Kapitel 16 - Die Bräute
Jeder Muskel in Kaylees Körper war zum Zerreißen angespannt. Mit aller Kraft lehnte sie sich gegen die unsichtbaren Fesseln auf, die mit sanften Worten um ihren Leib geschlungen worden waren.
Doch nicht ein Finger konnte sich rühren.
Mit aufgerissenen Augen starrte Kaylee die beiden Kreaturen an. Wie eine Fliege in einem Spinnennetz, gefangen zwischen Todeskampf und Akzeptanz des Unabwendbaren.
Sie stand einfach da.
Regungslos.
Machtlos.
Panik schwelte in ihr an wie ein Luftballon.
Wie zwei Katzen schritten die beiden Geschöpfe der Nacht auf sie zu, jeden ihrer Schritte behutsam platziert, gemächlich, als hätten jene alle Zeit der Welt.
Kaylee hörte an dem Klang der Worte und Aussprache, dass jene sie verhöhnten. Auch, ohne dass Kaylee die fremdartige Sprache verstehen konnte.
Sie war nichts als Beute.
Ein kleiner, unbedeutsamer Mensch.
Diese Form von Geringschätzung stieß Kaylee fast übler auf als ihre eigene, überbordende Furcht. Das kokette Lachen der beiden klang falsch und verzerrt. Aber sobald Abscheu gegenüber den beiden Wesen aufbrandete, öffneten jene wieder ihre Lippen und Worte, süß und betörend, vertrieben jede Form von Aversion und Aggression.
Ihr Verstand verlor den Kampf mit jedem Wort der beiden Geschöpfe zunehmend mehr. Etwas tief in Kaylee wollte einfach aufgeben, die Augen schließen und nur dieser zuckersüßen Melodie aus fremdartigen Worten lauschen. Ihr war heiß und kalt zugleich und in ihr stieg die brennende Sehnsucht auf, sich den beiden Wesen einfach hinzugeben... ganz gleich, was sie mit ihr tun wollten.
Die Magierin spürte, wie ihr mit jedem Säuseln, das über die Lippen der berauschend schönen Frauen drang, die Macht über ihren Körper zunehmend entglitt. Die Finger ihrer linken Hand lösten sich und der Gehstock fiel mit einem hörbaren Klappern auf den Boden.
In diesem Moment war es, als drängte ein kühler Herbstwind die Stimmen beiseite. Kaylee vernahm das Rascheln von Laub, das Knacken von Zweigen. Dann eine vertraute Stimme, tief, tief in ihrem Verstand.
LAUF, KLEINER WOLF! WENN DU NICHT FLIEHST, FRESSEN SIE DICH!
Der Klang der Stimme ergoss sich wie eiskaltes Wasser über ihren Verstand. Sie zerriss das Netz, welches sich um die Magierin gelegt hatte, zerrte den betörenden, betäubenden Schleier beiseite und es war, als fiele ein Fels von Kaylees Brust und ließe sie endlich wieder aufatmen. Es geschah so plötzlich, dass die Magierin regelrecht zurücktaumelte, als hätte sie etwas gegen die Brust gestoßen. Keuchend und schwer atmend, stützte Kaylee sich für einen Augenblick an der Wand ab.
Den beiden Kreaturen war nicht entgangen, dass ihr Bann um Kaylee gebrochen war. Dementsprechend verwirrt blickten jene einander an.
DUMMES DING! WORAUF WARTEST DU!
Kaylee riss den Revolver hoch und drückte ab. Doch die Geschöpfe wichen blitzschnell aus. Ein Schuss bohrte sich in den Rahmen der Türe und der Knall hallte durch den ganzen Flur. Holz splitterte und dann traf der zweite Schuss die dunkelhaarige Kreatur in der Schulter. Binnen Millisekunden wühlte sich die Kugel durch schweren Stoff in ihre bleiche Haut. Der Aufprall riss ihren Arm kurz zurück. Doch dann stieß sie nur ein höhnendes, schallendes Lachen aus.
Kaylee wurde kreidebleich um die Nasenspitze.
Die Kugeln wirkten nicht.
'Natürlich nicht Du Idiotin', fauchte sie sich selbst in Gedanken an. 'Seit wann kann man Untote erschießen?'
"Crowford!", erklang plötzlich die vertraute Stimme von Doktor Archer hinter ihr. Dann donnerte ein weiterer Schuss durch den Gang. Die Kugel zischte zielsicher an Kaylees Kopf vorbei und traf die Braunhaarige der beiden Wesen – ohne wirklichen Einfluss auf jene zu nehmen. Ja, nicht einmal Blut floss aus der frischen Schusswunde.
Blitzschnell griff Kaylee nach dem fallen-gelassenen Gehstock und fuhr herum. "Geweihte Kugeln, Doktor! Wir benötigen geweihte Kugeln!", schrie Kaylee, halb befehlend, halb flehend. Adrenalin flutete ihre Körper und Kaylee rannte, so schnell sie ihre Beine trugen, den Gang entlang, in Richtung des Doktors.
Sie konnte das Mündungsfeuer sehen, als dieser einen weiteren Schuss auf ihre Verfolger abgab.
"Woher zum Teufel soll ich bitte jetzt geweihte Kugeln hernehmen!", schrie Ben mit ernster Stimme.
"Das Weihwasser!" Kaylee schrie Doktor Archer beinahe an. Wie konnte er in solch einer Situation als Sucher nicht auf diese Idee kommen? Herrgott, wie hatte er bitte den Krieg überlebt? "Verwenden Sie das verdammte Weihwasser!"
"Welches Weihwasser denn bitte? Glauben Sie, ich trage so etwas in meiner Hosentasche herum?"
Kaylee stöhnte tief, keuchte vor körperlicher Anstrengung und zerrte dann mit fahrigen Händen an ihrer Umhängetasche. Sie klappte diese auf, griff beherzt hinein und warf Benjamin mit aller Kraft eine kleine Kristallphiole entgegen.
Hinter ihr hörte Kaylee das wilde Kreischen der beiden Bestien. Aus dem Augenwinkel sah sie eine Bewegung an der Wand, dann eine an der Decke. Verflucht, das durfte doch nicht wahr sein! Die Kreaturen kletterten an den Wänden entlang, wie Eidechsen!
Auch Bens Augen weiteten sich in purem Entsetzen bei diesem Anblick. Als ob die verdammte Schwerkraft sie nicht scherte!
Eine der Kreaturen sprang auf Kaylee zu, bereit, sich auf die junge Frau zu werfen – dann schmetterte eine weitere Kugel das Biest zur Seite und gegen die Wand.
"Kommen Sie schon, Crowford! Schneller!", schrie Ben und wandte dann den Blick kurz über die Schulter. "Bleiben Sie im Zimmer, Miss Clarence!"
Das brachte Millicent Clarence dazu, noch weiter von der Tür zurückzuweichen. Ihr Gesicht zeigte die in ihr vorherrschende Furcht nur allzu deutlich. Sie wollte am liebsten fliehen, weglaufen und sich nicht wieder umdrehen. Doch wo und wohin? Das Zimmer war winzig und es gab kein Entkommen.
Kaylee taumelte inzwischen weiter vorwärts. Ihre Lungen brannten. Ihre Brust war ihr eng und hätte sie in diesem Moment Kapazität für einen abweichenden Gedanken erübrigen können, so hätte sie Benjamin Archer dafür verflucht, dass er mit seiner Warnung bezüglich Sprints mit den Verbänden um die Brust recht behalten hatte.
"Verdammt noch mal, Doktor, schießen Sie!", krächzte Kaylee heiser. Just in diesem Moment setzte eine der beiden weiblichen Kreaturen zum Sprung an und riss sie von den Beinen. Es presste jede Luft aus ihren Lungen, als Kaylee hart auf dem Boden aufschlug. Die langen Finger der Blonden bohrten sich schmerzhaft in ihre Schulter und Kaylee schrie Zeter und Mordio.
Mit einer ruckartigen Bewegung aus dem Handgelenk klappte Benjamin Archer die Patronentrommel seines Revolvers auf und schüttete den Inhalt der Flasche, die ihm zugeworfen worden war, hastig über die darin befindlichen Kugeln.
Weihwasser spritzte auf seine Haut und durchnässte seinen Ärmel. Mit einem raschen, geübten Handriff seiner Rechten drückte er die Trommel klickend wieder in den Korpus und richtete die Waffe aus.
Er atmete tief ein, zielte und konzentrierte sich.
Das Amulett unter seinem Hemd schien zu pulsieren, beinahe so, als ob es den Rhythmus seines Herzschlages imitieren wollte.
Sein Atem war ruhig.
Seine Hand sogar ruhiger.
Ein fernes Flüstern erhob sich, wie das Rauschen von Sand, und für einen kurzen Moment war es um Benjamin Archer still.
Kimme und Korn hatten sein Ziel im Visier.
"BEJAMIN!", brüllte Kaylee voller Pein und versuchte das Biest mit dem Gehstock irgendwie von sich zu halten. Gebleckte Zähne schnappten nach ihr wie ein tollwütiges Tier, die Kreatur pinnte sie auf dem Boden und presste die Luft aus ihrem Leib, wie aus einem Blasebalg.
Ihre linke Hand zitterte vor Schmerzen und der Belastung; denn das dunkle Mal und die unverheilte Wunde pulsierten heiß. Es fühlte sich an, als würde man Salz hineinrieseln. Die Kreatur über ihr war unmenschlich stark. Unter anderen Umständen und mit etwas mehr Zeit hätte jene ihr mit Sicherheit den Torso eingedrückt und ihn platzen lassen wie eine überreife Frucht. Doch dazu kam es nicht mehr...
Es war nur eine winzige Sekunde, der Bruchteil eines Augenblicks, doch für Ben zog es sich in die Länge, als verhakte sich ein Korn in der Öffnung einer Sanduhr. Dann spürte er einen Umschwung in der Luft.
Die Kälte, die in den Korridoren des Sanatoriums vorgeherrscht hatte, war mit einem Mal fort und wich erst sanfter Wärme, dann drückender Hitze. Ben schloss kurz die Augen, fühlte die Sonne der ägyptischen Wüste auf dem Gesicht und den Sand, der seine Wange kitzelte...
"Anubis, Ahakum ealaa 'aedayiy biquatika"¹ , murmelte er in der alten Sprache, die er selbst nicht kannte, welche sich aber wie von selbst auf seine Zunge legte.
Dann drückte er ab.
Ein Knall und die Kugel zischte davon.
Ben stieg der vertraute Geruch von Schießpulver in die Nase.
Dieses Mal hallte ein gellender Schrei durch den Gang. Laut und schrill, als die blonde Untote zurücktaumelte und sich das, bis eben noch von Hohn gezeichnete Gesicht, in eine wilde Fratze verwandelte.
Zischende Laute wie von einem Brenneisen erklangen von der frischen Schusswunde; die makellose Haut riss auf und splitterte und schien innerhalb weniger Sekunden um die Verletzung zu altern. Die Schönheit fiel von ihr ab, als zersprang eine Maske aus Porzellan und gab das groteske, unmenschliche Bild dahinter preis: Hohe, markante Wangenknochen und stechende Augen wie bei einem Raubvogel, bebende Nüstern, die langen, knochigen Finger mit blutverschmierten Klauen.
Die zweite Kreatur stieß einen wutentbrannten Schrei aus und setzte an, sich ebenfalls auf Kaylee zu stürzen, die noch immer am Boden kauerte. Die Klauen voraus, das Maul weit aufgerissen und die Fangzähne entblößt, sprang sie von der Decke auf ihre Beute zu.
Kaylees Finger glitten fahrig unter ihren Mantel. Dort erfühlte sie das vertraute Holz ihres Zauberstabes und spürte das Knistern, mit welchem das okkulte Artefakt reagierte. Die Magierin reckte die andere Hand nach vorn, Zeigefinger und Daumen gespreizt, als zielte sie mit einer Fingerpistole wie ein spielendes Kind auf ihr Ziel.
כוחות עליונים, אויב שלי, הוא רוצה להשתולל. להעניש אותו, לשבור אותו ולהפיל אותו ²
Dieses Mal war es Kaylee, die eine fremde Sprache anschlug. Die Silben reihten sich aneinander, formten verschlungene Worte mit harten Vokalen und herbem Klang. Vertraut, so als spräche Kaylee diese Worte jeden Tag, rollten jene von ihrer Zunge, klangen dabei exotisch und fremd. Sie hatte die Aussprache hunderte Male geübt: Eine komplexe, mächtige Zauberformel auf Hebräisch.
Mit einem Mal waberte die Luft vor ihren Fingern und ein gleißender Lichtblitz erhellte die Szenerie, als er auf das Biest zuschoss. Das magische Geschoss traf die Untote mitten in der Brust, riss jene gewaltsam aus der Flugbahn und schleuderte sie einige Meter von der Zaubernden fort.
Dies war ihre Chance! Während sich die beiden Biester vor Schmerzen wanden und durch die überraschende Wendung des Kampfes abgelenkt waren, verschaffte dies den Suchern die wertvollen Sekunden, in denen Kaylee die letzten Meter zu ihren Kameraden überbrückte.
Viel Zeit war ihnen jedoch nicht vergönnt; da rafften sich beide Kreaturen bereits wieder auf die Beine, die Augen glühend vor wildem Zorn und Blutdurst. Die Sucher hatten den beiden keinen tödlichen Schlag versetzt, sondern jene in wilde Rage getrieben.
Die Schwarzhaarige deutete mit einer ihrer langen Klauen auf die junge Magierin, fuhr sich dann mit dem Daumen über die Kehle und spuckte schwarzes, viskoses Blut aus. Diese Geste konnte selbst von einem Narren nicht missverstanden werden. Die Magierin kräuselte die Nase, bevor Kaylee gemeinsam mit Benjamin in das Zimmer hetzte und die Tür krachend ins Schloss schlug.
¹ Arabisch: „Anubis, Ahakum ealaa 'aedayiy biquatika!" - Richte über meine Feinde mit Deiner Kraft.
² Hebräisch: כוחות עליונים, אויב שלי, הוא רוצה להשתולל. להעניש אותו, לשבור אותו ולהפיל אותו - Höhere Mächte, mein Feind, er möchte wüten. Straft ihn, brecht ihn und bringt ihn zu Fall.
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