LUFT
Peter Bolton sog hörbar die Luft ein. Es war Nacht geworden über der Stadt und die Uhr schlug elf Mal.
„Bald ist Geisterstunde, Peter."
Peter Bolton zuckte bei dieser Bemerkung zusammen.
Keoma lächelte.
„Wenn die Geister kommen, ist alles möglich."
Dr. Bolton kämpfte sichtbar um seine Beherrschung, als er nun entschlossen das Wort ergriff. Er wirkte wie ein Ertrinkender, der sich mühsam an alles anklammert, das ihm irgendeinen Halt verspricht:
„Lassen sie mich doch noch einmal zusammenfassen, Keoma. Also: Da kam am frühen Nachmittag ein Klient zu mir, mit dem ich wegen irgendwelcher Eheprobleme reden wollte.
Dieser Klient verdeutlichte mir anhand einer aberwitzigen, faszinierenden und zutiefst verstörenden Geschichte, dass die Wurzel seiner Eheprobleme in einer Zeit zu suchen ist, die knapp zwanzig Jahre zurückliegt – also in einer Zeit, zu der dieser Klient seine Ehefrau noch nicht einmal kannte – und volle drei Stunden seines ganzen Lebens umfasst, die er zudem ohnmächtig in einem Hospital auf Island verbracht hat.
Dieser Klient hat, wenn ich seiner Erzählung Glauben schenken darf – und das tue ich, ja, ich glaube wirklich, das tue ich, Keoma – in diesen drei Stunden seiner Ohnmacht mehr erlebt als andere in einem ganzen Leben.
Ja, mehr noch: Er hat etwas erlebt, das sein ganzes Leben in einer Art und Weise durchdringt, dass sämtliche biologischen und physikalischen Gesetze hier vor meinen Augen ad absurdum geführt werden.
Während ich nun unaufhaltsam altere, werden sie, Keoma, vor meinen eigenen Augen jünger und sehen aus, wie sie wohl damals auf Island ausgesehen haben müssen – das heißt, dass an ein und demselben Ort die Zeit in zwei entgegengesetzte Richtungen läuft, mit und entgegen dem Zeitpfeil - in diesem Büro.
Weiterhin: Dieser Klient hat nicht allein seine eigene Frau auf bestialische Weise getötet – nein, er hat mich auch dazu gebracht, dass ich dieses Verhalten aus der Logik und Folgerichtigkeit seiner Erzählung nachvollziehen, ja sogar fast billigen kann. Sie haben mich quasi in eine Komplizenschaft gezogen, die für mich unauflösbar ist, denn...
Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll!"
„Es hat nichts mehr mit ihrem Verstand zu tun, Peter. Lassen sie ihn einfach los..."
Peter Boltons Gesichtszüge verkrampften sich. Vor Keoma Lewis saß ein Mann, der mit aller Macht darum kämpfte, nicht den Verstand zu verlieren.
„...denn ich wünsche mir, dass all das wahr ist, was dieser Klient mir erzählt, ohne zu wissen, warum ich mir wünsche, an diese Unmöglichkeiten zu glauben, von denen ich...einige...ja sogar...ich habe einige mit eigenen Augen..."
Keoma Lewis beugte sich vor und hielt Peter Bolton bei den Schultern, redete ihm leise zu:
„Lassen sie ihn los, Peter. Er kann ihnen nun keinen Dienst mehr erweisen. Er kann lediglich ihren Geist zerstören, wenn sie weiter an ihm festhalten..."
Peter Bolton wimmerte nun wie ein kleines Kind, bemühte sich, die Sprache wiederzufinden, starrte Keoma aus tränenüberströmten Augen hilfesuchend an:
"Dieser Klient, Keoma...hören sie...was wird er nun...tun? Wissen sie, Keoma: Er hat...er hat alles zerstört, woran ich mein ganzes Leben lang geglaubt habe. Er kam einfach hier herein und zerstörte mein ganzes Leben und...
Was werden sie nun tun, Mr. Lewis?"
Peter Bolton lag nun in Keomas Armen wie ein kleines Kind, zutiefst verunsichert und über alle Maßen hilflos, nahe daran, rettungslos wahnsinnig zu werden.
"Ich werde von hier fortgehen, Peter...und gleichzeitig werde ich für immer bleiben, denn wohin sollte ich gehen?"
Keoma lächelte. Seine kristallblauen Augen betrachteten einen Punkt, der nicht im Raum war.
"Ich werde gehen und, wenn sie wollen, Peter, nehme ich sie mit..."
Peter blickte hoffnungsvoll auf, beruhigte sich langsam, begann, an die Möglichkeit einer Unmöglichkeit zu glauben:
"Sie werden zurückkehren nach CORAZON?
Sie wollen es wagen...und alles zurücklassen?"
"Da ist nicht viel - für niemanden. Hier werden sie nur sterben."
"Und dort, Keoma? Was ist dort?"
"Dort ist alles möglich."
Keoma schaute Peter Bolton bestimmt an:
„Es ist die einzige Wahl, die sie haben, Peter: Sie können hierbleiben..." Er lächelte spitzbübisch.
„...oder mitkommen. Mir ist es gleich."
„Doch wie wollen sie die Tür finden, Keoma? Und wenn sie die Tür finden, werden sie den Weg wissen?"
Keoma lachte laut auf, er lachte aus vollem Hals.
„Die Tür, Peter, diese Tür ist überall. Es gibt keinen Platz auf dieser Welt, wo sie nicht wäre.
CORAZON ist das Herz der Welt. ER ist in ihrem tiefsten Inneren verborgen, und SEINE Türen führen in alle möglichen Welten.
Den INNEREN KREIS habe ich niemals wirklich verlassen, denn TANIA und KEOMA sind nur die zwei Seiten einer einzigen Medaille. Wo SIE ist, bin auch ICH, und wo WIR sind, da ist CORAZON.
Unzählige Welten durchdringen einander, und zwischen allen gibt es Türen. Es braucht nicht mehr als den unbeugsamen Willen, sie durchschreiten zu wollen.
Den Weg zu den Doltschins aber...den Weg habe ich vor langer Zeit markiert. Ich kann ihn nicht verfehlen, denn in meinem HERZEN bin ich noch immer dort."
Und Peter Bolton mit seinem begrenzten menschlichen Verstand begann tatsächlich zu verstehen - begann zu verstehen, weil er das Mental frei fließen ließ, es nicht anklammerte an angelernten Fixpunkten:
„Und CORAZON ist nichts anderes als das HERZ, nicht wahr? Es macht keinen Unterschied, ob sie gehen oder bleiben, denn sie sind immer dort, weil sie in ihrem tiefsten Inneren identisch sind mit CORAZON?"
Keoma nickte.
„Der Unterschied liegt in der Manifestation, im Bewusstsein. Es macht im Grunde keinen Unterschied, ob ich dort lebe oder hier sterbe. Doch wenn ich bewusst bin, bin ich fähig. Was mein Bewusstsein umschließt, kann es erreichen. Hier, auf dieser Erde, erscheint die Welt als Begrenzung: Es ist der dunkle Ort der Unmöglichkeiten, der Ort der zahllosen DU-KANNST-NICHT und DU-DARFST-NICHT.
Doch bin ich bewusst, Peter, dann bin ich fähig; und wenn ich fähig bin, wäre ich dumm, hier zu bleiben, wenn es noch andere Welten gibt."
„Doch werde auch ich fähig sein, dort zu überleben?"
„Wer kann sagen, wozu sie fähig sind, Peter? Es hängt von ihrem Bewusstsein ab. Drinnen und draußen ist nichts außer CORAZON mit seiner unendlichen schöpferischen Freiheit. CORAZON ist einer; da ist nichts außer IHM."
In diesem Moment fiel alle Angst von Peter Bolton ab. Irgendwie schien nun alles so klar, so unglaublich einfach zu sein...
„Doch was ist zu tun, Keoma? Wie öffnen wir die Tür?"
Keoma lachte ein letztes Mal.
„Nichts ist zu tun, Peter. Wir gehen einfach..."
Peter Bolton lachte ebenfalls.
„Ja, Keoma. Wir gehen, weil wir gehen wollen. Es gibt nichts Einfacheres."
So standen sie auf und gaben sich die Hand. DIE TÜR aber öffnete sich ganz weit - und der Dschungel brach mit Macht in unsere Wirklichkeit.
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