Vergangenheit wird Gegenwart
Ein schöner Samstagabend, die Blätter der Bäume rascheln leise im Wind, die Strahlen der untergehenden Sonne durchstreifen sanft das Tal, auf welches Sarah von ihrem Garten aus hinunterblickt. Sie steht am mit schönen Blumen bestückten Abgrund und Ende ihres Gartens. Das geerbte Ferienhaus, welches sie mit ihrem Freund bezogen hat, gehörte wie bereits schon erwähnt worden ist einst ihrer Tante, doch sie ist vor langer Zeit verstorben und man hat nie aufklären können, woran sie gestorben ist. Sarah war da noch klein, man sagte ihr, ihre Tante sei für eine sehr lange Zeit verreist, doch irgendwann musste sie ja die Wahrheit erfahren. Ihr Onkel, der zu dieser Zeit des Mordes an seiner eigenen Frau verdächtigt worden ist, beteuerte seine Unschuld und behauptete, ein Monster hätte seine liebevolle Frau getötet. Niemand außer den Beamten der Polizei hätte sich überhaupt vorstellen können, dass Sarahs Onkel so etwas getan haben könnte. Beide galten als so liebenswert und nett, jeder im Tal mochte dieses Paar, doch am Ende wurde ihr Onkel in eine private Nervenheilanstalt eingewiesen. Sarah war ja noch sehr klein und verstand nicht, warum sie ihre Verwandten nicht mehr besuchen durfte. Aber sie hat sie nie vergessen. Auch jetzt nach so vielen Jahren denkt sie immer noch an ihren Onkel und ihre verstorbene Tante. Und jedes Mal vermisst sie beide ein bisschen mehr. Das Einzige, was von ihnen geblieben ist, ist dieses große Haus in den Bergen mit Blick auf das Tal, wo sie gelebt haben, doch das konnte schlecht alles sein. Eine Träne fließt Sarahs Wange hinunter. Am Kinn angekommen wischt sie diese mit dem Ärmel ihres Lieblingskuschelpullovers weg. Sie dreht sich auf Zehenspitzen um, geht barfuss zu der einige Meter entfernten Bank und setzt sich. Die wärmende Sonne legt ihr einen Mantel der Geborgenheit um. Oder es war doch eher ihr Freund Jackson, der ihr eine Decke über die Schultern legte.
„Woran denkst du?", fragt er mit leiser Stimme.
„Ich habe nachgedacht", fängt sie an.
„Hoffentlich tat es nicht zu sehr weh!", erwidert er mit einem verlegenen Grinsen.
„Ey!", wird sie laut und boxt ihm leicht gegen die Schulter, die Hände halb im Ärmel versteckt. Er legt einen Arm um sie:
„Worüber hast du denn nachgedacht, Liebling?"
„Ich möchte meinen Onkel wiedersehen." Jackson schaut sie regungslos und ohne jegliche erkennbare Emotion an. Stille. Das leichte Säuseln des Windes ist zu hören.
„Natürlich ... können wir das auch lassen.", wirft sie ein. Jackson dreht den Kopf weg und schaut in die Ferne.
„Es war ja nur ein Gedanke", fügt sie hinzu.
„Dein Onkel?"
„Jaaaaa?", sie wirkt inzwischen etwas verunsichert.
„Hat er nicht deine Tante getötet und behauptet, es wäre ein Monster gewesen?"
„Das ist nie richtig aufgeklärt worden. Mein Onkel hat damit nichts zu tun, davon bin ich überzeugt."
„Und dazu ist er in der Klapse!", wirft Jackson ein.
„Es ist eine Nervenheilanstalt für geistig schwache und verwirrte Menschen."
„Es ist ein abgeriegelter Bereich für Leute, die den Verstand verloren haben."
„Vielleicht stimmt ja, was er sagt.", äußert sie einen Gedanken mit trauervollen Stimme.
„Ich bitte dich! Ein Monster? Er hat sich das Ganze doch nur eingebildet!", raunt Jackson kalt.
„Das ändert nichts daran, dass ich ihn mal wieder sehen will. Er ist doch deswegen nicht gleich böse oder gar gefährlich. Er hat anscheinend nur den Tod meiner Tante, seiner Frau nicht verarbeiten können. Und er ist der letzte lebende Verwandte, den ich habe. Meine Großeltern sind gestorben, als ich noch ein Baby war, meine Eltern und meine kleine Schwester sind durch einen Autounfall ums Leben gekommen, als ich zwölf war und mein Onkel mütterlicherseits ist der letzte noch lebende Mensch, den ich habe, familiär betrachtet."
„Das mit deiner Familie hast du mir nie so richtig erzählt...", Mitgefühl macht sich in seiner Stimme breit.
„Naja, da gibt es halt nicht viel Schönes zu erzählen, also meide ich das Thema lieber."
„Natürlich besuchen wir deinen Onkel, gar keine Frage.", lenkt er zu ihrer Verwunderung ein.
„Bin ich so bemitleidenswert?", und ihre Stimme fängt zu zittern an.
Jackson hält für einen Moment inne und schaut sie an, ihr Blick ist auf die gepflegte Wiese vor ihnen gerichtet.
„Ich wünschte, ich könnte mehr für dich tun als... das hier!", murmelt er traurig.
„Du bist hier, das ist mehr als genug. Versprich mir nur eins!"
,,Ja?"
„Geh niemals fort!", sagt Sarah und schaut ihn mit Tränen in den Augen an.
„Ich werde immer an deiner Seite sein!", verspricht er ihr mit seiner charmanten Art.
Weinend schmiegt sie sich ihm zuwendend an seine Brust, zugleich nimmt er sie in den Arm. Arm in Arm sitzen sie auf der Bank, bis die Sterne zu sehen sind. Ein wunderschöner Anblick.
Es ist Nacht. Eine sternklare Nacht wohlgemerkt. Inzwischen ist das süße Pärchen ins Bett gegangen. Jackson schläft wie ein Stein und wie in jeder Nacht schnarcht er dabei leise, während er vermutlich davon träumt, wie er grade einen ganzen Wald zu Kleinholz verarbeitet. Sarah stört das nicht.
Jedoch scheint Sarah nicht so gut zu schlafen. Alle paar Sekunden wälzt sie sich hin und her, ihr ganzer Körper ist angespannt, fast schon verkrampft, die Augen zusammengekniffen, die Hände zu Fäusten geballt, ein Gesichtsausdruck, den nur ein Gefühl hervorbringen kann.
Sie träumt davon, wie sie läuft. Etwas verfolgt sie. Jedoch flieht nicht nur sie, Jackson rennt neben ihr und zwar um sein Leben. Inmitten eines riesigen Labyrinthes, gefüllt mit der Dunkelheit der Nacht und einem Schleier der Kälte sprinten sie die Wege entlang. Sarah fragt hechelnd, wovor sie fliehen, doch Jackson schreit nur, dass sie laufen soll. Weiterhin in eine Richtung am Laufen dreht sie sich soweit um, dass sie hinter sich schauen kann. Irgendetwas Großes ist da, aber genaueres sieht sie nicht. Sie wendet ihren Blick wieder ihrer Laufrichtung zu. Ungebremst knallt sie gegen eine Wand. Rückwärts taumelnd und hinfallend fängt sie sich mit den Händen weitestgehend ab. Ohne drüber nachzudenken, was gerade geschehen ist und, dass ihre Nase blutet, steht sie wieder auf und schaut sich um. Nichts zu sehen. Niemand zu sehen. Sie ruft Jackson. Stille. Keine Reaktion, kein Geräusch. Sie schreit nach ihm, doch noch immer keine Antwort, kein Zeichen von ihm. Diese grauenvolle Stille verunsichert Sarah mit jeder Sekunde, während sie alleine ist. Nein, nicht allein. Nur allein gelassen. Plötzlich hört sie einen Schrei. Das war Jackson, da war sie sich ganz sicher. Zögernd, ob sie zu ihm laufen soll oder nicht, steht sie wie erstarrt da, bis ihr etwas auf die Schulter tropft. Langsam ihren Blick nach oben wendet sieht sie eine Gestalt, monströs, furchteinflößend und mit zwei leuchtenden Augen. Einige Sekunden schauen sich die zwei Wesen in die Augen, bis sie aus dem Nichts einfach lossprintet, dem Schrei Jacksons hinterher. Sie läuft und läuft und läuft auf einem scheinbar nie endenden Weg, das Monster hinter ihr her. Sie hört das Schnauben dieses Viehs, hört, wie es sie auf allen vieren verfolgt und spürt das Verlangen, sie zu erwischen. Aber mit jeder Sekunden entfernen sich die Geräusche, bis sie wieder nichts mehr hört, doch an langsamer werden ist nicht zu denken. Jetzt kann sie auch Jackson suchen, denkt sie, da sieht sie schon etwas in einiger Entfernung auf dem Boden liegend. Sie ruft seinen Namen, doch niemand antwortet. Sie läuft auf das unbekannte Etwas auf dem Boden zu. Als sie direkt davor steht, erkennt sie, was es ist. Es ist ein Mensch. Es ist Jackson. Aufgeschlitzt, zerkratzt, überall verwundet. Sie sieht die Panik in seinem Gesicht, das letzte Gefühl, dass er hatte. Sie ist schuld, denn wenn sie da gewesen wäre, würde er vielleicht noch leben. Aber jetzt ist er tot. Sie fällt auf die Knie und fängt bitterlich an zu weinen. Sie hört wieder das Monster, es steht einige Meter hinter ihr. Ein weiteres springt ein paar Meter vor ihr von einer der Wände auf den Weg. Sie schaut das Wesen vor ihr weinend an. Völlig aufgelöst kniet sie einfach nur da und schaut mit gedankenverlorenem Blick dieses Wesen an, wie es wutschnaubend mit fletschenden Zähnen und leuchtenden Augen auf sie zukommt. Mit jedem Schritt wird es schneller, das Vieh hinter ihr ebenfalls. Beide setzen zum Sprung an und fliegen mit ausgestreckten Armen mit krallenartigen Fingern auf sie zu. Als diese sie erreichen, reißt Sarah die Augen auf und setzt sich ruckartig aufrecht im Bett hin. Mit schnellen, kurzen Atemzügen sammelt sie ihre Gedanken, der Blick geradeaus auf den ausgeschalteten Fernseher gerichtet. Sie dreht ihren Kopf langsam nach links.
„Gut." flüstert sie sich selbst beruhigend. „Er ist noch da. Es war alles nur ein Traum."
Erleichtert lässt sie sich sanft wieder in ihr Kissen fallen. Sie spürt, wie noch immer die Angst sie durchströmt. Das ganze Adrenalin in ihrem Blut hält sie wach, aber ihre Atmung wird schon wieder langsamer. Sie schließt die Augen und atmet tief ein und aus.
„Es ist alles gut", flüstert sie immer wieder zwischen den einzelnen Atemzügen. „Es ist alles gut." Unzählige Male flüstert sie sich das selbst zu, bis sie wieder eingeschlafen ist. Doch dieses Mal träumt sie nichts Böses mehr.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro