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Es blieb sehr lange sehr still in dem überwiegend weiß gestrichenen und nur spärlich möblierten Raum.
Die beiden Männer, die nur durch den langen, schweren Schreibtisch aus Eichenholz voneinander getrennt waren, wirkten wie vollendete, für die Ewigkeit erstarrte Statuen aus einem unbekannten biologischen Material. Sie schienen schon lange Zeit zur Einrichtung zu gehören, wie sie da einander gegenüber saßen und kein einziges Wort laut werden ließen. Ihre Augen schienen sich zu durchdringen.
Nichts war zu hören außer dem leisen Geräusch ihres Atems. Nichts regte sich außer den kleinen schwimmenden Lebewesen in dem großen Glasbehälter an der Westseite des Raumes, der die halbe Wandlänge einnahm. Im Wasser gebrochenes grünes Licht waberte in unregelmäßig großen Flecken auf dem tiefblauen Kunstteppich. Die alte Wanduhr schlug drei Mal.
"Was haben sie gesehen, Doc?"
Keoma Lewis' Stimme war leise, fast unhörbar gewesen. Dennoch ließ sie Dr. Peter Bolton erschreckt zusammenfahren. Auf seiner Stirn hatten sich dicke Schweißtropfen gebildet, obwohl die Klimaanlage für eine unverändert angenehme Raumtemperatur sorgte. Ein Augenlid zuckte nervös.
Die Gegensprechanlage summte.
Dr. Boltons Augen lösten sich von seinem Gegenüber. Es gelang ihm erst beim zweiten Versuch, die Verbindung herzustellen.
"Dr. Bolton? Mr. Smith ist hier wegen seinem Termin um 15.30 Uhr."
"Sagen sie ab. Sagen sie alle Termine für heute ab."
"Aber Mr. Smith hatte einen sehr weiten Anfahrtsweg, und sie wissen, sein Terminplan..."
"Verdammt, Claire, es ist einfach nicht möglich. Geben sie ihm einen neuen Termin und lassen sie sich irgend etwas einfallen. Und stellen sie nichts mehr durch. Wenn sie alle Termine abgesagt haben, machen sie Schluss für heute. Haben sie verstanden?"
"Ja, Dr. Bolton. Wenn sie mich wirklich nicht mehr brauchen?"
"Nein, Claire. Bis morgen."
"Bis morgen, Doktor."
Stille.
Das Glucksen des Aquariums.
Der Schweiß auf Peter Boltons Stirn.
Hektische rote Flecken in seinem Gesicht.
"Sagen sie mir, Dr. Bolton: Was haben sie gesehen?"
Lewis' Stimme, jetzt deutlicher, eindringlicher.
"Ihre Zunge...zunächst normal, dann...ein Wabern, ein Zerren, ein gegenläufiges Kräftespiel im Fleisch ihrer Zunge. Mein Gott, ich kann nicht..."
"Sie sind dabei, Doc. Sie können. Was haben sie dann gesehen?"
Lewis' Stimme, keinen Widerspruch zulassend.
"Der Länge nach auseinandergerissen...die blutenden Ränder zu beiden Seiten des Risses in Sekundenschnelle verheilt, vielleicht schneller. Wie in einem Zeitraffer - wie in einem Traum.
Ich denke, ich bin einfach überarbeitet. Alles zuviel in den letzten Wochen. Mr. Lewis, ich kann ihnen nicht helfen, bin nicht der richtige Mann für sie, bin..."
Boltons Stimme drohte sich zu überschlagen, völlig aus dem Gleichgewicht zu geraten.
Dann Lewis. Beruhigend. Kühl.
"Reißen sie sich zusammen, Doc. Sie haben etwas gesehen, das sie nicht einordnen können. Verständlich, wenn sie etwas die Fassung verlieren, aber bedenken sie bitte eines dabei: Sie wurden lediglich damit konfrontiert, Dr. Bolton. Ich aber lebe damit.
Bemühen sie sich. Sprechen sie weiter. Es ist real, Doc..."
Unerbittlich.
"Der Riss...verheilt. Die beiden Zungen expandierten, traten weiter aus dem Mund hervor. Die Zungenenden spitz zulaufend - immer noch weiter hervortretend. Dann die Zungenbasis - ein Teil, eine Zunge, eine gespaltene Zunge, mein Gott...die Enden unabhängig voneinander bewegend.
Dann zurückschnellend, miteinander verschmelzend im Vorgang des Zurückschnellens - der absolute Wahnsinn!"
Lewis lächelte.
"Gut, Dr. Bolton. Sie können darüber sprechen. Dann werden sie auch keine Angst davor haben. Es wird ihnen vertraut."
"Diese Mutation, Mr. Lewis...ebenfalls seit zwanzig Jahren?"
"Seit damals. Ja."
"Entschuldigen sie, dass ich einen Moment lang...es ist dermaßen ungewöhnlich, und es ist das erste Mal. Ich meine, eine derartige Mutation sieht man wirklich nicht alle Tage, oder etwa doch? Tut mir leid, ich bin etwas nervös und es fällt mir im Augenblick schwer, sachlich zu bleiben. Man bekommt ja einiges mit im Laufe der Zeit, aber manches verschlägt einem dann doch die Sprache.
Was halten sie von einem Drink, Mr. Lewis, einem Drink für uns beide?"
"Nein, danke. Ich bin den Anblick bereits gewohnt."
"Ja. Stimmt wohl. Sie haben sicher doch nichts dagegen, wenn ich mir einen genehmige?"
"Nur zu, Doc, nur zu. Ich bin so satt, ich mag kein Blatt."
"Gefällt es ihnen, sich über mich lustig zu machen, Mr. Lewis?"
"Ganz im Gegenteil, Dr. Bolton. Ich bedauere die Tatsache. Und ich bedauere es, dass sie ihre klare Sicht der Dinge mit Alkohol ertränken wollen. Sie kennen mit Sicherheit andere Möglichkeiten, um mit der Realität fertig zu werden - ganz zu schweigen davon, dass sie mir in angetrunkenem Zustand wohl kaum eine Hilfe sein werden.
Aber vielleicht habe ich einfach zuviel erwartet. Vielleicht muss ich mit meinem Problem alleine zurande kommen, wie bisher."
Keoma Lewis erhob sich mit Bestimmtheit aus dem großen, überaus bequemen Ledersessel - einem Instrument weitaus besser dafür geeignet, die Voraussetzungen zu schaffen, um jemandem seine verborgensten Geheimnisse zu entlocken, als die katholische Inquisition.
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