Zu viel Dialog
Liv zuckte vor ihm zurück. Dann vor sich selbst, weil es schwer war, auf die eigene Reaktion angemessen vorbereitet zu sein. Es war selbst dann ungewohnt, wenn man seinen Körper kannte, aber Liv war eine Versagerin.
Sie versagte gerade deshalb, so wie sie versagt hatte und versagen würde, weil sie sich so konstant falsch verhielt, dass sie versagte.
Aber Arthur vor ihr entschuldigte sich nicht, vielleicht wäre die junge Frau erleichtert gewesen, hätte er es getan, vielleicht hätte sie es wieder, erneut abgeschreckt.
"Ich..", wisperte sie dann ausreichend, starrte weg.
Und jetzt guckte er immer noch zu ihr.
"Mir war es einfach zu viel."
Sechs Wörter, nach denen Liv krampfhaft ein paar riesige Löffel Eis in sich hineinschaufelte, sodass sie fast gehustet hätte und sich dann dramatisch räusperte, um das Geräusch loszuwerden, was sonst ihre Kehle verlassen hätte.
Sie konnte sich nicht erinnern wie das Eis schmeckte, nur an Arthurs kurzen panischen Gesichtsausdruck. Vielleicht wollte er sich ja jetzt entschuldigen, das Gespräch vergessen, gehen, die Sache ruhen lassen. Die strahlende Sommersonne konnte seinen Nussbecher schmelzen lassen.
"Ich kann nicht gut mit Scherben, ich kann nicht gut mit Drama, ich kann nicht gut mit Menschen, ich kann nicht gut mit Blut!"
"Meinen Händen geht es wieder gut", meinte Arthur sanft. "Es war kein großer Schnitt, nur hier am Daumen." Er hielt ihn ihr hin und fast wäre sie zurückgezuckt, aber an der Hand war kein rotes Blut mehr, sondern ein kleines weißes Pflaster, das sich elegant um rissige Haut schlang und der Himmel war blau und die Sonne schien.
Gäbe es nie einen Tag, an dem sie damit aufhören könnte?
"Gut", erwiderte Liv monoton und auf einmal klang ihre Stimme kratzig.
"Es hat sich tatsächlich jemand um die Scherben gekümmert. Und für das Apfelmus zu zahlen war wirklich kein-"
"Wie viel", unterbrach Liv ihn beinahe hastig, kramte wieder in den Hosentaschen, kramte und kramte, bis sie meinte, ihre Finger versänken darin, sie wollte weg sein und weg gehen.
"Alles gut", meinte Arthur ein wenig später. "Es war nicht viel." Sie hatte sich ganz weggdreht und dann spähte er wieder zu ihr.
Atmen.
"Was ich eigentlich sagen wollte: verstehe ich."
Es wurde still. Der Lärm wich. Die Sonne schien. Irgendwohintenweitweg fuhren
Zwei Kinder mit dem Fahrrad davon.
Liv sagte etwas, aber würde nie wissen, was sie eigentlich gesagt hätte, weil in diesem Moment Arthurs Handy klingelte. Weil sie gelogen hätte, wenn sie nicht gesagt hätte, dass der laute Ton sie zusammenfahren ließ.
Jetzt war Arthur es, der in den Taschen kramte, fast panisch, hektisch. Sie wollte ihm sagen, dass er seine Finger darin nicht verlieren würde, egal, wie sehr er es versuchte.
Gleich darauf, hielt er es selbst in den Fingern, wischte mit zitternden Fingern darauf herum, er entschuldigte sich wieder, wieder, wieder bei Liv. Er nahm ab.
Manchmal kam Liv es so vor, wie als wären manche Dinge zu laut für einen Menschen. Diese Dinge hörte sie nicht, weil sie den ganzen Tag für sich saß, in der Wohnung, wo nur manchmal noch die Uhr klackerte.
Aber der Mann, der dann am Telefon blieb, der füllte die Stille mit Worten, die nicht lauter waren, nicht angenehmer, weil nichts hinter ihnen lag.
Er war zu laut. Liv hätte gerne Arthur angesehen, aber sie blickte nicht zu ihm, weil auf einmal er die Hände in sich verkrampfte.
Atmen, würde Liv raten, wüsste sie selbst, wie es funktionierte.
"Der Köter muss weg", fauchte der Mann am anderen Ende der Leitung, er klang auch hektisch, aufgebracht, zornig. Er war stumm und starr. Im Gegensatz zu Arthur konnte sie nicht sagen, wovor er sich fürchtete. Sie hörte ihn sprechen durch ein kleines Telefon und fragte sich, wie viel Arthur sein eigenes wert war. "Ich bin gerade erst von dem Seminar zurück - gerade erst - ", steigerte er sich in den Vortrag hinein. "Du hast gesagt, gesagt, gesagt!" Arthur sank in sich zusammen. "Du wolltest den Köter wegbringen, dass er nicht mehr drinnen ist. Das ist unsere gemeinsame Wohnung, nicht deine! Nach wie vor und so lange muss man - man muss - Kompromisse finden! Du siehst nur dich, immer nur dich!" Arthur sank in sich zusammen.
Er sagte "tut mir leid"
Er würde kommen. Er legt auf.
Liv war verwundert und verwirrt zur selben Zeit aufeinander, sie war so verwirrt, dass sie sich nicht sicher war, überhaupt mitzukommen.
Aber Arthur war es, der aufstand, so hastig und gedrückt. Vielleicht war er es jetzt, der gehen wollte, in sich verschwinden.
"Tut mir leid", meinte er, schulterzuckend. Liv sah ihn sinken. "Ich muss wirklich wieder los, ich-"
"Aber dein Eis", meinte sie fragend, auf die selbe Art und Weise, wie er fragen konnte. Sie wusste nicht, warum sie fragte. "Alles gut, das passt-" Seine dazu hektischen Gesten sollten wohl die Aussage verdeutlichen, die nicht ganz auf festen Beinen stand. "Dein Eis!", meinte Liv heftiger und nun wusste sie nicht einmal, wieso sie sich eigentlich aufregte. Worte zeigten Wirkung. Arthur zuckte. "Ich weiß auch nicht, es- Ich kann wiederkommen!" Liv verkrampfte sich. Jetzt war das alles schon wieder zu viel. "Ich kann nicht in der Eisdiele sitzen bleiben!" Arthur klang hohl. "Ich wohn' nicht weit weg von hier."
Und ohne darüber zu sprechen, wie als hätten sie ein gemeinsames Ziel standen nun Liv und Arthur auf. Arthur bückte sich nach seinem Rucksack. Liv warf ihren Becher weg. Eis schmeckte besser als erwartet.
Es war seltsam. Eigentlich kannten sie sich nicht. Laufen war einfach, solange man nicht wusste, wohin es ging.
Liv hatte weggewollt, jetzt sah sie diesem Fremden dabei zu, wie er seinen Nussbecher abbestellte.
Sie würde nicht zu ihm gehen.
Sie würde keinen Schritt näher gehen, als nötig. Aber aus irgendeinem irren, ganz absonderlichen Grund ging sie mit ihm.
Manchmal wusste sie, was sie wollte und in diesem Moment wusste sie es immerhin gut genug, um zu wissen, dass sie hier nicht bleiben konnte.
Sie könnte nachhause zurück. Aber in diesem Moment brachte sie es nicht fertig, in diesem Moment war jeder Schritt mechanisch.
Es hatte sich etwas zwischen ihnen verändert, als sie Arthurs erschrockenen Gesichtsausdruck gesehen hatte.
Liv trieb zu weit unten am Meeresgrund, als dass sie fähig gewesen wäre, jemandem einen Anker auszuwerfen. Aber was sie nicht mehr fertig brachte, war noch einen anderen sinken zu sehen. Sinken zu lassen.
Das Schicksal konnte so unendlich grausam sein.
"Sorry", murmelte dann Arthur in die Stille hinein, noch bevor Liv sagen konnte, was los war, fragen, noch bevor sie es überhaupt verstand. "Ich wollte diese ganze Situation nicht noch komplizierter machen."
Den Blick zur Seite, schulterzuckend verneinte Liv. Sie wiederholte das, was ihr im selben Augenblick noch einfiel, sie wusste gar nicht, ob es gut war, wie sie es betonte. Es war die Wahrheit. Es waren schlicht und ergreifend Fakten.
Vielleicht war sie froh, das Eiscafe verlassen zu haben. Einzig und allein Arthur zu verstehen schien in diesem Moment als das größte Bedürfnis.
"Es ist nicht wirklich kompliziert."
Alles an Arthurs Gesten auf ihren nächsten Satz deutete darauf hin, dass er der jungen Frau kein Wort abnahm, das ihren Mund verließ. "Welcher Köter genau?", wagte Liv sich dann einen Schritt weiter vor. Halb in der Erwartung, dass Arthur ihr genauso wenig antworten würde, wie sie es vorher bei ihm getan hatte. Vielleicht würde er schweigen. Und wenn er schwieg und wenn er ruhig blieb, wenn er nichts antworten wollte, war das okay. Weil sie sich nicht kannten. Liv wollte Arthur nicht sinken sehen.
Dass er antworten würde, so bereitwillig und ruhig, schien auf der anderen Seite nicht ganz das gewesen zu sein, was sie beide erwartet hätten. Selbst Arthurs Kopf floh so ruckartig hoch, wie als bereute er schon seine kaum gesprochenen Worte.
"Ich bin Tierarzt", erklärte er, nun mit halb zur Seite gedrehten Kopf, er starrte, überallhin nur nicht in Livs Augen hinein. "Seit etwa groben zwei Jahren besitze ich meine eigene Praxis, ich bin selbstständig und da kommen eigentlich alle möglichen Tiere."
Gedankenverloren nickte Liv. Was er sagte, ergab Sinn. In diesem kleinen Ort, in dem es alles gab, was man brauchte und in dem jeder jeden kannte, gab es irgendwo einen Tierarzt. Natürlich. Für alle. Und sie konnte sich ihn so gut vorstellen, wie er da in weißem, faltenlosen, blütenweißen
perfektem
Kittel stand. Man musste jemanden nicht gut genug kennen, um eine solche Einschätzung rein an seinem äußeren Wesen mit Leichtigkeit zu vollführen. Da sah die junge Frau ihn vor sich, wie er da stand, mit diesem Kittel und wie er mit so sanfter, ruhiger und bestimmter Stimme gleichzeitig alles akzeptierte, was sich ihm näherte. Wie er sich kümmerte, mit Sorgfalt und Würde, weil es das war, was ihm eben lag.
"Und?", fragte Liv weiter, ließ ihn weitersprechen, lauschte. "Manchmal kommt es vor, dass wir mit rumänischen Sheltern zusammenarbeiten, die überfüllt und schmutzig sind. Sie geraten allzuleicht an ihre Grenzen. Es ist möglich, über Internetinserate einen Hund zu adoptieren, den man eigentlich kaum kennt. Man muss dafür erfahren sein. Man weiß nie, was ihnen davor zugestoßen ist. Auf dem Weg zu ihren zukünftigen Familien kommen sie bei uns vorbei. Wir haben die Kapazitäten, uns um alles zu kümmern, was notwendig ist." Arthur räusperte sich kurz zwischen einzelnen Sätzen, dann zählte er auf. "Etwaige Impfungen, Chips, teilweise Quarantäne."
Laufen war erstaunlich leicht, wenn man darüber vergas und sich in Worte so tief flüchtete, dass Schritte langsamer und ruhiger wurden.
"Seit einem knappen Monat habe ich Fröschchen bei mir." Er nannte diesen Namen ohne Weiteres, während Liv ihr Bestes tat, um irgendwie mit allen Informationen umzugehen, blieb das kleinere Detail hängen. Es hoben sich ruckartig ihre Mundwinkel und fast geschockt starrte sie zur Seite.
"Wer bitte nennt seinen Hund- Hund- Fröschchen?" Arthur musste die Verwirrung in ihrer Stimme erkannt haben. "Eine Menge Leute", erwiderte er langsam. "Leitet sich ab vom Wort in ihrer eigenen Sprache. Es ist ein Kosename. Zwar ist sie kein ganz junger Welpe mehr, schon ein bisschen älter, aber was hängen bleibt, bleibt hängen." Tatsachen ließen ihn schlicht mit den Schultern zucken. Aber nur Momente später war da ein knappes Lächeln in seinem Gesicht. Eines von der Intensität, dass es auch Livs Schultern kurz lockerer werden ließ und ihr die Anspannung raubte. "Kennt man sie, dann ergibt es Sinn, woher der Name kommt, weil sie lebhaft ist, lebendig und-", er schwieg, "sie tut mir an jedem Tag meines Lebens gut."
"Aber kommen diese Hunde nicht zu Familien?" Liv war an einem kleinen Detail hängen geblieben. "Sie wollte niemand. Manchmal hat sie zu viel Energie und manchmal hat sie sich nicht ganz im Griff. Was Menschen fürchten, wollen sie nicht kennenlernen. Sie kam zu mir, um zu bleiben."
Dann liefen sie eine Weile weiter, Schritte reihten sich an Schritte. Keiner sah sich an. "Ich muss sie bloß holen", sagte Arthur in die Stille hinein. Liv stolperte. "Wer war der Mann am Telefon?"
Wieder war da etwas Erschrockenes in ihm, er sah weg, schrak zurück, wie als hätte man ihn in dem Moment einer Tat erwischt, die er unbedingt vermeiden wollte.
"Mein ehemaliger Freund. Tiere und er mögen sich nicht."
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