Kapitel 10
Das Waffenarsenal der Assassinen war riesig und erweckte den Eindruck, dass alle bedeutenden Meister der Schmiedekunst, die Ro'akell je hervorgebracht hatte, etwas dazu beigetragen hatten. Kunstvoll geschmiedete Schwerter in diversen Variationen, Dolche, Messer, teils in mehrfacher Ausführung, manche schlicht und manche so prunkvoll, dass sie nicht zum praktischen Nutzen gefertigt worden sein konnten.
Kari war in den letzten Tagen schon häufiger hier gewesen, aber nie war sie von der Auswahl, die sich ihr darbot, so erschlagen wie jetzt, wo es darum ging zu entscheiden, was sie mit sich nahm, um gegen die Heiler anzutreten. Sie hatte eine Reihe von Dolchen verschiedener Länge und Breite im Auge, die vor nicht allzu langer Zeit produziert und noch nie genutzt worden waren. Ihre Unauffälligkeit gefiel Kari und sie waren neu, genau wie sie. Zwar hatte sie nie zur Sentimentalität geneigt, aber hierbei hatte sie ein gutes Gefühl und ein solches in sich zu tragen, war schon ein nicht unbeträchtlicher Anteil dessen, was es zu einem Sieg bedurfte.
Die Dunkelheit brach langsam über Ataris hinein und in der Mitte der Naht würde ihre Stunde kommen. Wenn die Tavernen sich gelehrt hatten und die letzten Betrunkenen ihren Weg nach Hause suchten, würden die Assassinen sich auf den Weg begeben, durch dunkle Gassen streifen, immer auf der Hut vor Wachmännern, die sich ihnen in den Weg stellen konnten.
Sie trugen die Kleidung, die auch den Mitgliedern der Akademie zur Verfügung gestellt wurde. Diese war bequem und sollte man die Mörder im Auftrag der Krone doch erblicken, so konnte man sie auch für Schüler oder Mentoren halten. Sie hatten alles bis ins kleinstmögliche Detail geplant und in Gedanken durchexerziert. Kari sollte sich sicher fühlen.
Die anderen drei hatten die Waffenkammer schon längst wieder verlassen. Sie wussten, womit sie am besten agierten, was ihnen am besten in der Hand lag und was für die tödlichsten Treffer sorgte. Anvar vertraute ohnehin auf seine Gifte, die auch für den, der sie einsetzte, eine große Gefahr darstellten und auch die beiden anderen verzichteten nicht ganz darauf. Es waren Menschen ohne Furcht, wie es schien, die sie in ihren Kreis geholt hatten.
Nur eine weitere Prüfung, dachte Kari bei sich, als sie sich drei der Dolche nahm, die sie sich eben schon ausgeguckt hatte. Wenn sie bestand, hatte sie dem König wertvolle Dienste geleistet und das war schließlich alles, was sie sich jemals gewünscht hatte, was ihre Eltern sich je für sie gewünscht hatten. Es war nichts, wogegen sie sich in ihren kühnsten Träumen je gesträubt hätte. Das, wofür sie jahrelang geübt hatte, als wäre es ihre unumgängliche Bestimmung.
Die nächsten Stunden verstrichen langsam. Keiner der vier Assassinen war gelassen, sie alle standen unter Spannung und versuchten, diese durch Ablenkungen zu vertreiben. Als sie alle zusammen in ihrem Gemeinschaftsraum saßen – Daeso den Stadtplan studierend, Anvar die Klinge eines Messer wetzend, das er ohnehin nicht mitnehmen wollte, da er alles schon längst sorgfältig präpariert hatte und Kari selbst sich die Haare eng an den Kopf flechtend, damit sie sie gleich nicht behinderten – holte Itani Würfel hervor. Es waren vier Stück an der Zahl, hölzern und akkurat genug gearbeitet, dass man mit ihnen spielen konnte, ohne dass eine Seite einen Vorteil erlangte. Sie stand auf, legte die Kuben auf den großen Tisch.
„Lust auf eine Runde?", fragte sie.
„Und unser ganzes Glück im Spiel verschwenden, wo wir es gleich so dringend gebrauchen können?", erwiderte Anvar, der nicht einmal aufsah.
„Ich kenn dich lang genug, um zu wissen, dass du nicht an sowas glaubst."
Er sah auf und hob die Augenbrauen. „Nicht lange genug, um zu bemerken, dass ich dich aufziehe, wie mir scheint. Aber wenn es denn unbedingt sein muss..."
Er legte das Messer weg und stand auf. Daeso hielt seine Karte immer noch in der Hand, verfolgte allerdings das Geschehen und Kari nahm sich eine Spange, steckte ihre Haare fest und stand auf, um zum Tisch zu gehen. Ihre Frisur war fertig und danach blieb ihr ohnehin nichts zu tun, was als Ablenkung dienlich gewesen wäre. Ein Spiel, noch dazu eines, auf dessen Ausgang man so gut wie keinen Einfluss nehmen konnte, kam da sehr gelegen.
Sie würfelten reihum. Ziel war es, eine von den Mitspielern vorgegebene Kombination der Augenzahlen mit möglichst wenigen Zügen zu erreichen. Es war reines Glück und trotzdem freute man sich, wenn man eine gute Runde hinlegte, ärgerte sich darüber, dass die Anzahl der Augen eins weniger war, als man benötigt hätte, obwohl jedes andere Ergebnis den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit nach genauso falsch gewesen wäre und ärgerte sich, wenn jemand anderes besser war.
Es kam überraschend, als Daeso irgendwann ankündigte, dass es nun an der Zeit war zu gehen. Darauf folgten nicht mehr als einsilbige Zustimmungen, während sie sich alle erhoben, ihre Waffen anlegten, noch einen Schluck tranken, um die Trockenheit aus ihren Kehlen zu vertreiben und dann ihr Quartier verließen. Die Einheit der königlichen Assassinen, vier so verschiedene Personen, die Seite an Seite durch die verlassenen Korridore streiften, das Geräusch ihrer Schritte in ungleichem Takt nachhallend.
Draußen erwartete sie die Nacht, schwarz und schützend. Die letzte Wärme des Tages hatte sich längst verflüchtigt und eine Gänsehaut breitete sich auf Karis Armen aus, während sie über die Schlossgründe eilte, nicht mehr als ein Schatten in der Dunkelheit, dem Pfad folgend, der ihnen vorbestimmt und frei von Wachen war. Eine Sicherheitslücke, wie ihr heute nach einer ganzen Woche zum ersten Mal bewusstwurde. Aber wenn es denn sogar im Hause des Königs eine gab, würden die Heiler auch eine solche haben und das gab ihr Zuversicht.
Bald schon hatten sie das Palastgelände hinter sich gelassen und befanden sich auf den Straßen der Stadt. Die Häuser der Reichsten ragten links und rechts der Hauptstraße auf, welcher sie folgten. Die Wachtposten, die hier, so nahe des Regierungssitzes, vom König selbst gestellt wurden, beachteten sie nicht weiter, als sie die Aufmachung erkannten. Hier wurde nur jenen die wirkliche Skepsis entgegengebracht, die minderwertig bekleidet waren, versuchten sich unbemerkt ihre Wege durch den innersten Ring zu suchen und nicht so aufführten, als gehörten sie in diese Gegend.
Kari hoffte, sie würden nicht das Haus ihrer Eltern passieren. Es war ein unwahrscheinliches Szenario, dass diese noch wach waren und just in dem Moment einen Blick auf die Straße warfen, in dem die Assassinen vorbeigingen, aber nichtsdestotrotz bereitete ihr der Gedanke Unbehagen, welches sich mit dem mischte, das der Ausführung des Auftrags zuteilwurde.
Je näher sie ihrem Ziel kamen, desto dunkler wurde die Stadt, desto enger wurden die Straßen, wurden zu Gassen. Sie verließen die Hauptstraße, gingen nun kreuz und quer anstatt nur einer geraden Linie folgend. Anvar ging voraus, Itani bildete die Nachhut. Sie beeilten sich nun mehr, liefen in einem strammen Schritt, denn hier war niemand, der es hätte verdächtig finden können. Noch nicht, denn in dieser Geschwindigkeit dauerte es nicht lange, bis wieder Wachen auf sie lauerten.
Die Bewegung hatte die Kälte mittlerweile aus Karis Knochen vertrieben, ihre Muskeln wurden langsam warm, machten sich bereit für den kommenden Kampf. Die Gänsehaut war jedoch nicht verschwunden. Sie verblieb aus einem ganz anderen Grund.
Sie hielten in der Gasse, die ihr Treffpunkt gewesen war, als sie die Heiler ausspioniert hatten. Man konnte kaum die Hand vor Augen sehen, aber es war sicher derselbe Ort.
„Wir müssen über die Dächer", flüsterte Anvar und trotz des leisen Tons, den er angeschlagen hatte, durchschnitt seine Stimme die Stille wie eine scharfe Klinge. Beängstigend, dass es selbst für die Hauptstadt die Zeit gab, in der sie zur Ruhe kam. Die Worte, die er nun sagte, hatten sie alle schon mehrfach gehört, aber er wiederholte sie dennoch, als wären die Informationen etwas völlig Neues. Und zum Teil fühlte es sich auch so an, als würde Kari zum ersten Mal in die Vorgehensweise des Plans eingeführt werden.
Sie verinnerlichte ein letztes Mal, was sie gerade gehört hatte. Dann endete Anvars letzte Ansprache mit den Worten: „Lasst uns loslegen." Die vier wünschten sich kein Glück, das zu tun war nicht nötig. Sie mussten sich auf ihre Fähigkeiten und aufeinander verlassen, zumindest war zu hoffen, dass das ausreichte, um als Sieger aus dem so gewöhnlich wirkenden Stadthaus wieder hervorzutreten.
Doch zunächst mussten sie hineingelangen. Der erste Schritt war es, auf die Dächer der Häuserreihe zu kommen. Die Dunkelheit war ihnen bei dieser Angelegenheit Freund und Feind zugleich. Die Hauswand bot zwar genügend Stellen, um an ihr nach oben zu klettern, aber die Trittsteine waren so gut wie unsichtbar. Sie hätten sich die Augen verbinden können, es hätte keinen Unterschied gemacht.
Wie in Trance bewegte Kari sich nach oben, tastete sich vor, folgte den anderen. Ihre Finger waren so angespannt wie nie zuvor, krallten sich am Sandstein fest, schmerzten, aber sie ignorierte es. Sie war es gewöhnt, Schmerzen zu ertragen und die Zähne zusammenzubeißen. Das hier war nichts im Gegensatz zu dem, was sie noch erwartete. Mit diesen Gedanken folgte sie den anderen, die diese erste Herausforderung weitaus souveräner gemeistert hatten. Dennoch dauerte es nicht zu lange, bis sie sich Seite an Seite mit ihnen auf einem der Flachdächer wiederfand, den Blicken derjenigen ausgeliefert, die nach oben sahen.
Es wehte ein ungewöhnlich frischer Wind, wie man ihn zu dieser Jahreszeit selten in Ataris spürte, aber auch dieser konnte nichts daran ändern, dass sich die Temperatur für Kari nun so anfühlte, als sei es mitten am Tag. Das Blut pumpte durch ihren Körper, erhitzte ihre Haut, ihre Muskeln arbeiteten weiter, waren jetzt endgültig bereit alles auszuführen, was sie von ihnen verlangte und das war jetzt auch nötig.
Wie Geister bewegten sich die Assassinen über der Stadt. Es war ein Risiko, diesen Weg zu nehmen, denn es patrouillierten genug privat angeheuerte Wachmänner durch die Straßen um sie herum. Sie verließen sich darauf, dass diese sich nicht die Mühe machten, auch die Dächer zu sichten und nur stupide die ihnen von ihren Arbeitgebern vorgeschriebenen Wege abliefen, stur das im Blick habend, was direkt vor ihnen lag.
Mit kaum hörbaren Schritten eilten die Assassinen voran, schwarz vor dem Nachthimmel, an dem die Sterne lediglich helle Flecken ohne Sinn waren, denn Licht spendeten sie kaum. Es war kein Zufall, dass es eine Neumondnacht war, die die Meuchelmörder sich erwählt hatten. Es war die beste Bedingung, die sich ihnen bot.
Kari zählte die Häuser, die sie überquerten. Als sie jedoch das Nachbarhaus der Heiler erreichten, war die Zahl, die die ganze Zeit so präsent vor ihr gewesen war, verschwunden. Was kümmerte es sie auch? Jetzt ging es darum, in das Gebäude, das vor ihnen lag einzudringen. Es war das einzige in der Nähe, aus dem man das Gemurmel von Menschen vernehmen konnte und aus einem der Fenster leuchtete ein schwacher Schein.
Sie sagte nichts. Die Anweisungen waren eben gefallen. Jedes unnötige Geräusch musste vermieden werden. Sie traten auf das Dach wie sie jedes andere davor auch betreten hatten. Für Kari fühlte es sich jedoch anders an. Es bedeutete, dass die vorletzte Hürde vor dem lauernden Kampf überwunden war. Jetzt ging es nur noch darum, einzudringen und die Heiler unvorbereitet zu treffen.
Anvar zögerte den entscheidenden Moment nicht länger heraus. Sobald sie alle versammelt standen, öffnete er die Luke, die ins Innere führte und kletterte über die Leiter ins Innere. Gerade als Kari den anderen als Letzte folgte, tauchte ein Mann auf.
Er konnte keinen Ton mehr von sich geben und seine Gefährten warnen, denn ihm wurde von Anvar eine dünne in Gift getauchte Nadel in den Hals gerammt, bevor er sich weiter rühren konnte. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis er zusammenbrach. Eine Minute oder weniger noch und er war tot. Ein Gegenmittel gab es nicht.
Kari schenkte ihm keinen zweiten Blick, als sie eilig an seinem leblosen Körper vorbeiging, der Gruppe folgend und einen ihrer Dolche ziehend. Mit verschwitzten Handinnenflächen umklammerte sie den Griff. Entspannte und versteifte ihre Fingermuskeln im Wechsel und hoffte, dass sie nicht zu krampfen begannen.
Für weitere Überlegungen blieb allerdings keine Zeit, denn gerade als sie sich auf die Treppen und weitere Räume im Obergeschoss zubewegten, tauchten die Insassen des Hauses auf und sie waren in der Überzahl. Sie traten aus den Räumen, strömten die Treppe hoch und ein Knarzen der Leiter hinter ihr ließ Kari herumfahren und erkennen, dass einer es auch irgendwie aufs Dach geschafft hatte und ihren einzigen Fluchtweg blockierte. Wie auch immer es möglich war, man hatte ihre Ankunft kommen sehen.
Die anfängliche Erleichterung hatte sich verflüchtigt, ihr Puls raste, ihr Körper machte sich automatisch bereit zu kämpfen. Die eigentlichen Jäger waren eingekesselt. Aber sie setzten sich zur Wehr. Kari wartete nicht ab, bis einer der Heiler reagierte. Sie wählte den aus, der ihnen vom Dach gefolgt war, bewegte sich auf ihn zu, während er still verharrte, sie eher interessiert beobachtete, anstatt sich für einen eigenen Angriff oder gar Verteidigung bereitzumachen. Es hätte sie zögern lassen sollen, aber das wäre ein fataler Fehler.
Als sie nah genug war, holte sie aus, versuchte ihn mit ihrem Dolch zu erwischen und streifte seinen Oberarm, als er ihr mit einer knappen Bewegung auswich und eine unsichtbare Kraft sie plötzlich gegen die nächstgelegene Wand presste und dort gefangen hielt.
Sie war unfähig sich zu bewegen, das Heben und Senken ihres Brustkorbs war gerade so möglich. Ein hämisches Grinsen war auf das Gesicht des Mannes getreten, der dafür verantwortlich zu sein schien. Kari hatte mit Vielem gerechnet, aber diese schiere, unbändige Macht hatte sie überrascht.
Sie wagte einen Blick hinüber zu ihren Gefährten, die alle drei noch kämpften und es entweder mit weniger versierten Gegnern zu tun oder aber einfach mehr Talent oder Glück hatten.
Das war also ihr Ende, das kam, bevor der Kampf überhaupt richtig begonnen hatte. Wie lächerlich das doch war. Wie hatte sie jemals denken können, einem Leben als Assassinin gewachsen zu sein, mit der Furcht, die sie verspürte, wenn sie ans Töten dachte und der offensichtlichen Ungeübtheit im ernsten Kampf, der außerhalb von Übungsraumen stattfand.
Wer die die Fähigkeit besaß, einen mit Nichts festzuhalten, der konnte dieses Nichts auch nutzen, um Genicke zu brechen. Wieso tat er es nicht einfach?
Doch bevor Kari dies weiter infrage stellen konnte, schritt eine Frau durch die Kämpfenden und jene, die schon verwundet oder tot am Boden lagen, durch den immer noch dunklen und engen Flur. Sie vollbrachte dies, ohne ins Gefecht verwickelt zu werden, kam geradewegs auf die von einer unfassbaren Macht Gefesselten zu, bis sie direkt vor ihr stand. Es war das Gesicht der Alten, in das Kari blickte.
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