Kapitel 19 - Sturzflug
"Helfen Sie Miss Clarence!", keuchte Kaylee, sich immer noch verkrampft an die, sich lösende, Regenrinne klammernd.
Bens Herzschlag stolperte einen Moment, als er Kaylee entgeistert anstarrte.
"Wenn ich Sie loslasse, werden Sie fallen!"
"Tun Sie, was ich sage, Archer!", forderte die Magierin mit bemüht eiserner Stimme. Ben konnte jedoch die Angst in ihren Zügen sehen.
"Ich lasse Sie nicht fallen, Crowford!", weigerte sich Benjamin und sein Griff schien sich noch mehr zu verfestigen, als wollte er damit seinen Worten Nachdruck verleihen. Die Gefahr hinter ihnen, die von den beiden Vampirinnen herrührte, schien in die Ferne gerückt und beinahe vergessen.
"Archer!", zischte Kaylee erneut und suchte den Blick ihres Partners und Freundes. "Vertrauen Sie mir, verflucht! Helfen Sie dem jungen Ding!"
Benjamin musste sich sichtlich zwingen, die Finger von Kaylees Arm zu lösen und griff, so schnell er konnte, nach der Hand der jungen Frau. Sie war nass und rutschig, vor allem ihre Finger. Fast wäre sie ihm direkt wieder aus den Händen geglitten. Er erwischte ihren Ärmel, griff dann nach Schulter und Kragen, ehe er sie bäuchlings nach oben auf das Dach hievte.
Kaylee fasste indes erneut mit beiden Händen nach der Rinne, welche dabei ein lang gezogenes Stöhnen von sich gab. Ihre Finger waren rot von Kälte und Belastung – nur die Knöchel zeichneten sich bleich unter der Haut ab.
Benjamin hatte das Mädchen gerade auf das Dach gezogen und seine Hand schoss bereits in der Intension, Kaylee zu helfen, nach vorn – da sprang die letzte Halterung des Metallrohrs krachend aus der Wand.
Die Regenrinne erzitterte. Dann löste sie sich von der Wand und bog sich, als wäre sie aus Papier. Vollkommen hilflos sah Ben dabei zu, wie der Albtraum Wirklichkeit wurde:
Kaylee verlor den Halt und stürzte in die Tiefe.
Ihr langer Mantel flatterte wie eine Fahne um sie, als die Schwerkraft sie erfasste und nach unten taumeln ließ. Wind schlug ihr ins Gesicht und um die Ohren.
DU NÄRRIN! DAS WIRST DU NICHT ÜBERLEBEN! LASS MICH...!
'NIEMALS!', donnerte sie wortlos, die kühle Stimme in ihrem Innern übertönend.
Der Boden kam in rasender Geschwindigkeit näher. Kaylees Magen drehte sich, ihr Atem stockte.
Das laute Brüllen von Ben rückte in die Ferne, selbst der Wind wurde still, als Kaylee mit letzter Kraft ihre rechte Hand nach vorne fahren ließ und ein komplexes Handzeichen machte.
Nur noch wenige Meter. Der Regen begleitete sie im freien Fall.
Dann begann die Welt um sie herum zu wabern. Die Wirklichkeit erzitterte regelrecht unter ihrem mystischen Befehl, als sie gröber, als sie es sonst tun würde, in das Geflecht der Realität griff und gewaltsam an deren Strängen zog. Ihr Herzschlag setzte aus.
Ein eiskalter Schauer mischte sich unter den scharf brennenden Schmerz, der sich durch ihren Körper schlang wie eine windende Schlange, als sich ihr Leib schließlich dem Zauber ergab. Knochen knackten, brachen und formten sich neu. Kaylee spürte, wie sich ihre Haut bis zum Zerreißen anspannte.
Ihr Körper war plötzlich zu groß für die Form, die der Zauber ihr aufzwang. Plötzlich durchstießen unzählige spitze, schwarze Federn ihre Haut und für den Bruchteil einer Sekunde wirkte ihre ganze Gestalt wie ein verzerrtes, verschwommenes und formloses Gebilde.
Die Magierin breitete die Arme aus und spürte, wie der Wind ihren Fall bremste. Dort, wo ihre Finger einst gewesen waren, tanzten nun lange Schwungfedern durch die Luft. Die Böen trafen auf die Schwingen ihrer neuen Form, rissen sie zur Seite, während Kaylee versuchte, Auftrieb zu finden und nicht weiter, gleich einem Stein, zu stürzen – doch sie war bereits dem Grund zu nahe gekommen. Selbst mit den Flügeln ihrer Vogelgestalt konnte sie den Sturz nicht genug bremsen.
Hart schlug sie auf die Wiese zur Seite des gepflasterten Hofes auf. Die Wucht presste ihr die Luft aus den kleinen Rabenlungen.
Der harte Aufprall zerschlug den Zauber gleich einem Hammerschlag. Lichter und Farben vermischten sich vor Kaylees Augen. Noch während sie sich mehrfach überschlug, verlor sie die Kontrolle über die Magie und die soeben frisch angenommene Form. Die Gestalt entglitt ihrem Geist. Schließlich taumelte Kaylee wieder als Mensch über den regennassen Rasen und blieb regungslos zwischen Gras und Erde liegen.
"Crowford!"
Bens Gedanken überschlugen sich wie der arme Vogel, der eben noch seine Gefährtin gewesen war. Letztendlich blieben sie so regungslos liegen wie Kaylees Körper tief unter ihnen. Alle Gefahr, alle Etikette war vergessen. Bens Welt erzitterte bei dem Anblick vor ihm, und er fühlte sich, als hätte eine Kugel seine Brust durchschlagen. Dann erklang das dumpfe Geräusch von sich biegendem Stahl und als der Doktor sich umwandte, konnte er durch Regen und Sturm erkennen, wie die beiden Bestien sich an den Stahlstreben des Sanatoriumsfenster zu schaffen machten. Er musste nach unten. Nein, SIE mussten nach unten. Sofort!
Bens Blick glitt den Rand des Daches entlang und fasste schließlich den Rest der Regenrinne ins Auge. "Da! Das Fallrohr!" Auch wenn die Dachrinne längst heruntergerissen war, schmiegte sich die lange, blecherne Röhre, welche das gesammelte Regenwasser nach unten beförderte, immer noch an das Gemäuer des Seitengebäudes und reichte daran entlang bis auf den Boden des Hofes. "Wir können daran bis nach unten klettern."
"Er... dieser Herr hat sich gerade... war ein... er hat... ist er...?"
Neben ihm zitterte das Mädchen und starrte auf den Mann, der unten am Boden lag. Ihr ganzer Körper bebte und ihr Mund stand unter dem offenkundigen Schock weit offen. Sie schien gar nicht zugehört zu haben – und Ben fehlte gerade der Nerv, nachsichtig zu sein.
"Miss Clarence!" Ben griff nach den Schultern der jungen Frau, dann mit einer Hand nach ihrem Kinn und lenkte ihren Blick auf sich. "Ich weiß, dass das alles sehr viel für Sie ist. Aber wir sind hier nicht in Sicherheit, verstehen Sie das? Diese Dinger werden uns jagen! Und hier oben sitzen wir förmlich auf dem Präsentierteller!"
Die Augen der jungen Frau wurden wieder größer und Panik stieg erneut in ihrem Innern auf. Ihre Wangen schienen noch bleicher zu werden, als zuvor schon und Ben konnte ihren anziehenden Puls an dem zarten Hals sehen, der wie ein flatternder Vogel unter der hellen Haut schlug.
Ihm ging es ähnlich – auch wenn er es nicht so offensichtlich zeigte. Vor seinem geistigen Auge sah er immer wieder Bilder von Wüstenstaubwolken aufblitzen und er konnte vermeintliche Schüsse hören, die in der Entfernung zu knallen schienen. Es kostete ihn eiserne Selbstbeherrschung, nicht immer wieder vor Schreck zusammenzuzucken. Auch nachdem er sich abgewandt hatte, sah er vor sich noch immer die arme Kaylee im Dreck liegen. Am Boden. Regungslos.
Hilflosigkeit. Er hatte oft genug versucht, zu vergessen, wie es sich anfühlte. Die Ohnmacht ob blanker Panik, den richtigen Schritt zu machen, geschweige denn überhaupt etwas zu tun, hatte er im Krieg viel zu oft zu spüren bekommen. Er hasste das Gefühl, nicht zu wissen, was er als Nächstes tun sollte; was ihnen aus dieser Hölle helfen könnte, und er verdammte sich dafür, dass er noch immer unter solch einer Entscheidungsparalyse stand und damit Leben riskierte.
Gott, verdammt, er war doch Militärarzt, konnte schießen, sprinten, kämpfen, heilen. Er hatte alle Kenntnisse, um dieser Lage Herr zu werden. Aber immer dann, wenn er eine Wahl treffen musste, die über Wohl und Wehe Anderer entschied... da wurde sein Hals trocken und er befand sich wieder im Wüstensand; tote Gefährten um ihn herum, allein und dem Tode nahe. Dort unten lag Kaylee am Boden, weil er ihr nicht helfen hatte können.
Bittere Übelkeit drückte sich in seinen Rachen.
Er musste zu seiner Partnerin. Sofort.
"Ich verspreche Ihnen, wir werden Ihnen alles erklären, wenn wir in Sicherheit sind. Aber jetzt müssen Sie mutig sein, Miss Clarence. Wir beschützen Sie. Aber Sie müssen mir dafür vertrauen."
Ein erstickter Laut, vielleicht ein Schluchzen, drängte sich aus der Kehle des jungen Mädchens. Ihr braunes Haar klebte vom Regen in ihrem Gesicht, an ihrem Hals und auch ihre Kleidung war vollkommen durchnässt. Ein Bild absoluten Jammers, das den Beschützerinstinkt in Ben wach rüttelte. Doch allen voran trieb die Sorge um Kaylees Wohlergehen, um den Zustand seiner Gefährtin, wie altes Treibholz auf der Oberfläche. Bens Finger zuckten unter dem Instinkt, sofort loszurennen, zusammen. Dann nickte Millicent endlich.
"I-In Ordnung", stammelte sie unsicher.
Ben aber war zufrieden damit. Es war keine Zeit für Zweifel oder Diskussionen. "Dann los. Ich klettere als Erstes herunter, um zu sehen, ob das Rohr mein Gewicht hält. Anschließend können Sie nachkommen."
"Oh Gott, wieder hinunter... A-Aber was, wenn ich... wenn ich auch falle?", keuchte Miss Clarence und ihr Blick flog erneut zu vermeintlichen jungen Mann, der vor ihren Augen in die Tiefe gestürzt war und nun dort am Boden lag.
Bens Magen fühlte sich an, als ob eine Faust hineinschlug. Das junge Ding stellte sich an und er musste jetzt entscheiden, ob das Leben seiner Partnerin Vorrang vor einer Zivilistin besaß. Die Zeit lief ihm davon und er musste eine Entscheidung treffen: Millicent motivieren oder sie ignorieren.
Sein Mund war trocken und seine Stimme rauer, als er antwortete: "Dann fange ich Sie, Miss Clarence. Versprochen."
Und Ben schwor sich, dieses Versprechen zu halten. Dann balancierte er vorsichtig, aber so schnell er konnte, die ersten Schritte auf dem Dach in Richtung der Regenrinne, die wie ein eisernes Seil am Gebäude entlang nach unten führte.
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