Kapitel 6
Am großen Platz angekommen, bin ich wie erwartet die Erste. Es sind noch etwa drei Stunden bis Mitternacht. Bis wir abgeholt werden.
Die anderen Mädchen verbringen sicherlich noch das bisschen Zeit glücklich bei ihren Familien. Doch ich habe nicht wirklich jemanden, von dem ich mich verabschieden musste. Das nähste, was einer Freundin kommt, ist wohl Alani, die jedoch nicht einmal meinen Namen zu kennen scheint. Aber so ist es besser. Zu lieben bedeutet zu leiden.
Die Empore, die uns als Schauplatz für die Auslese diente, ist bereits abgebaut. Der große Platzt wirkt nun noch größer als zuvor, aber auch so viel verlassener. Ich lasse mich neben einem Haus auf den Boden nieder und lehne mich mit dem Rücken gegen die kühle Wand.
In wenigen Stunden werde ich Brinton hinter mir lassen. Eine Reise durch mir unbekannte Städte machen, um von jetzt an im Palast in Myral zu leben, versuche ich mir selber begreiflich zu machen.
Noch nie bin ich sehr weit gereist. Außer Brinton kannte ich nur noch das kleine Dorf Rim, in dem ich aufgewachsen bin. Es gab nie einen Grund, diese Orte zu verlassen. Auch habe ich nie das Verlangen verspürt, Merah zu bereisen. Noch Zeit oder Geld.
Jetzt steht dieses große Abenteuer vor mir, das ich eigentlich gar nicht will. Ich mag es, wenn Dinge eine gewisse Routine haben. Wenn ich tue, was mir gesagt wird, ohne zu diskutiert oder zu hinterfragen. Auch, wenn ich am liebsten hier in meiner mir bekannten Routine bleiben würde, geht es einfach nicht.
Es ist jetzt einfach so und ich muss damit auskommen. Was würde es mir nützen, zu fragen, warum ich? Eine Antwort darauf wird meine Situation auch nicht ändern.
Nun sitze ich einfach nur da und starre in die anbrechende Dunkelheit. Mein Blick geht nach oben zum Nachthimmel. Doch aufgrund der Stadtbeleuchtung bleibt mir die Sicht, auf die Sterne verwehrt. Meine Sterne. Eine leichte Trauer macht sich in mir breit, die ich jedoch gekonnt beiseite schiebe.
Bereits zwei Stunden später treffen einige der anderen Mädchen ein. Sie versammeln sich in der Mitte des Platzes, an dem die Straßenlaternen sachte aufleuchten. Sie scheinen mich hier im Schatten nicht zu bemerken, weshalb ich auch nicht auf mich aufmerksam mache.
Noch mehr Fragerei und Euphorie kann ich im Moment nicht ertragen. Ich will einfach nur baldmöglichst in meine neue Routine und mein neues Leben beginnen.
***
Es sind nur noch einige Minuten bis Mitternacht und die Kutsche steht bereits auf dem Platz. Jedoch sind die Türen noch verschlossen. Es handelt sich um eine große Kutsche, die wohl genug Platz für über dreißig Personen bietet und die von vier schwarzen Pferde gezogen wird.
Die Mädchen haben sich freudig schon darum gestellt und erwarten mit großer Neugier die Reise. Ich befinde mich immer noch im Schatten des Hauses und betrachte das Treiben aus der Entfernung. Plötzlich ertönt in meiner Nähe ein lautes Schluchzen.
"Ich will nicht gehen. Warum kann ich nicht bei dir bleiben? Warum ich?" ertönt die traurige Stimme eines Mädchens. Eine sanfte Männerstimme versucht sie zu beruhigen, doch das Mädchen bricht in bittere Tränen aus.
Auf einmal gehen die Türen der Kutsche auf und die Mädchen drängen sich nacheinander in das Innere. Auch ich mache mich nun auf den Weg in ihre Richtung. Mein Blick fällt auf das weinende Mädchen, das tief verschlungen in den Armen eines Ramir liegt. Beruhigend streicht er ihr über den Rücken, während eine Träne, nach der anderen sich über ihr Gesicht bahnt.
Bevor ich in die Kutsche steige, sehe ich wie er ihr einen Kuss auf die Lippen drückt und sie in die Richtung der Kutsche drückt.
"Ich liebe dich" höre ich ihn rufen als sie sich auf den Weg macht.
Schnell setzte ich mich auf einen der hinteren freien Plätze und schließe für einen Augenblick meine Augen. Die Mädchen reden alle wild durcheinander in einer Lautstärke, dass es mir Kopfschmerzen bereitet. Inzwischen tritt auch das brünette Mädchen ein und ihr Seufzen vermischt sich mit dem Krach.
Auf einmal verstummen alle und nur das leise Schluchzen ist noch zu hören. Ich öffne meine Augen und erkenne den Grund für die plötzliche Stille.
Im Türrahmen steht nun ein älterer Mann, der der Kutscher zu sein scheint. "Ich lese nun eure Namen vor und ich erwarte ein kurzes 'hier', wenn ihr euren hört." Alle nicken, um dem Mann zu signalisieren, dass wir seine Aufforderung verstanden haben.
"Alisa" -- "hier"
"Sura" -- "hier"
"Rosalee." Es folgt keine Antwort und er fragt erneut, etwas lauter diesmal, "Rosalee?"
"Hier", ertönt das Winseln, des weinenden Mädchens, das sich neben mich gesetzt hatte.
"Levine", fährt der Mann unberührt weiter. -- "hier"
"Emmelin" -- "hier", gebe ich heiser von mir und schließe erneut meine Augen.
Eine Weile listet er einen nach dem anderen auf, bis er zum Ende der Liste ankommt. Alle sind anwesend. Mit einem lauten Knall schließt er die Türe und bereits wenige Sekunden später setzt sich die Kutsche in Bewegung.
Das konstante leichte Ruckeln und leise Murmeln der Mädchen lullt mich langsam ein. Meine Gedanken leeren sich und eine innige Ruhe überkommt mich. Langsam drifte ich in einen traumlosen Schlaf.
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