44. Teil: Familienessen
Ich hörte Russell im Flur mit meinem Vater reden, während mein Körper wieder mal kein Erbarmen kannte und offenbar versuchte sämtliche meiner Innereien heraus zu würgen. Ich klammerte mich angestrengt an die Toilettenschüssel und obwohl mich der Geruch meines Erbrochenen anekelte, trieb der penetrante Lufterfrischer, der durch meinen Gestank offenbar aktiviert wurde und fast durchgehend Duft in den Raum spürte, mich an die Grenzen meiner Kräfte. Ich war mir sogar sicher, dass mein Würgen nur seinetwegen anhielt.
„Ach mein Junge." Mamas zarte Stimme wurde von meinem nächsten Würgen beinahe übertönt, ehe ich ihre schmalen Hände auf meinen Schultern spürte und wie sie mir sanft über den Rücken strich. „Lass alles raus", wisperte sie mir guter Dinge zu, während ich nur daran denken konnte, dass ich bereits alles rausgelassen hatte und nicht mehr mehr da war. Sagen konnte ich ihr das jedoch nicht.
Als das Würgen einen Moment stoppte, lehnte ich mich erschöpft weiter nach vorne und stützte meinen Kopf mit meinen Händen. Mama strich derweil weiterhin über meinen Rücken. Eine Hand fand meine Haare. Wie früher kraulte sie sanft hindurch und versetzte mich damit einen Augenblick zurück in meine Kindheit. Damals hatte sie mir auch immer durch die Haare gekrault, wenn ich krank war.
Erst jetzt bemerkte ich, dass die Toilettentür geschlossen war und Mum und mich alleine ins Innere sperrte. Das löste schlagartig ein beengtes, unwohles Gefühl aus.
Ich wollte Russell.
Mum konnte mir zwar als Kind die nötige Sicherheit vermitteln, aber mittlerweile hatte der Alpha diesen Part übernommen und machte ihn meiner Meinung nach um so vieles besser.
„Russell", krächzte ich mit rauer Stimme, bevor ein weiteres, inhaltsloses Würgen meinen Körper schüttelte.
„Der hübsche Mann, der mit dir hier ist?", fragte Mum kein bisschen überrascht, dass ich nach ihm fragte, und richtete sich gleich auf. Sie öffnete die Tür einen Spalt und rief Russells Namen, der sich anscheinend immer noch mit Dad unterhielt, weil er wohl nicht unfreundlich sein wollte.
Nur einen kurzen Moment später, spürte ich Russells großen Hände an meinen Schultern und seine Arme, die sich kurz darauf sicher um meinen Körper schlangen. Ihn in meinem Rücken zu spüren, so nah zu haben, erleichterte mich sehr und beruhigte meinen Körper ein wenig. Dennoch dauerte es noch eine gute Weile, bevor das sinnlose Würgen endlich ein Ende fand.
„Hier." Russell reichte mir ein Glas Wasser, das ich gleich gierig austrank. Ich sackte kraftlos gegen seinen Brust und schloss erschöpft die Augen. Jetzt wollte ich wirklich nur noch schlafen.
Der Alpha blieb noch ein paar Minuten mit mir am Boden sitzen, spendete mir Wärme und Sicherheit, bevor er mir langsam auf die Beine half, die Toilettenspülung bediente und mich stützte, während ich am Waschbecken noch einmal meinen Mund auswusch.
„So wollte ich meine Eltern nicht begrüßen", murmelte ich leise, drehte mich zu Russell und schmiegte mich an seine Brust.
„Sie nehmen es dir sicherlich nicht übel. Dein Vater hat mir gleich erzählt, wie wenig du früher Autofahrten vertragen hast." Der Alpha klang amüsiert und drückte mich sanft gegen sich, ehe er meinen Schopf küsste.
„Hat er auch erzählt, wie ich mich aus dem Beifahrerfenster übergeben habe und es hinten zum offenen Fenster wieder reingekommen ist und Olsen alles abbekommen hat?" Die Erinnerung an dieses ekelhafte Ereignis ließ auch mich schmunzeln. Der Alpha begann zu lachen, wodurch sein Brustkorb angenehm vibrierte.
„Ja, das hat er." „Das erzählt er jedem. Ich glaube, dass ist seine Lieblingsgeschichte aus unserer Kindheit."
Wir blieben noch länger in unserer Umarmung stehen. Von mir aus konnten wir auch für immer so bleiben, aber Russell ergriff irgendwann wieder das Wort.
„Bereit?"
„Nein", antwortete ich gleich und seufzte ergeben, als Russell sich trotzdem von mir löste.
„Ein Nein lasse ich nicht gelten", schmunzelte er, küsste meine Nasenspitze und öffnete dann die Badezimmertür.
Im Flur war niemand zu sehen, aber in der Küche konnte man deutlich jemanden hantieren hören.
„Denkst du, Mathis und Russell wollen ein Bier?" Das war eindeutig Dad.
„Dexter", schnaubte Mum daraufhin gleich und ich war mir hundert Prozent sicher, dass sie gleichzeitig den Kopf schüttelte und ihn böse ansah. „Unser Sohn hat sich gerade übergeben. Du kennst seinen empfindlichen Magen. Alkohol hilft da nicht weiter."
Dad schwieg für einen Moment. „Denkst du, Russell will ein Bier?"
Mum seufzte nur abermals leise.
„Ich mache Mathis eine Suppe. Denkst du, Russell möchte davon auch was? „
„Russell ist ein Alpha, Schatz. Der wird von ein wenig Suppe nicht satt", kam es amüsiert von meinem Vater, ehe man die Kühlschranktür und Flaschengeklimper hörte.
Die Vorfreude auf Mums Suppe gab mir plötzlich neue Kraft. Ihr Essen war einfach so lecker und ich musste eindeutig schon viel zu lange darauf verzichten. Gemeinsam mit Russell, der seinen Arm weiterhin schützend um mich gelegt hatte, traten wir in die offene Küche, die gleich den Blick auf das geräumige Wohnzimmer und durch eine Fensterfront auf den Garten freigab.
Die zahlreichen Fotos an den Wänden zogen gleich meine Aufmerksamkeit auf mich, aber das laute Quietschen, das plötzlich von Mum kam, ließ mich panisch zu ihr sehen. Auch Russell spannte sich an, während meine Mutter den Topf, den sie gerade mit Wasser füllte, mit einem unschönen Geräusch ins Waschbecken fallen ließ und mit eiligen Schritten die Kücheninsel umrundete und zu uns kam.
Dad stand weiterhin am offenen Kühlschrank und sah uns interessiert entgegen.
„Russell, möchten Sie ein Bier?", fragte er bevor Mum auch nur ein weiteres Quietschen heraus brachte. „Sehr gerne und dutzen Sie mich doch", lächelte der Alpha, was auch Dad grinsend nicken ließ.
„D-du", brachte Mum heraus, bevor sie mich in eine enge Umarmung zog. „Du bist schwanger", brachte sie tonlos heraus und drückte ihr Gesicht gegen meine Wange. Sie war nur wenige Zentimeter kleiner als ich, wodurch wir immer noch fast auf Augenhöhe miteinander waren.
Zur Antwort konnte ich nur nicken. Es war offensichtlich. Der große Pullover, den ich trug, verdeckte zwar viel, aber sicherlich nicht alles.
„Unser Sohn ist schwanger!", rief Mum begeistert aus, als sie sich wieder von mir gelöst hatte und sah mit strahlenden Augen zu Dad, während sie mich fest an meinen Schultern hielt.
„Ich sehe es", schmunzelte Dad und öffnete mit einem Zischen die erste Bierflasche. „Glückwunsch."
Ich erwiderte Dads Lächeln und wandte mich gleichzeitig aus Mums Griff. Auch wenn sie meine Mutter war und mich zur Welt gebracht hatte, wollte ich sie etwas auf Abstand halten. Die Angst, dass sie danach fragte, meinen Bauch berühren zu dürfen war zu stark als das ich es einfach hätte ignorieren können. Ich drückte mich fester an Russell, der meinen inneren Aufruf mit Leichtigkeit bemerkte und deswegen seine beiden Arme schützend um mich legte und damit eine Wand zwischen mir und meiner Mutter bildete.
„Ich habe vorhin etwas von Suppe gehört." Russell schenkte Mama sein schönstes Grinsen, welches sofort Wirkung zeigte. Sie nickte hektisch und eilte wieder zurück in die Küche, wo sie erneut den zurückgelassenen Topf zuwendete.
„Hier." Dad reichte Russell die Bierflasche, während wir uns an die Kücheninsel setzten. Der Wasserkocher blubberte im Hintergrund und ich war mir fast sicher, dass Dad mir einen Tee aufgesetzt hatte. Das hatte er früher immer gemacht.
Tatsächlich dauerte es nur einen weiteren Moment, bevor er mir lächelnd eine dampfende Tasse hinstellte.
„Danke", lächelte ich ehrlich erfreut und legte eine Hand um das warme Porzellan, während meine zweite unter der Tischplatte Russells Hand hielt.
„Wie war die Fahrt? Ich hoffe, ihr seid gut durchgekommen." Daraufhin verfielen Russell und mein Vater in ein Gespräch über die Herfahrt, welches schlussendlich bei Russells Auto und der Tiefgarage seiner Wohnung endete, bevor sie grundlos begannen über Boote zu sprechen.
Mum kümmerte sich unterdessen um die Suppe.
Ich war froh, dass sie uns so positiv empfangen hatten und dass sie auch Russell mit offenen Armen begrüßt hatten. Sie hätten auch völlig anders reagieren können, vor allem nachdem ich ungekündigt und ohne Begrüßung ins Haus gestürmt war und mich erst einmal übergeben musste. Das war nicht unbedingt das beste Hallo.
Dass Mum und Dad uns auch nicht gleich über unsere Beziehung und meine Schwangerschaft ausquetschten beruhigte mich ebenfalls ungemein. Im Laufe des heutigen Abends wird das Gespräch noch darauf fallen, das war unvermeidbar, aber so hatte ich zumindest noch ein wenig Zeit um mich zu akklimatisieren.
Ich drückte Russells Hand noch einmal, bevor ich langsam aufstand und mir die Bilder an den Wänden ansah. Der Alpha sah mir gewillt mir zu folgen hinterher, blieb jedoch sitzen und unterhielt sich weiter mit Dad. Dennoch spürte ich immer mal wieder seinen Blick kurz auf mir liegen.
Die Bilder an den Wänden waren größtenteils Kinderbilder von Olsen und mir. Hier und da war ein Bild mit uns allen vier zu sehen und ab und an stolperte man auch über die Hochzeitsfotos meiner Eltern, die stattgefunden hatte, bevor Olsen und ich zur Welt gekommen waren. Man konnte von Baby an deutlich erkennen, wer wer war. Olsen war schon als Neugeborenes deutlich größer und breiter als ich. Ich hatte kaum Babyspeck und war auch meine gesamte Kindheit über sehr dünn. Selbst heute konnte ich deutliche Parallelen zu meinem dreizehnjährigen Ich sehen.
Auf dem Bild vor mir saßen Olsen und ich im Garten. Wir trugen die selben hellblauen Badeshorts und hatten beide ein breites Grinsen auf den Lippen, während Dad uns einen alkoholfreien Cocktail zubereitet hatte. In extravaganten Gläsern befand sich irgendeine orange Flüssigkeit mit Ananasstücken und Sahne sowie einem pompösen Schirmchen oben drauf. Olsen und ich waren damals so stolz, das Dad uns das extra gemacht hatte. Wie wir dort auf der Hollywoodschaukel im Garten saßen, direkt nebeneinander, konnte man nicht nur deutlich den Unterschied zwischen Olsen und mir sehen, sondern auch, wie wenig ich mich die letzten Jahre weiterentwickelt hatte. Außer das ich an ein paar wenigen Stellen Körperbehaarung bekommen hatte und noch weiter gewachsen war, erinnerte mich mein Körper mit fast Ende dreißig immer noch an den dreizehnjährigen Körper, den ich vor mir auf dem Bild sah.
Ich schluckte angestrengt, riss meinen Blick davon weg und versuchte mich mit den anderen Bildern etwas abzulenken. Umso froher war ich auch, als Mum uns dann sagte, dass das Essen gleich fertig war.
Ich setzte mich zurück neben Russell und schmiegte mich so gut wie möglich an meine Seite. Mum hantierte noch mit dem Ofen und hatte offenbar noch ein Baguette zubereitet, während Dad uns schweigend beobachtete. Das fiel mir jedoch erst einen Moment später auf, sodass mir augenblicklich die Wangen heiß brannten. Ich konnte seinen Blick nicht genau deuten. Er war nicht abgeneigt, aber sehr freudig sah er irgendwie auch nicht aus. Als er dann den Mund öffnete, erwartete ich bereits das Schlimmste.
„Ich denke, dass es etwas zu spät ist, dass ist eher was fürs erste Date, aber ich möchte trotzdem, dass du weißt, Russell, dass wir zwei ein großes Problem bekommen, wenn du ihm weh tust." Dad warf Russell einen eindringlichen Blick zu, der den Alpha kein bisschen störte. Jedem hier war bewusst, dass Dad rein körperlich nichts gegen Russells ausrichten konnte, deswegen war seine Drohung auch ein wenig sehr leer. Aber ich wusste, dass Russell es sich dennoch zu Herzen nehmen wird.
„Das habe ich nicht vor", lächelte Russell. Ich lehnte immer noch gegen ihn und seufzte zufrieden, als er mich etwas fester an sich drückte und meinen Schopf küsste.
„Dexter, die beiden erwarten doch Kinder", tadelte Mum ihren Gefährten. Dad zog kurz seine Stirn kraus und sah Mum dabei zu wie sie den Suppentopf mittig auf den Tisch stellte.
„Das ändert doch nichts daran", kam es fast verwirrt zurück, ehe er für einen Moment zwischen uns hin und her schaute.
„Wir", begann ich etwas unsicher und setzte mich wieder normal auf den Stuhl. Russells Hand fand gleich wieder die meine. „Wir sind sogar gebunden", offenbarte ich fast schüchtern und zog meinen Pulloverkragen etwas nach unten, um Russells Biss freizugeben. Er war mittlerweile sehr gut abgeheilt und zierte mit fast filigranen Narben perfekt Russells Gebiss. Es war noch ein wenig geschwollen, aber meine Eltern waren weit genug weg, sodass das nicht wirklich auffiel. Sie sollten nicht unbedingt wissen, dass wir uns erst vor kurzem markiert hatten.
„Es hätte mich auch gewundert, wenn nicht. Ich würde mein ungeborenes Kind auch nicht einfach so ungeschützt herumlaufen lassen." Dad nickte verständnisvoll, während Mum plötzlich Tränen in den Augen hatte.
„S-seid ihr Ge-gefährten?", wimmerte sie und versuchte mit ihrem Ärmel ihre Tränen zu verhindern, indem sie über ihre geschlossenen Lider strich. Es waren eindeutig Freudentränen oder zumindest so etwas in die Richtung. Dennoch überraschte es mich irgendwie. Ich hätte eher gedacht, dass sie auf die Schwangerschaft sensibel reagieren würde.
Russell drückte meine Hand sanft, ehe er verneinte.
Dads Blick entging mir dabei nicht.
Sich als Nicht-Gefährten mit einem Biss aneinander zu binden war nicht ganz ohne und musste gut durchdacht sein, bevor man es wirklich tat. Immerhin bestand immer noch die Chance, dass man seinen wahren Gefährten irgendwann traf. Nachdem Megan jedoch gestorben war, betraf das Russell nicht. Und ich konnte mir mittlerweile niemand anderen mehr an meiner Seite vorstellen. Außerdem war ich schlichtweg zu alt, um meinen Gefährten noch zu treffen. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich dieser schon an jemand anderen gebunden hatte, war dabei auch sehr hoch. In dem Fall würden wir nicht einmal merken, dass wir wahre Gefährten waren, selbst, wenn wir direkt nebeneinander stünden.
„Es war die richtige Entscheidung." Ich lächelte Dad aufrichtig an, bevor mein Blick automatisch Russells fand, der mir liebevoll entgegen lächelte. Man konnte ihm seine Freude deutlich ansehen und ich konnte das Glück, das er gerade verspürte, auch in seinen schönen, grünen Augen sehen.
Meine Eltern waren still, ließen Russell und mir unseren Moment, bevor Mum begann jedem etwas Suppe in eine Schüssel zu füllen und das aufgeschnittene, noch warme Baguette in einem Brotkorb dazu stellte.
„Dexter, sagst du deiner Pokerrunde noch ab?", fragte Mum beiläufig, warf ihm jedoch einen Blick zu, der so viel sagte wie, denk gar nicht daran, heute das Haus zu verlassen.
„Schon geschehen. Ich habe Arthur vorhin schon eine Nachricht geschrieben." Daraufhin lächelte Mum zufrieden.
„Was haltet ihr davon, wenn wir morgen Brunchen? Ich rufe deinen Bruder auch noch an." Sie lächelte begeistert und voller Freude, sodass ich nicht nein sagen konnte und stattdessen nur zögerlich nickte. Eigentlich wollte ich Olsen nicht sehen, aber ich wusste von vornherein, dass es auf so etwas hinaus laufen würde, deswegen konnte ich auch nicht wirklich etwas dagegen sagen.
Nachdem eine Zeit lang nur das Klimpern von Besteck zu hören war, war es Mum die wieder ein Gespräch initiierte.
„Jetzt erzähl. Ich platze vor Neugier. Wie habt ihr euch kennen gelernt und was hat es mit diesem kugligen Babybauch auf sich?" Ihre Augen strahlten jegliches Mutterglück aus und ich wusste, dass sie sich bereits mit ihren Enkelkindern auf dem Arm sah, während sie diese Wörter aussprach.
„Nun ja. Russell ist mein Chef", gab ich kleinlaut zu, beantwortete damit schon mal die erste Frage und spürte, wie meine Wangen gleich wieder wärmer wurden. Hoffentlich nahmen sie nicht das gleiche an, wie viele andere auch, wie Quentin mir es an den Kopf geworfen hatte. Dass ich nur mit Russell geschlafen hatte, um eine bessere Position zu erhalten.
„Dein Chef?", fragte Dad. Seine plötzlich unterkühlte Stimme entging mir dabei nicht. Seine Augen fixierten gleich Russell, der zwar spürbar nervös wurde, aber nach außen hin eine kräftige Fassade bewahrte.
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