann fiel sein Blick auf Anisas Gefäß. „Das da sollte doch eine Vorstufe sein, oder?", schlug er vor.
Vorsichtig näherte Anisa ihren Finger dem Behältnis der Flüssigkeit, in dem Moment als sie es berührte, spürte sie die Geschichte, die von tiefer Traurigkeit durchzogen war. Unabwendbares Unglück, in das sich der Protagonist, während seiner Heldenreise verstrickte, brach über ihm zum Schluss vorhersehbarerweise zusammen. Von Beginn an war er verdammt, jedoch gab er nicht auf, stellte sich den Herausforderungen, so dass selbst ein Scheitern für ihn ein Neubeginn war und die Hoffnung zurückblieb, dass er sich auch von seiner letzten, niederschmetternden Niederlage erholen würde.
Eine Träne lief langsam über ihre Wange, als sie ihren Finger zurückzog.
„So wunderschön", hauchte sie und sie sah liebevoll auf ihren Schützling hinab. „Wenn niemand das schreibt, dann mach ich das einfach selber", erklärte sie bockig.
„So ging es mir mit Egios", seufzte Tobian. „Ich hätte niemals die Flüssigkeit lesen dürfen, die mein Vater in seiner Privatbibliothek stehen hatte. Als ich es tat, war sie auch schon so dunkel, wie dein Freund hier. Mein Vater hatte ihn auf gegeben – wer schreibt schon über die Einsamkeit. Ich war damals erst acht, aber die Geschichte bewegte mich so tief, dass ich sie aufschreiben musste." Bei diesen Worten strich er unbewusst über die offenen Seiten des Folianten. Dann fuhr er traurig fort: „Ich schrieb drei Tage und drei Nächte bis jemand bemerkte, was ich da tat. Mein Vater war außer sich und belegte uns mit einem Fluch, der verhinderte, dass ich mich erinnerte. Eine Verbindung wurde brutal zerbrochen und wir beide tief verwundet." Es fiel ihm sichtlich schwer, davon zu berichten. Plötzlich ging ein Zittern durch Egios und er schlug leere Blätter auf. Tobian lächelte und erklärte flüsternd: „Die Bibliothek ist voller verborgener Ohren, lies dort weiter."
Eine neue in blau gehaltene Handschrift tauchte auf. Vermutlich, die von Tobian selber. Da stand: „Ich schrieb trotzdem weiter, da ich ja den Anfang kannte und einfach den Rest ersann - natürlich heimlich. Als ich das Ende schrieb, verschwand mein Exemplar vor meinen Augen und ich vergaß erneut alle Einzelheiten, während Egios sich hier an seinem Platz im schwarzen Teil der Bibliothek ganz alleine in den roten Folianten verwandelte, den du hier vor dir hast." Es wirkte fast, als ob das Buch sich etwas bei seinen Worten stolz aufplusterte und auch Tobian schien zu bemerken, dass sein Freund sich bemerkbar gemacht hatte. Lächelnd übernahm er die Erzählung wieder, während die Handschrift verblasste: „Er wurde jedoch nicht zu einem normalen geschriebenen Buch, sondern zu einem Libros – so nennt er sich selber. Lange Zeit wusste ich nicht, dass er überhaupt existierte. Schließlich wurde ich hierher beordert und mein Vater gab mir widerwillig das verstümmelte Buch, wie er sagte. Er sei tief enttäuscht von mir, aber konnte auch nicht ignorieren, dass das Buch immer nur nach mir rief und seine Geschichte nicht preis gab. Alle Seiten waren in roter Tinte nur mit meinem Namen beschrieben. So kam ich hier als Anwärter her, der eigentlich nie hätte auserwählt werden sollen. Du weißt ja sicher, dass die erlesenen Familien immer eine Generation warten müssen, bevor sie einen neuen Bibliothekar ausbilden lassen."
Sie nickte kaum merklich, denn die Erzählung hatte sie völlig gefangen genommen.
„Ich kenn die Geschichte immer noch nicht und erinnere mich an nichts, was ich schrieb", erläuterte er zerknirscht. Anisa schaute zu dem Folianten, durch den ein Zittern fuhr, aber dieses Mal erschien keine Erklärung auf seinen Seiten.
„Vielleicht kann man den Zauber rückgängig machen?", fragte sie hoffnungsvoll. Er schüttelte traurig den Kopf: „Wurde schon versucht."
„Gab es so etwas schon einmal?", erkundigte sie sich als Nächstes.
Erneut verneinte er trübselig.
„Und Egios? Gibt er dir keine Hinweise?", wollte sie wissbegierig wissen.
Tobian seufzte. „Das ist ein Thema, das er völlig ignoriert. Leider", er schaute auf den Libros, der sich einfach mit einem lauten Knall zuklappen ließ.
„Ok", sagte Anisa verblüfft. „Das war eindeutig."
In dem Moment hörte man die Turmuhr sechs Mal schlagen. „Frühstück?", erkundigte sich Tobian schnell, bevor sie eine weitere Frage stellen konnte. Er schien, das Ganze erst einmal sacken lassen zu wollen. Ihren Wissensdurst würde sie auch noch später stillen können. „Dieses Mal, gehen wir allerdings gemeinsam", erklärte sie bestimmt. Er wollte protestieren, als er aber ihren warnenden Blick bemerkte, schluckte er seinen Widerspruch hinunter. Sie machten sich daher dieses Mal zusammen in die große Mensa auf.
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