
Das erste Treffen
Ein Raum, ein dunkler Raum, wo man die Hand vor Augen kaum sehen kann. Sie geht durch den türlosen Türrahmen in die Untiefen der Finsternis hinein. Ihr Herz schlägt schnell, so schnell wie noch nie. Sie spürt, wie die Angst ihren Körper einnimmt, sie durchströmt, ihr den Atem beinahe nimmt. Schritt für Schritt schleicht sie aufrecht durch den Raum. Panische Blicke suchen in der Dunkelheit nach etwas. Irgendetwas, was man nehmen kann um sich zu verteidigen, doch es ist nichts zu sehen.
Sie hört ihren knappen Atem, ihr pochendes Herz, ihre leisen Schritte. Plötzlich hört sie was! Panisch rennt sie los. Im nächsten Moment liegt sie am Boden. Sie ist über irgendetwas gestolpert. Oder besser gesagt: über jemanden. Sie tastet liegend den Boden ab, fühlt etwas ähnliches wie eine Taschenlampe und schaltet es ein. Sie dreht sich auf den Rücken, erblickt am Boden Blut und kriecht geschockt rückwärts weg.
Wie erstarrt hält sie die Taschenlampe in der Hand, das Licht auf den regungslosen Körper gerichtet. Da... liegt ihr... Freund! Aufgeschlitzt! blutbefleckt! Tot?
Nein! Er atmet noch. Tränen fließen über ihre Wangen. ,,Gerade eben ist er noch vorgegangen..." flüstert sie mit zitternder Stimme.
Er hustet kurz, dreht seinen Kopf zu ihr und flüstert ihr etwas zu.
„Was hast du gesagt?", flüstert sie aufgelöst zurück.
„Lauf..."
Sie wartet einen Moment ab. „Lauf endlich! Wir ...", Er hustet erneut „Wir sind hier nicht sicher!"
Den Blick auf ihn gerichtet kriecht sie langsam weiter von ihm weg. Angst, Trauer und Schuldgefühle durchströmen sie. Schon wieder ein Geräusch! „LAUF!", schreit er mit aller Kraft. Sie springt auf, dreht sich um und rennt. Die Geräusche kommen näher. Der Lichtkegel wandert durch den Raum, ihr Blick nach unten gerichtet rennt sie gegen eine metallene Tür, prallt dagegen, taumelt, rüttelt an der Tür, reißt sie auf, huscht durch und schleudert sie zu.
Schnell wirft sie die Taschenlampe weg und rettet sich hinter eine Kiste in einer Raumecke. Etwas hämmert gegen die Eisentür, dann ist es still. Die Taschenlampe rollt mit gebrochenem Glas langsam zur Seite, leuchtet die Tür an und dann... ist es ruhig. Ihr Herz schlägt ihr bis zum Hals. Sie hat Angst, an Schuldgefühle ist nicht zu denken. Ein Knall! Die Eisentür fliegt durch den Raum, Reste der Türaufhängung hinterher. Ein Wesen, ein Monster betritt den Raum. Eine riesige Bestie mit langen Beinen, langen dünnen Armen mit langen, dürren, spitzen Fingern, einer gebogenen Wirbelsäule, als hätte es einen Buckel und fahle, braun-rote Haut. Aber es sieht aus... wie ein Mensch. Nur... irgendwie anders. Größer, dünner, eklig.
Es lässt seine gelb-leuchtenden Augen den Raum durchsuchen. Wie erstarrt kniet sie hinter der Kiste, geschockt blickt sie das Monster an. Es dreht seinen Kopf zu ihr, öffnet leicht das mit spitzen Zähnen bestückte Maul und bewegt sich in ihre Richtung. Sie hält die Luft an und reißt die Augen auf. Vom Licht angeleuchtet sieht sie seine vor Blut tropfenden Hände, das Blut ihres Freundes.
Plötzlich scheppert es nebenan. Man hört jemanden rufen. Er lebt noch!
„FLIEH! LAUF WEG!", seine Stimme wird schwächer.
„Ich lenk es ab!", das Monster huscht durch die Tür und verschwindet in der Dunkelheit.
Nur einen Moment später geht irgendetwas Metallisches zu Boden, mehr ist nicht zu hören.
Stille!
Minutenlang hört man nichts. Sie rührt sich nicht.
„Er... ist für mich... gestorben...", flüstert sie aufgelöst. „Warum er?". Sie will zu weinen anfangen, die ersten Tränen fließen bereits, da sieht sie ihn in Gedanken vor sich wie er enttäuscht den Kopf schüttelt. „Nein!", flüstert sie leise, „Er würde nicht wollen, dass ich jetzt aufgebe!"
Mit dem Ärmel der Sweatshirt-Jacke die Tränen wegwischend steht sie langsam auf, nimmt die Taschenlampe und geht lautlos in den Raum, wo ihr Freund gerade eben noch zu hören war. Tränen laufen ihr über ihre Wangen. Mit gesenktem Blick dreht sie sich nach links ab und geht so leise wie möglich los. Ihre Trauer überdeckt ihre Furcht. Sie starrt auf den Boden vor sich.
Blutspritzer. Dreck. Scherben. Noch mehr Blut. Holzsplitter. Wieder Scherben. Eine Tür.
„Eine Tür?", denkt sie.
Vor ihr liegt die Stahltür zu dem Hochsicherheitszellentrakt, wohin auch das Subjekt 23 verlegt worden ist wie sie es in der Akte gelesen hat. Neben dem verbeulten Türrahmen hängt ein Lageplan der Etage hinter einer gerissenen Glasscheibe. Mit Tränen in den Augen studiert sie den Plan.
„Dieser Gang hat zwei Zugänge. Einer ist in diesem Raum, aber der Weg zur Treppe ist blockiert. Der andere Weg führt an dem Heizkessel und den Generatoren für den Strom vorbei, wenn ich in der Mitte des Ganges vor einer Sicherheitstür rechts abbiege.", reimt sie sich in Gedanken zusammen. Weitere Tränen laufen ihr über das Gesicht. Doch neben der Trauer macht sich noch ein anderes Gefühl breit: Wut! Sie verspürt Wut auf das, was ihren Freund getötet hat und auf alle die, die dieses Ding erschaffen haben.
Mit gemischten Gefühlen steigt sie über die Tür und geht in den Gang. Furchtlos, dafür mit Wut und Trauer erfüllt schreitet sie voran. Sie leuchtet abwechselnd in die Zellen rechts und links von ihr, während sie in der Mitte des Ganges und dadurch mit dem optimalen Sicherheitsabstand zu den Wesen oder dessen Überresten in den Zellen läuft. Das, was noch lebt, schaut sie mit gelb-leuchtenden Augen an, aber diese Monster haben noch eine menschenähnliche Gestalt. Sie haben eine normale Größe, eine standardmäßige Statur, aber sehr spitze Zähne, leuchtende Augen, eine sehr flache bis gar keine Nase, Krallen an den Enden der Finger, weswegen man symbolisch von spitzen Fingern sprechen könnte und sie haben deutlich erkennbare Muskelpartien. Einige dieser Wesen knurren Sarah an, andere versuchen sie durch die Gefängnisgitter hindurch zu packen, jedoch erfolglos bei dem breiten Gang, auf welchem sie sich befindet. Mit tödlichen Blicken schaut sie diese Wesen an. Wenn sie nicht so unglaublich wütend wäre, hätte sie Angst vor und zugleich auch Mitleid mit diesen Wesen. Wie geplant biegt sie an der Sicherheitstür rechts ab.... zumindest biegt sie dort ab, wo noch Reste einer stählernen Sicherheitstür zu sehen sind. Ein paar Überreste eines Gefängnisgitters sowie Teile eines Türrahmens sind noch am Boden und an der Decke befestigt, alles in Richtung von Sarahs derzeitiger Position gebogen. Sie leuchtet in diesen ursprünglich abgeriegelten Gang. Er ist leer, nur am Ende des Weges ist schemenhaft etwas zu erkennen. Sie erkennt grob einen Türrahmen, doch dahinter ist eine schwarze Wand. Die Taschenlampe fängt an zu flackern.
„Oh nein.", denkt sie sich. „Die Batterien sind leer. Wo hab ich die Ersatzbatterien?" Schnell nimmt sie den Rucksack ab und sucht mithilfe der kläglich Licht spendenden Taschenlampe die besagten Teile. Als sie sie findet, ist das Licht schon fast erloschen. Sie legt die Batterien vor sich, um gleich schnell ertasten zu können, wo sie sind, dreht die Taschenlampe am hinteren Ende auf und nimmt die alten Batterien raus. In tiefer Finsternis und von ein paar leuchtenden, aber nicht Licht spendenden Augen begleitet, tastet sie nach den neuen Batterien, findet zwei und steckt sie in die Taschenlampe. Nachdem sie wieder alles zusammengesetzt hat, schaltet sie die Lampe wieder ein und siehe da, sie kann wieder etwas sehen.
„Das ist ja grade noch einmal gut gegangen.", flüstert sie, da meldet sich eines der gefangenen Wesen hinter ihr. Es rüttelt an den Gittern.
„Ich sollte gehen...", murmelt sie, zieht den Rucksack auf, sammelt die restlichen Batterien ein, steckt sie in ihre Hosentasche, steht auf und läuft los. Es gibt noch ein paar Zellen auf dem Gang, aber nichts schaut ihr hinterher, sie scheinen leer zu sein. Hörbar fällt in einer gewissen Entfernung eine Eisenstange zu Boden, das Gerüttel hält jedoch weiter an.
„Die Zeit wird knapp!", denkt sie und läuft immer schneller. Sie sieht trotz des wackelnden Lichtkegels wegen der Lauferei eine offenstehende Zelle. Sie bleibt direkt daneben stehen und leuchtet hinein.
„Niemand zu sehen!", sagt sie schnaufend. Schnell huscht sie in die Zelle, lehnt die Tür quietschend so an, dass es auf den ersten Blick den Eindruck macht, als sei sie verschlossen und versteckt sich unter dem Bett in der Ecke der Zelle. Da sie anscheinend nie wirklich benutzt worden ist, ist sie auch relativ sauber im Gegensatz zum Rest des Gebäudes. Eine zweite Eisenstange fällt zu Boden. Dann noch eine. Und eine weitere. Das Monster schreit und läuft hörbar los, genau in die Richtung, in die Sarah auch unterwegs war. Sie schaltet die Taschenlampe aus. Das Wesen kommt immer näher, sie hört es. Angst macht sich in ihr breit. Die Wut und die Trauer verschwinden langsam. Sie will nur noch da weg. Wie erstarrt liegt sie nun unter dem Bett und schaut auf den Gang, doch sehen kann sie nichts. Die Schritte werden langsamer und leiser. Je näher es kommt, desto mehr hört man ein tiefes, langsames Atmen, so wie es in dem Bericht steht, den sie gefunden hat. Vor der Zelle bleibt es stehen. Ein Knurren ist zu hören. Nach wenigen Sekunden hat es sich anscheinend umgedreht und geht wieder, denn die Geräusche verschwinden in genau der Richtung, aus der sie gekommen sind.
Sie bleibt noch einige Minuten unter dem Bett liegen. Sie zittert. Ihr ganzer Körper ist mit Adrenalin voll gepumpt.
„Beruhig dich!", flüstert sie sich leise zu. „So kommst du hier nie raus."
Sie bemerkt wie ihre Stimme zittert. Sie atmet tief durch. Und noch mal. Und noch mal.
„Besser? ... Besser! ... Nur Mut... Das wird schon. Ich lebe noch, also lief es bis hier hin noch ganz gut."
Sie erinnert sich an alles, was geschehen ist und ihre Augen füllen sich wieder mit Tränen.
„Nein!", sagt sie. „Ich hab jetzt keine Zeit zum Trauern! Das hätte Jackson nicht gewollt!"
Sie reißt die Augen auf und erstarrt.
„Fuck! Ich war zu laut.", denkt sie. Sie wartet einen Moment ab.
„Nichts zu hören...".
Ohne weiter drüber nachzudenken kriecht sie unter dem Bett hervor und richtet sich auf. Den Dreck von der Jacke abwischend schaltet sie mit der linken Hand die Taschenlampe in ihrer Hand wieder ein und schaut sich in der Zelle um.
„Gähnende Leere beschreibt es ganz gut..."
In der Zelle ist bis auf einer Toilette, ein Waschbecken und einem Bett absolut nichts, wenn man von dem ganzen Dreck, den Staub und dem getrockneten Blut mal absieht.
„Jetzt kommt das nächste Problem.", denkt sich Sarah. „Ich muss irgendwie diese Tür aufbekommen ohne dieses ... Vieh wieder her zu ... locken."
Mit der Taschenlampe die Zellentür anleuchtend nähert sie sich dieser. Zitternd greift Sarah mit der rechten Hand zaghaft nach einer Eisenstange über dem Schloss. Angst und Konzentration spiegeln sich in ihrem Blick wieder. Sehr langsam schiebt sie die Tür auf. Sekunden vergehen wie Minuten, Sarah drückt die Hand, in der sie die Taschenlampe hält, immer fester zusammen. Man kann ihre Angst schon beinahe riechen. Plötzlich stoppt sie, wischt sich den Schweiß von der Stirn, wobei der Lichtkegel quer durch den Raum wandert, atmet ganz tief durch, schließt die Augen, atmet noch einmal tief durch und öffnet die Augen wieder. Neben der Angst in ihrem Blick ist nun auch eine starke Entschlossenheit. Der Wille zu leben, der Wille zu kämpfen. Sie drückt weiter die Tür langsam auf. Sie hat schon fast die Hälfte von dem geschafft, was sie an Platz gleich brauchen wird. Ohne Rucksack auf dem Rücken würde sie nun gerade so durch die Lücke passen.
„Quiiiieeetttsssccchhh!"
„Scheiße!" , flucht sie leise, lässt die Eisenstange los, zieht die Hand vor lauter Angst an ihre Brust zurück und macht einen Satz nach hinten. Sie passt zwar da durch die Spalte zwischen Tür und Türrahmen, aber nur, wenn sie schleicht.
Schnell nimmt sie den Rucksack ab, legt ihn auf das Bett und kriecht unter dasselbige. Der Geruch von Urin, Blut und verfaultem Fleisch gleitet sanft in ihre Nase. Angewidert und das Gesicht verziehend kriecht sie noch weiter unter das Bettgestell, schaltet die Taschenlampe aus und steckt sie in ihre linke hintere Hosentasche.
Unter dem Bett liegend wartet sie einige Zeit ab. Es geschieht ... Nichts! Kein Geräusch, keine Bewegung, kein Lebenszeichen von irgendjemandem oder irgendetwas. Man hört nur leicht das geringfügige Entweichen von Gas aus einem beschädigten Rohr.
Erleichtert kriecht sie langsam wieder aus ihrem Versteck. Den Dreck von den Klamotten wischend steht sie wieder auf. Während sie sich sauber macht, sieht sie etwas aus dem Augenwinkel heraus. Sie wendet diesem den Kopf zu und erstarrt.
Mit ängstlichem Blick sieht sie zwei gelb-leuchtende, finster drein schauende Augen, welche sicht- und hörbar an ihr vorbeihumpeln in Richtung der Stromaggregate. Sarah bewegt keinen Muskel. Das Herz schlägt ihr bis zum Hals. Adrenalin durchströmt ihren Körper, sie spürt die Panik in ihr. Nur wenige Zentimeter, das geräuschlose Stillstehen und die aussetzende Atmung haben sie vor ihrem Ende bewahrt. Geschockt von diesem eher unerwünschten Wiedersehen blieb sie gefühlt eine Ewigkeit in ihrer gebückten Haltung des Saubermachens stehen. Langsam bewegt sie ihren linken Arm, schaltet die Taschenlampe wieder ein und sieht gerade noch wie ein riesiges Monster mit braun-roter, fahler Haut dem humpelnden Wesen hinterher geht. Kurz darauf hört man ein Fauchen, das Geräusch als wenn etwas großes, spitzes etwas weiches durchbohrt, irgendetwas tropft hörbar auf den Boden und schließlich ist ein dumpfer Aufschlag auf den Boden zu hören. Dann.... ist es still. Mit der Situation völlig überfordert dreht sie sich auf dem Abstand ihres rechten Schuhs in Richtung Bett, geht zu diesem und setzt sich drauf. An der Wand anlehnend schaltet sie die Taschenlampe aus und schaut mit großen Augen in die Finsternis.
„Bis hier hin lief's noch ganz gut", flüstert sie, „bis hierhin lief's noch ganz gut.... bis hierhin lief's noch ganz gut... bis hierhin... bis hierhin lief's noch .... bis...."
Mit leicht geöffnetem Mund sitzt sie einfach nur da und schaut in die tiefe Dunkelheit. Sie denkt nach. Das Herz schlägt ihr bis zum Hals. Sie spürt, wie die Angst Besitz von ihr ergreifen will. Der Wille, einfach aufzustehen und loszurennen, schnell zu flüchten und alles zu vergessen, was geschehen ist, was in dieser Einrichtung alles getan worden ist. „NEIN!", denkt sie. „Ich werde hier raus finden, aber vorher muss ich wissen, was hier geschehen ist! Und ich werde meinen Onkel suchen, sonst war alles vergebens!"
Sie atmet tief durch. Und noch mal. Langsam steht sie auf, schaltet die Taschenlampe wieder ein, dreht sich um, öffnet ihren Rucksack, nimmt die wenigen Batterien, die sie noch hat, steckt diese in ihre linke Hosentasche, schließt den Rucksack wieder, zieht ihn auf und geht zur halb geöffneten Zellentür. Sie atmet noch einmal mit geschlossenen Augen durch, öffnet sie dann wieder, öffnet mit einem entschlossenen Blick langsam die leise quietschende Tür und geht aus der Gefängniszelle wieder zurück in den Gang.
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