Kapitel 1
Vier Monate zuvor
Ihr Gegner war ein ganzes Stück größer und weitaus stärker als sie und dennoch war Kari nicht gewillt aufzugeben. Vielmehr fühlte sie sich durch diese Ungleichheit dazu angestachelt ihr Bestes zu geben, anzugreifen und zu kämpfen, wie sie es noch nie getan hatte.
Sie war die Erste, die ihre Verteidigungshaltung durchbrach und versuchte, mit einem gezielten Tritt den Oberkörper ihres Gegenübers zu treffen. Dieser war jedoch bestens darauf vorbereitet und wich ihr so aus, dass er direkt seinen Konterangriff starten konnte. Sein Fausthieb traf ihre Schulter und ließ einen stechenden Schmerz durch ihren linken Arm jagen.
Das reichte allerdings noch nicht, um Kari aus der Fassung zu bringen oder gar in die Knie zu zwingen. Der Schmerz ebbte schnell genug ab, vertrieben durch die Welle an Kraft, die jetzt bis in die letzte Faser ihres Körpers ausgesandt wurde und sie dazu verleiten konnte, Höchstleistungen zu vollbringen. Sie musste nur schnell genug reagieren.
Es folgte eine Abfolge von Schlägen und Tritten der beiden Kontrahenten und es gelang nun auch Kari, einige Treffer zu landen. Ins Straucheln geriet ihr Gegner dennoch nicht, aber sie behauptete sich gut und außerdem verfügte sie über eine zähe Kondition. Der Kampf konnte noch länger so weitergehen, ohne dass sie ernsthaft an Effektivität einbüßen würde.
Der Kampf beanspruchte ihre ganze Konzentration. Alles, was um sie herum geschah, blendete sie vollkommen aus. Nur der Gegner lag in ihrem Fokus. Ein ernst dreinblickender Mann, der sie mit derselben Aufmerksamkeit musterte, die auch sie ihm entgegenbrachte.
Je mehr Zeit verstrich, je mehr Schmerzen sie sich gegenseitig zufügten und herunterkämpften, desto erbitterter ging es zu. Immer deutlicher wurde Kari bewusst, dass dies ihre bisher größte Herausforderung war und mit Erschrecken musste sie feststellen, dass sie schon an Geringerem gescheitert war. Gedanken wie diese wirkten wie Gift, zehrten an ihrem Konzentrationsvermögen und an der Stärke ihrer Hiebe und der Präzision ihres Ausweichens und Parierens.
Und irgendwann war der Punkt gekommen, an dem ebenjene Gedanken die Überhand gewannen. Ein Tritt ihres Gegners traf sie an ihren linken Rippenbögen, was ihr für einige Augenblicke die Luft aus der Lunge und die Tränen in die Augen trieb. Sie wich instinktiv einige taumelnde Schritte zurück, um sich wieder zu sammeln, aber ihr Gegner war schnell und gönnte ihr nicht eine Sekunde Pause.
Es gelang ihr, seinen nächsten Schlag mit den Unterarmen zu parieren, aber jetzt fand sie sich in einer defensiven Position wieder, mit geringen Möglichkeiten, um einen erfolgreichen Angriff auf ihn zu starten und sich wieder ins Spiel zu bringen.
Im Folgenden holte er mit seiner linken aus und da sie ihre Verteidigung auf der rechten Seite vernachlässigt hatte, traf dieser Schlag sie mit voller Wucht auf der Wange. Sie schmeckte Blut in ihrem Mund, erfühlte zerfetztes Zahnfleisch mit ihrer Zunge. Immerhin schienen alle ihre Zähne noch fest genug zu sitzen, um ihr nicht auszufallen. Zudem würde es einen sichtbaren Bluterguss geben. Nicht, dass es irgendeinen der hier Anwesenden gekümmert hätte.
Karis Niederlage wurde nur wenige Augenblicke später besiegelt, als es ihrem Gegner gelang, sie am Handgelenk zu packen. Viel zu perplex, gelang es ihr nicht, schnell genug zu reagieren und als sie bereit war sich zu wehren, hätte alles Winden nichts genützt, sie wäre nicht mehr freigekommen. Mit einer gekonnten Bewegung drehte ihr Kontrahent ihr den linken Arm auf den Rücken, bekam auch noch den rechten zu fassen und zwang sie mit gefühlt all seiner Kraft in die Knie.
Diese wären vielleicht sogar zertrümmert worden, läge nicht eine Matte auf dem Steinfußboden des Übungssaales, die die schlimmsten Stürze abbremste, denn verletzte oder gar verkrüppelte Kämpfer konnte niemand gebrauchen.
»Genug«, ertönte schließlich die einschneidende Stimme einer der vier Prüfer und verkündete somit offiziell, dass Kari ihren letzten Kampf in der Akademie nicht gewonnen hatte.
Ihr Gegner ließ sie wieder los und hielt ihr die Hand hin, um ihr wieder auf die Beine zu helfen. Jetzt war er nicht mehr ihr Feind, sondern ein Kamerad im Dienste der Krone. Sie kannte ihn nicht, aber das spielte keine Rolle. Alle in der Königlichen Akademie hielten zusammen, denn sie alle vertraten ihr Land, so unterschiedliche Persönlichkeiten und Vorstellungen sie auch haben mochten. Dankend nahm Kari das Angebot an, froh die schmerzenden Glieder strecken zu können.
»Schülerin Kari, du bist entlassen«, verkündete der worthabende Prüfer. Er würde sich nun mit seinen Kollegen zurückziehen und den kämpferischen Teil ihrer Abschlussprüfungen beurteilen.
Mit vor Entkräftung zitternden Beinen und Schmerzen an jeder erdenklichen Stelle des Körpers, ganz gleich, welche Haltung sie auch einnahm, machte Kari sich auf den Weg nach oben. Wegen der heißen Sommer und der immer noch sehr warmen Winter, die in Ro'akell herrschten, lag der Übungsraum in einem Kellergewölbe, das die Hitze aussperrte und es ermöglichte, das ganze Jahr über Übungskämpfe abzuhalten.
Sie wählte die Treppe, die in den Innenhof der Akademie führte. Die trockene, heiße Luft des Hochsommers schlug ihr entgegen, als sie die Tür öffnete und in den Hof trat, der aufgrund seiner Ausrichtung und der Höhe der Gebäudekomplexe, die ihn umgaben, fast den ganzen Tag über im Schatten lag. Von dort aus suchte sie sich den schnellsten Weg zu den Waschräumen, die sich am anderen Ende des Geländes befanden, auf dem es neben dem Akademiegebäude selbst auch noch ein Wohnhaus für Mentoren und Schüler zugleich gab.
Kari durchquerte den Hof mit eiligen Schritten, ließ auch das Akademiehaus schnell hinter sich und lief über den verdorrten Rasen hinweg zu den Waschräumen. Sie wählten den Eingang auf der linken Seite, der in das Bad der Frauen führte. In einem Vorraum ließ sie ihre verschwitzten Kleidungsstücke zurück und wickelte sich in ein Handtuch ein.
Gerade war früher Nachmittag und da sich alle Schüler bis auf die Prüflinge im Unterricht befanden, hatte Kari das Bad ganz für sich alleine. Der große Raum lag im Halbdunkeln und wurde nur von Licht erhellt, das durch ein großes rundes Loch in der Decke fiel. Um den Lichtschein herum waren Badewannen in den Boden eingelassen, die durch einen stetigen Wasserfluss sauber gehalten wurden. Dreckiges Wasser floss einfach unter die Erde ab in die Kanalisation.
Kari wählte die Wanne, die am weitesten vom Eingang entfernt war, ließ ihr Handtuch fallen und stieg in das kühle Wasser, welches eine wahre Wohltat für ihren erhitzten Körper und alle wunden Stellen darbot.
Erst jetzt begann sie, die Schmerzen richtig zu spüren. Vorsichtig tastete sie ihre Rippen ab und musste vor Schmerz aufstöhnen. Es war nichts gebrochen, dessen war sie sich ziemlich sicher, aber geprellt war die Stelle bestimmt und sie würde noch die nächsten Wochen damit zu kämpfen haben.
Ihre Wange jedoch war nicht so stark angeschwollen, wie sie zunächst vermutet hatte und es reichte ihr, sich einmal den Mund auszuspülen, um den Geschmack von Eisen von ihrer Zunge zu vertreiben.
Alles in allem war Kari ziemlich lädiert, doch das Meiste würde schnell wieder vergehen und da dies die letzte Prüfung gewesen war, hatte sie danach bestimmt noch einige Wochen Zeit, um sich wieder zu erholen. Wenn sie denn die Prüfungen bestand und die Krone eine Verwendung für sie fand.
Die Königliche Akademie bildete ihre Schüler für die höchsten Staatsaufgaben aus. Ihre Absolventen wurden Berater des Königs, Diplomaten oder nahmen hohe militärische Ränge ein. Wer die Akademie besuchte, strebte eine steile Karriere an, die bestenfalls im Kreis der engsten Vertrauten des Königs endete. Kari wusste nicht, welche dieser Aufgaben ihr am ehesten zuteilwerden würde, aber das lag im Ermessen ihrer Prüfer, die noch am heutigen Abend ihr Urteil verkünden würden.
Kari hatte die letzten acht Jahre hart auf den heutigen Tag und die Prüfungstage davor hingearbeitet. Sie hatte mehr Ehrgeiz gezeigt als alle in ihrer Familie zusammen je aufgebracht hatten, hatte bis spät in die Nacht gelernt und die physischen Fertigkeiten geübt, bis ihre Muskeln schmerzten und vor den Anforderungen ihres Geistes kapitulierten. Und all das tat sie für ihre Eltern.
Sie war zehn Jahre alt gewesen, als ihr Vater sich dazu hatte hinreißen lassen, ein zwielichtiges Geschäft mit einem Händler aus Übersee abzuschließen. Diesen Menschen war grundsätzlich nicht zu trauen, aber ihr Vater war geblendet gewesen von den Versprechungen von Geld und wenn das Geschäft nicht geplatzt wäre, hätte er großes Ansehen dafür geerntet. Doch der Händler machte sein Geschäft nicht nur mit Edelsteinen, sondern auch mit Menschen und als das aufgedeckt wurde, bevor er den Kontinent wieder verlassen hatte, wurde auch ihr Vater zur Rechenschaft gezogen. Zwar blieb ein Großteil des Familienvermögens erhalten, aber das Ansehen ihrer Familie war nachhaltig geschädigt.
Ein Jahr später wurde Kari von ihren Eltern auf die Akademie geschickt, um den Ruf ihrer Familie wieder reinzuwaschen. Anfangs hatte sie sich nur aus Gefälligkeit gegenüber ihren Eltern angestrengt, aber vor allem in den letzten drei Jahren hatte sie der Ehrgeiz noch stärker gepackt und sie wollte selbst in die höchsten Ränge aufsteigen.
Allerdings war Kari weder besonders begabt, was Sprachen anging, noch war sie eine talentierte Kämpferin. Sie musste sich alles Schritt für Schritt erarbeiten, bestand die Zwischenprüfungen mit gutem Ergebnis und doch steckte bei ihr viel mehr Schweiß und Herzblut dahinter als bei ihren Mitschülern, die sie aufgrund ihrer Verbissenheit häufig mieden. Sie hätte auch gar nicht die Zeit gehabt, um innige Freundschaften zu pflegen.
Kari hatte es verdient, einen guten Posten zugewiesen zu bekommen und selbst, wenn sie klein anfing, so konnte sie sich hocharbeiten. Das war eines ihrer Talente und sie war sich sicher, dass sie es allen beweisen würde.
Lächelnd saß sie in der Badewanne und malte sich ihre fantastische Zukunft jenseits der Akademie aus, die für so lange Zeit mehr ein Zuhause gewesen war als ihr Elternhaus, in welches sie nur zum Schlafen einkehrte und selbst dafür war sie in letzter Zeit immer seltener zurückgekehrt. Wenn sie einen der begehrten Posten bekam, würde sie nie wieder dorthin zurückkehren müssen, wo nur Verbitterung herrschte.
Die Seife, die Kari benutzte, duftete nach Lavendel, welcher im Norden des Landes wuchs, und bald hatte sie sich gänzlich vom Schweiß befreit. Da sie noch keine Lust empfand, wieder zu gehen, blieb sie einfach noch ein wenig ungestört im Wasser sitzen, tauchte so tief darin ein wie sie nur konnte und lehnte sich so gegen die Rückwand der Badewanne, dass sie im Halbsitzen vor sich hindösen konnte.
Zu spät bemerkte sie, dass sie nicht allein war. Sie nahm die Schritte wahr, als die Person gerade den Vorraum verließ, kümmerte sich aber zunächst nicht darum, denn schließlich war das ein Gemeinschaftswaschraum, den sie sich mit allen anderen Schülerinnen teilen musste.
Hätte sich nicht aus einem Reflex der Neugier heraus nachgesehen, wer zu dieser unüblichen Zeit außer ihr ein Bad nehmen wollte, hätte sie nicht gesehen, dass es sich bei dem Neuankömmling um einen Mann handelte. Zunächst konnte sie ihn nicht genau erkennen, dann trat er in das gleißende Sonnenlicht, das durch das Deckenloch fiel. Er war vielleicht Ende zwanzig, groß, dunkelhaarig und braungebrannt wie fast alle Bürger Ro'akells und, was viel wichtiger war, sie hatte ihn noch nie in ihrem Leben gesehen.
»Das hier ist der Waschraum der Frauen«, teilte Kari dem Fremden mit, aber schnell wurde klar, dass er sich nicht im Raum geirrt hatte. Er musterte sie nämlich eindringlich.
»Verschwindet!«, sagte Kari lauter und ihre Stimme hallte von den Wänden wider.
Der Mann ließ sich davon nicht beeindrucken, blieb im Strahl des Lichtes stehen und zog in aller Seelenruhe einen Dolch, den er in einer Scheide am Gürtel trug.
Kari reagierte blitzschnell. Sie sprang auf und nahm sich das Erste, was ihr als mögliche Waffe ins Auge fiel. So stand sie mit den Beinen immer noch bis zu den Knien im Wasser und splitterfasernackt einem Fremden gegenüber, der sie mit einem Dolch bedrohte, während sie lediglich mit einer Flasche voll Duftöl bewaffnet war.
»Verschwindet aus diesem Raum, wer auch immer Ihr seid«, drohte Kari mit ihrer tiefsten Stimme. War dies vielleicht ein weiterer Test der Akademie, um sie auf die Probe zu stellen?
Sie glaubte für einen kurzen Moment, ein Lächeln auf dem Gesicht des Fremden zu sehen, ein leichtes, verschmitztes Nachobenziehen der Mundwinkel. Aber sie hatte sich wahrscheinlich getäuscht.
Nichtsdestotrotz schien sich der Fremde nun doch entschlossen zu haben zu gehen, denn er wandte sich ohne ein Wort gesagt zu haben von Kari ab und ging schnellen Schrittes auf den Ausgang zu. Aus einem spontanen Gefühl heraus warf sie die Flasche mit dem Öl nach ihm, die ihn gerade noch am Unterschenkel streifte und dann am Boden zerbrach. Er störte sich daran allerdings nicht weiter und verließ unbeirrt den Waschraum.
Kari wusste nicht, was das zu bedeuten hatte. Unschlüssig, was sie jetzt tun sollte, entschied sie sich für die banalste Lösung, stieg ganz aus der Wanne heraus und wickelte sich in ihr Handtuch.
Als sie wieder in den Vorraum trat, war der Fremde glücklicherweise verschwunden und auch als sie einen kurzen Blick nach draußen warf, konnte sie ihn nirgendwo erspähen.
Sie zog sich frische Kleidung an, eine elastische dunkle Hose und ein leinenes Hemd, die die Akademie in allen Größen in den Waschräumen bereithielt, drehte die Haare hinten auf dem Kopf zu einem Knoten zusammen, damit sie ihr nicht nass und kalt in den Rücken hingen und beschloss, sich auf den Weg nach Hause zu ihren Eltern zu machen und dort zu warten, bis sie am Abend ihre Ergebnisse bekäme.
Dabei bekam sie die bizarre Begegnung aus dem Waschraum nicht mehr aus ihrem Kopf, konnte sich aber nicht den geringsten Reim darauf machen, was es anderes gewesen sein könnte als ein sehr ungewöhnlicher Test. Aber dass das nicht alles gewesen sein konnte, war Kari durchaus bewusst, denn das Gefühl, dass es sich dabei um etwas Größeres gehandelt haben musste, ließ sie nicht los und neben Ehrgeiz und Disziplin war ihr Instinkt, was solche Dinge betraf, eine weitere Eigenschaft, die sie in der Akademie zur Genüge geschärft hatte und mit denen sie auch von Natur aus gesegnet war.
Sollte der Fremde nur wiederkommen...
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