Das ungeschriebene Buch
Kaboom! Scheppernd fiel eine Glasphiole auf die Fliesen und zerbarst in tausend Stücke. Erschrocken versteckte Anisa ihre Hände hinter ihrem Rücken, so als ob sie nichts mit der Sache zu tun hatte.
Ein Buch war für alle Zeiten unwiederbringlich verloren und sie war sich sicher, dass Kratos ihr das nicht verzeihen würde. Da tauchte er auch schon wutschnaubend an der Ecke auf und schrie mit erhobenem Zeigefinger: „Ich habe dir bereits wiederholt gesagt, dass es unverzeihlich ist, eine Phiole zu zerstören. Die Kolben mit ihrer Flüssigkeit sind unser wertvollster Besitz." Seine rote Schärpe blitzte unter seiner Robe hervor und passte in diesem Moment ganz einträglich zu seinem Temperament.
Dann kniete er sich neben die Scherben, zog seinen Zauberstab und sammelte vorsichtig jeden einzelnen Tropfen des türkisblauen Fluids in seiner Hand. Dabei erkannte man eine Verletzlichkeit in ihm, die sonst niemals zum Vorschein kam. Liebevoll erhob er sich und warf ihr dann unerwartet einen vernichtenden Blick zu.
In dem Moment betrat Bantea den Raum und ihre positive Aura überlagerte sofort jedwede Aggression. Verletzt blickte sie auf die Geschichte in Kratos Hand und meinte mit einem Nicken in ihre Richtung: „Nimm sie mit." Der junge Nasik, den seine blau schillernde Haut kennzeichnete, reagierte kaum vor Wut, aber beide Frauen nahmen den knappen Augenniederschlag, der wohl als Zustimmung zählte, wahr.
Bantea, eine von Elfen gesegnete, schwebte davon. Sie berührte zwar den Boden, aber ihre Bewegungen flossen so elegant ineinander, dass man das kaum wahrnahm. Anisa schwieg und wartete, sie wagte nicht einmal, aufzusehen. Ohne sie zu beachten, lief Kratos in die entgegengesetzte Richtung der Bibliothek – in den hinteren Teil, wo nur die älteren Bibliotheksschüler und Angestellten Zutritt hatten.
Für Anisa war es das erste Mal, dass sie die unsichtbare Grenze bei den dunklen Büchern übertrat. Zuerst liefen sie noch an den verschiedenfarbenen Glaskolben vorbei, als wäre es das Normalste der Welt. Dann plötzlich veränderte sich etwas in der Atmosphäre und die Wände schienen auf sie einzudrücken. Die ungeschriebenen Bücher in ihren gläsernen Unterbringungen forderten förmlich ihre Aufmerksamkeit und erschrocken blieb Anisa stehen. Der Gang wirkte dunkler als noch ein paar Augenblicke zuvor. Einige Flüssigkeiten blubberten vor sich hin, obwohl sich ihr der Sinn nicht erschloss. Keine andere Geschichte in der Bibliothek hatte sich ihres Wissens jemals so verhalten.
Sie hob die Hand und wollte an das Glas einer Phiole fassen, um das Buch genauer zu erkunden, aber ihre Ausgestreckte wurde plötzlich heruntergeschlagen.
Kratos funkelte sie wütend an, sagte jedoch nichts. Stattdessen machte er auf dem Absatz kehrt und marschierte den Gang hinunter. Sie brauchte ein paar Sekunden, um sich zu fangen, dann folgte sie ihm, ohne die Fläschchen weiter zu beachten. Im Augenwinkel nahm sie die Reihen voller dunkler Bücher in ihren verschiedenen Glasgefäßen wahr. Selbst die Regale waren hier ausnahmslos schwarz, stellte sie fest. Nichts erinnerte mehr an das bunte Wirrwarr der prachtvollen Bibliothek, die sie kannte.
Erschüttert folgte sie Kratos, der plötzlich vor einem schwarzblauen Torbogen mitten im Gang stehen blieb. Auf der anderen Seite führten die Regale weiter in die Ferne, wie es schien endlos.
„Niemals darfst du hier weitergehen", flüstere Kratos ehrfürchtig. „Sonst bist du verloren." Er holte seinen Zauberstab hervor, vollführte eine schnelle Abfolge von zuckenden Bewegung und der Bogen begann zaghaft zu leuchten. Rote, blaue und gelbe Zeichen schälten sich aus dem dunklen Hintergrund und wie aus dem Nichts war da eine Tür. Ihr Begleiter öffnete sie und ließ sie eintreten.
Vor ihr lag ein Raum, dessen Boden von einer bunten Blumenwiese bedeckt war. Das sprang ihr zuerst ins Auge, dann nahm sie die Wände und die Decke wahr, die aus dem Nachthimmel zu bestehen schienen. Sterne funkelten daran um die Wette. In der Mitte des runden Raumes stand ein seltsames Gebilde auf Holzfüßen. Rauch wirbelte in einem übergroßen Glasgefäß herum, als ob viele Kräfte gleichzeitig an ihm zehren würden. Es wirkte, wie wenn ein riesiger Bienenschwarm darin gefangen war und verzweifelt daraus entkommen wollte und so immer wieder die Grenzen des Behältnisses austestete.
Ohne Vorwarnung verharrte dieser Schwarm, als Kratos darauf zulief. Er hielt immer noch die Flüssigkeit in seinen Händen, die nun gar nicht mehr türkis war, sondern eher dunkelblau.
Eine Farbveränderung einer ungeschriebenen Geschichte hatte sie ebenfalls noch nie beobachten können. Dieser Tag wartete mit mehr und mehr Ungereimtheiten auf, die ihr gar nicht geheuer waren. Unsicher versuchte sie an Kratos vorbeizuschielen, jedoch gelang ihr das nur teilweise. Plötzlich wurde ihr Führer zur Seite gefegt und blieb verdattert, aber auch empört, stehen. Jetzt hatte sie einen besseren Blick, wobei umgekehrt konnte das Objekt sie ebenfalls besser betrachten. Zumindest fühlte sie sich, als ob jemand oder etwas sie sehr genau in Augenschein nahm. Eine Gänsehaut zog ihren gesamten Körper hinauf und am liebsten wäre sie weggelaufen. Aber wohin? Als sie sich panisch umsah, bemerkte sie, dass die Tür hinter ihr verschwunden war.
„Hab keine Angst", erklang da ein Summen. „Lustig", erwiderte Anisa ironisch. „Wie würdest du dich fühlen, wenn die Tür plötzlich mit dir redet? Oder einer der Sterne da oder die Blume?"
„Ich glaub, sie hat's verstanden", kommentierte Kratos genervt. „Was hat sie denn Lustiges gesagt?"
„Du hast sie nicht gehört?", fragte Anisa überrascht.
„Schnellmerker", seufzte der Nasik, schaute aber unsicher in die Richtung des Schwarms und wurde prompt im nächsten Moment gegen die Wand geschleudert.
„Tschuldigung", nuschelte er, als er sich wieder aufrappelte.
Anisa hatte die Szene ungläubig verfolgt und starrte nun zu dem Gebilde. Erstens man sollte Sie nicht verärgern, zweitens aus irgendeinem Grund war es ihr möglich, mit Ihr zu kommunizieren und Kratos nicht.
„Wir werden dich beobachten", verkündete die Stimme summend und Anisa wäre fast im Boden versunken vor Schreck. Als sie sich erholt hatte, wollte sie Fragen stellen. Aber zu ihrer Verwunderung passierte schon wieder etwas Unvorhersehbares: die Flüssigkeit, die Kratos in der Hand transportiert hatte, hing zu einer Kugel geformt vor dem Gebilde und begann sich genau so zu verhalten, wie Anisa das beim Eintreten bei dem rauchigen Schwarm beobachtet hatte. Als ob sie sich aus einem Gefängnis befreien wollte.
„Was macht das Buch denn da?", erkundigte sich Anisa.
„Das Viele nimmt Verbindung auf", erklärte Kratos lapidar.
In dem Moment zuckte ein Beben durch die Flüssigkeit und plötzlich bildete sich ein neues Gefäß drumherum. Vorher war es ein schmaler, länglicher Kolben gewesen, nun aber war er viel klobiger und hatte eine dunkelblaue Farbe.
Kratos nahm es vorsichtig an sich und meinte doch noch etwas ausführlicher: „Das kann sie nur hier an diesem Ort. Sie hat eine gewisse Macht außerhalb der Scheibe und kann Dinge bewirken, aber ihr Gefängnis verlassen, kann sie nicht."
Gleich darauf verbeugte er sich und schob sie dann Richtung Ausgang. Als die Tür sich hinter ihnen schloss, atmete ihr Begleiter spürbar auf und preschte voran. Entschlossen stürmte sie ihm hinterher und wollte wissen: „Was war das für ein Wesen?" Aber der Nasik antwortete einfach nicht und wurde erst langsamer, als sie die Grenze zum dunklen Bereich passiert hatten. Dann warf er ihr noch einen vernichtenden Blick zu und verschwand um die nächste Ecke. Als sie ihm folgen wollte, war er weit und breit nicht mehr zu sehen.
Das zumindest war nicht ungewöhnlich. In der Bibliothek gab es unheimlich viele Geheimwege und verborgene Passagen. Die älteren Lehrlinge machten sich ständig einen Spaß daraus, vor den Jüngeren einfach zu verschwinden. Einige andere Anwärter versuchten, die Wege aufzuspüren, jedoch bisher vergeblich. Sie selber beteiligte sich nicht an diesen Spielen, denn sie hatte wenig Hoffnung irgendwelche Geheimnisse aufzudecken, weil sie keine Zauberin war, wie alle anderen Bibliotheksangestellten. Mal abgesehen davon, dass es sie im Grunde gar nicht interessierte.
„Ha", erklang in dem Moment eine Stimme hinter ihr. „Jetzt hab ich es gesehen." Ein Junge ihres Freigabelevels und der damit einhergehenden blauen Schärpe um seine Bibliotheksrobe saß mit zusammengekniffen Augen in einem Sessel und sah an ihr vorbei an die Wand. Ein großes, aufgeschlagenes Buch lag über seinem Schoß, das er umständlich zur Seite fegte und dann zu ihr an das Regal trat. Ein Duft von vergilbten Buchseiten umhüllte ihn, was in jeder anderen Bibliothek wohl normal gewesen wäre, aber nicht hier, wo sie nur ungeschriebene Bücher duldeten.
Sie starrte auf das echte Buch und fragte entsetzt: „Wenn sie dich erwischen, fliegst du raus. Was hast du dir nur dabei gedacht?" Verwirrt blickte sie sich um, warum hatte es noch keinen Alarm gegeben? Der Junge – beim besten Willen fiel ihr sein Name nicht ein – schaute sie erwartungsvoll an. Auch die Flüssigkeiten in den Phiolen schienen nicht auf das Buch zu reagieren. „Warum passiert ihnen nichts?", erkundigte sie sich. Ihr Gegenüber kicherte. Er war, obwohl er ungefähr, wie sie 15 Jahre alt sein musste, ziemlich klein. Dafür ging er eher in die Breite und hatte ein spitzbübisches Gesicht, aus dem sie zwei gescheite Augen angrinsten. Seine rotbraunen Locken umrahmten seinen Kopf, wie einen Helm, die er, bevor er antwortete, schwungvoll nach hinten warf. „Mach dich locker. Ich hab die Erlaubnis", erklärte er brüsk. „Viel interessanter scheint mir das Verschwinden deines Mentors." Dabei deutete er wieder auf die Wand. Sie seufzte, denn sie würde ihm keine Hilfe sein und wahrscheinlich würde er ihr auch nicht erklären, was er beobachtet hatte. Niemand tat das je.
„Schau, siehst du das Blümchen mit dem Dreieck?", fragte er. Sie wusste nicht, ob sie überraschter war, weil diese Verzierungen wirklich überall angebracht waren und ihr noch nie besonders aufgefallen waren oder weil er überhaupt weitergeredet hatte und sein Wissen mit ihr teilte. Kein Lehrling innerhalb einer Freigabestufe tat das je, da nur wenige aufstiegen und man sich damit seine Chancen, auserwählt zu werden, verbaute. „Jedes Detail ist wichtig. Ich habe noch nie ein Ornament gesehen, das aussieht wie ein anderes. Dieses hier aber gibt es öfter. Deswegen hab ich mich hier auch auf die Lauer gelegt", erklärte er und zwinkerte ihr verschmitzt zu.
„Und weil es der einzige Raum mit Sessel ist", fügte er gut gelaunt hinzu. Misstrauisch beäugte sie ihn und verschränkte die Arme voreinander. Er erwiderte ihren Blick, jedoch richtete er seine Aufmerksamkeit schnell auf die Wand hinter ihr und sie folgte seinem Beispiel. Ruckartig fasste er nach der Verzierung und drückte erst auf die Blume, dann zweimal auf das Dreieck und schließlich machte er einen Kreis um die zwei Abbildungen. Eine Tür in der Wand neben dem Regal öffnete sich. Angespannt starrten sie auf die Dunkelheit dahinter. Nichts geschah, da schloss sich die Öffnung wieder und alles war, wie zuvor.
„Anisa", flüsterte der Junge und verkündete: „Jetzt schlägt unsere Stunde. Möchtest du es versuchen?"
Zaghaft nickte sie und fasste nun ihrerseits zuerst nach der Blume und dann zweimal nach dem Dreieck. Zuletzt vollführte sie eine Kreisbewegung. Im Grunde rechnete sie damit, dass nichts geschah, aber zu ihrem Entsetzten öffnete sich die Tür erneut und schon zog der andere sie hindurch. Als sie sich nach wenigen Augenblicken schloss, standen sie in der Dunkelheit. „Bist du verrückt geworden? Und wenn wir jetzt nicht mehr hier rauskommen?", fuhr sie ihn wütend an.
Ihre Stimme drang den unbekannten Gang hinunter und ihr leises Echo wurde vielmals zurückgeworfen. Erschrocken zuckte sie zusammen. Die Angst kroch ihr den Nacken hinauf, während sie, ohne einen Mucks von sich zu geben, in die Dunkelheit starrte. Plötzlich nahm sie einen schwachen Schein wahr, der sich ihnen langsam näherte. Zaghaft hüpfte er über die Wände und schließlich schälte sich eine mit Flügel schlagende Glühbirne aus der Schwärze des Ganges.
„Ich hatte nicht damit gerechnet, so bald auf so ein Wesen zu stoßen", flüsterte ihr Begleiter. „Was willst du damit sagen?", zischte sie. Der Enthusiasmus in seiner Stimme gefiel ihr überhaupt nicht. „Glühbirnchen sind Erfindungen der nichtmagischen Bibliothekare", erklärte er. „Ich dachte ich bin die einzige Nichtmagische hier", flüsterte sie erstaunt. Fachlich erwiderte er: „Es gibt immer mindestens einen Nichtmagischen in der Bibliothek. Glaub mir, du bist ganz sicher nicht die Einzige." „Aber wieso weißt du das alles? Woher wusstest du, dass der Gang hier war? Warum kannst du Bücher mitnehmen? Ich meine die echten? Und warum, beim großen Wustu, hast du mich hier her geschleppt?", sprudelte es endlich aus ihr heraus.
Dieses Mal kam die Antwort nicht gleich, schließlich meinte er: „Für eine Nichtmagische weißt du eigentlich nicht besonders viel, oder?" Sie schnappte nach Luft, aber das Glühbirnchen hatte sie erreicht und kurz darauf waren schnelle Schritte zu hören. Ein greller Schein kam rasch den Gang herunter und ein Mann stand plötzlich atemlos vor ihnen.
„Glühbirnchen", flüsterte er liebevoll. „Endlich bist du aufgewacht."
Das lustige etwa handgroße Wesen flatterte herum und setzte sich auf den ausgestreckten Arm des Neuankömmlings, der die zwei in Augenschein nahm.
„Anisa, Tobian, was macht ihr hier? Für euch ist es noch zu früh, hier herumzuspazieren. Erst in euerer nächsten Freigabestufe ist es euch erlaubt", bemerkte er streng.
„Also ich, keine Ahnung. Wir sind", stammelte Anisa und Tobian antwortete bedeutend selbstsicherer: „Die Tür stand offen und wir sind durchgeschlüpft. Hätten wir wissen sollen, dass wir das nicht dürfen?"
Der ihr völlig unbekannte Mann musterte sie prüfend, dann fasste er an ihnen vorbei und machte sich an der Wand zu schaffen. Zu ihrem Bedauern natürlich abgeschirmt durch seinen Umhang, so dass sie nichts sehen konnten. Die Tür öffnete sich erneut: „Kommt nicht wieder." Im nächsten Moment wurden sie von einem Windstoß hinausbefördert und die Tür schloss sich.
„Da passiert monatelang gar nichts und dann plötzlich überschlagen sich die Ungereimtheiten", seufzte Anisa auf der anderen Seite wieder in ihrer vertrauten Umgebung.
„Ach so", erwiderte Tobian erwartungsvoll. „Was ist denn noch passiert?"
Sie zögerte, es war nicht normal, sich untereinander auszutauschen. „Ja, ich weiß schon. Bloß niemandem vertrauen. Das Ganze geht mir gehörig gegen den Strich", ächzte ihre neue Bekanntschaft. Er lief zu dem Buch, das sich noch immer unachtsam auf dem Boden befand. Es war unglücklich aufgekommen und lag aufgeschlagen, mit den Seiten nach unten. Einige Blätter waren abgeknickt und Eselsohren lugten aus dem Buchdeckel hervor.
Beim Hochnehmen zuckte er erschrocken zurück, so als ob er einen Stromschlag bekommen hätte. Neugierig trat sie näher und fragte: „Das scheint mir auch nicht gerade ganz ohne Bibliotheksgeheimnisse von statten zu gehen?"
Tobian lächelte verschlagen und blickte ihr geradewegs in die Augen: „Ok. Wäre es in Ordnung, wenn wir unsere Geheimnisse teilen? Es stimmt, ich bin auch etwas auf der Spur, aber von dir hört man, dass du dich eigentlich aus allem raus hältst? Die Frage ist also, ob es sich lohnt, wenn dich das doch eigentlich nicht interessiert?"
„Wieso reden die anderen über mich?", fragte sie entsetzt. „Das geht doch niemanden etwas an."
Ungerührt wartete er auf ihre Antwort und betrachtete sie aufmerksam dabei, so dass sie sich immer unwohler fühlte. „Ok, du hast recht. Ich will nicht hier sein und bin da sicher die Einzige. Aber ein Rausschmiss kommt auch nicht in Frage, also kann ich mich nur besonders dumm anstellen, oder?", erklärte sie wütend.
In dem Moment zuckte er wieder zusammen. Das Buch hatte ihm erneut einen Schlag versetzt. „Es tut mir leid", flüsterte er nun liebevoll dem roteingebundenen Folianten zu. „Ich wollte dir nicht weh tun. Ich wusste ehrlich nicht, dass dich das stört. Wenn ich verspreche, dass das nicht mehr vorkommt, verzeihst du mir dann?" Mit großen Augen verfolgte Anisa die Szene und ihre Mundwinkel fingen schon an zu zucken, als Tobian sie flehentlich ansah, bitte nicht zu lachen. Dabei schüttelte er aufgeregt und warnend seinen Kopf. Anscheinend konnte das Buch nur Geräusche wahrnehmen. Sie riss sich also zusammen.
Vorsichtig legte der Junge das Werk auf einen kleinen Seitentisch, dabei fiel ihr auf, dass es das einzige Buch war, das keinerlei Beschriftung außen aufzuweisen hatte. Als Tobian sich wieder ihr zuwandte, verdrehte er theatralisch die Augen und flüsterte ein leises Danke.
„Nun, zu dir", meinte er zu Anisa. „Du weißt gar nicht, wie gern ich das höre. Allianzen werden immer früher oder später gebrochen, weil jeder in der Bibliothek bleiben möchte. Ich hätte es nicht über's Herz gebracht, jemanden zu verraten. Deshalb glaube ich, dass unser Bündnis tatsächlich Aussicht auf Erfolg hat. Du musst mir aber sagen, wenn du deine Meinung änderst." Kritisch beäugte er sie und streckte ihr die Hand entgegen. „Abgemacht?", erkundigte er sich. Sie zögerte, im Grunde war sie neugierig, was in der Bibliothek vor sich ging, hatte sich jedoch verboten glücklich zu sein an diesem fremden Ort.
Langsam hob sie ihre Hand und fasste nach seiner. In dem Moment strömten Gedanken und Bilder auf sie ein. Sie sah Tobians ersten Besuch in der Bibliothek, bei dem ihm der Foliant überreicht wurde. Darauf folgte ein Zusammenstoß mit seinem Bruder, der ihn an seinen Vater verriet, woraufhin schreckliche Streitereien losbrachen. Sein rotes, dickes Buch am Boden, das ihm seine Mysterien offenbarte, war die nächste Erinnerung. Ein Pudding, der klatschend vor ihm auf dem Teller landete, reihte sich ein in die Abfolge von Gedankenbildern. Die Symbole an den Wänden zogen vorbei und zum Schluss betrachtete sie ihr lachendes Gesicht, das mit einem anderen - ihr unbekannten – Nasikmädchen zusammensteckte.
Verblüfft riss sie ihre Hand zurück. „Du bist ein Gedankentauscher", kreischte sie schrill. „Nun, wenn das mal kein Geheimnis ist", erwiderte er seufzend. Geschockt ließ sie sich auf den Sessel plumpsen, ohne ihn aus den Augen zu lassen. „Was hast du für Gedanken im Austausch bekommen?", flüsterte sie gereizt. Tobian grinste und meinte: „Dein erster Besuch hier. Voller Unbehagen betrittst du die große Vorhalle. So düster war es gar nicht." Sie legte den Kopf schief und wartete auf weitere Erklärungen. „Dann seh ich dich alleine am Meer stehen. Du hast wohl keine Geschwister, die dich ärgern. Aber scheinst dir ziemlich sehnsüchtig, welche zu wünschen. Großer Fehler. Sei froh, wie es ist", meinte er leichthin.
„Wie kannst du es wagen, so persönliche Dinge abzurufen", zischte sie empört. Aber er fuhr unbeirrt fort: „Dann sah ich dieses Schwarmding, in dem Sternenraum mit Kratos über das wir unbedingt noch sprechen sollten. Wieso kannst du es hören und er nicht? Was macht es mit der ungeschriebenen Geschichte, die ihr dabei habt? Ist sie nun verloren? Wo stand sie? Meinst du, sie steht wieder an ihrem Platz?"
Anisa kicherte. „Leider ist es nicht so, dass mir irgendjemand diese Fragen beantwortet hätte. Aber ehrlich gesagt, sollten wir vielleicht nachsehen, ob der Platz wieder belegt ist", kommentierte sie. Tobian zwinkerte und fügte ernst hinzu: „Du hattest Kuchen zum Nachtisch und man hat dir den sehr viel netter serviert als mir."
Da lachte Anisa und zuckte selbstgefällig mit den Schultern.
„Außerdem hab ich dein Zuhause gesehen, wohin du zurückkehren möchtest. Warum eigentlich? Vermisst du deine Eltern? Warum sind sie in deinen Gedanken dann nicht aufgetaucht?", erkundigte er sich als nächstes. „Na ja", stammelte sie und wich seinem Blick aus. „Es sind nicht unbedingt die Menschen, die ich vermisse. Aber die Küste in Sendari ist wirklich ein Traum."
Aufmerksam betrachtete er sie und erklärte schließlich: „Zuletzt hab ich mich zusammen mit einem Nasikmädchen gesehen. Was kannst du mir über sie sagen? Wenn ich mich schon selbst sehe, dann wüsste ich schon gern, mit wem ich da bin. Die Situation war nämlich keine Erinnerung von mir."
„Die hab ich auch mit dir gesehen! Aber kennen tue ich sie auch nicht. Sie ist niemand aus der Bibliothek", erwiderte Anisa aufgeregt.
Verwirrt zog Tobian seine eine Augenbraue hoch. „Bist du sicher? Diese 6. Erinnerung ist ein tiefer Wunsch, den man hat. Normalerweise, sieht man da nichts Kryptisches."
„Wir können doch nicht den gleichen Wunsch haben?", rief sie aufgebracht. Kritisch betrachtete er sie. „Du bist verdammt außergewöhnlich, Anisa. Jeder andere würde mich einen Kopf kürzer machen, für die Frechheit ihre Gedanken zu lesen. Du aber wunderst dich über die Geheimnisse, die darin verborgen sind", erläuterte er.
In dem Moment erklang in der Ferne die Essensglocke. Beide sahen sich bedeutsam an und ihr neuer Freund meinte: „Lauf nur. Vorerst sollte uns niemand zusammen sehen. Aber wir treffen uns morgen nach dem Nachmittagstee wieder hier." Mühsam jedoch mit Bedacht hievte er sein schweres Buch hoch und schlurfte, weil sie keine Anstalten machte sich zu bewegen, dann aus dem Raum.
Sie sah sich noch einmal um und versuchte jedes Detail des Zimmers, in sich aufzusaugen. Der Tag hatte unspektakulär begonnen, aber die Bibliothek hatte sich von einem Ort des Grauens zu einem Ort der Mythen und Geheimnisse verwandelt, die sie bereit war, zu ergründen. Zudem war sie zum ersten Mal nicht alleine, sondern hatte einen seltsamen Verbündeten gefunden. Ein Gedankentauscher wäre jetzt nicht ihre erste Wahl gewesen, aber sie war nach den ganzen Jahren nicht wählerisch. Er konnte schließlich nichts für seine Gaben.
Voller Enthusiasmus machte sie sich auf den Weg zum Speisesaal.
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