Ein paar Gedanken
Inzwischen war die junge Frau es gewohnt, müde zu sein. Denn egal, wie oft und lange sie schlief, wann sie erwachte und selbst, wenn sie danach wieder ins Bett ging, dann blieb diese gewisse bleierne Müdigkeit. Mal war nichts mehr dahinter, als bloß das eine Gefühl der Leere - dann wollte sie den Tag schon beenden, bevor er überhaupt angefangen hatte. Manchmal verbarg sich hinter dem Müdesein ein so starkes Gefühl der Traurigkeit, dass sie sich kaum rühren konnte. Auch dann blieb sie liegen. Sie blieb liegen, so lange wie es ging und sie stand auf, dann wenn es nötig war. Deswegen war es schwierig, den Tag noch Tag zu nennen, weil sie manchmal schlief bis es spät nachmittags war, weil es nichts mehr anderes gab, was man tun konnte, was sich dann noch lohnte.
Natürlich gab es auch selten andere Tage, an denen sie zumindest irgendwelche Dinge tat, nichts Bedeutendes, genug, um sie für ein bis zwei Stunden beschäftigt zu halten. Danach legte sie sich oft wieder hin, erschöpft davon, tun zu müssen, was sie tat, wenn, weil eigentlich nichts wirklich zu tun war. Weil Liv schon genug hatte, ohne überhaupt angefangen zu haben. Seit einem Monat ging sie hin und wieder zumindest zum Einkaufen vor die Tür, eben dann wenn es nötig war.
Was auch immer das heißen mochte.
Die andere Seite der Zeit verbrachte sie irgendwie wach. Wach bis zum Morgengrauen, wach bis die Augen nicht mehr offen zu halten waren. Wach und immer wieder wie ein kleiner grauer Geist über den selben Fotoalben, die unübersehbar, manchmal halb aufgeschlagen, auf der Sofalehne aufgetürmt waren. Die Finger immer wieder über dem kleinen roten Knopf auf dem Handy, um wenigstens noch einmal hören zu können, wie es gewesen war, als er noch da war.
Wenn sie ihn lachen hörte, dann lachte sie, bis sie dann weinte, so lange bis sie nicht mehr weinen konnte und bis sie nichts mehr denken konnte und selbst ihr eigener Name irgendwo verschwand.
Liv
war gut darin geworden, selbst ihre eigenen Freunde zu ignorieren. Sie alle sagten, dass das Leben weiterging, auch wenn noch lange nicht genügend Zeit vergangen war. Wie oft sie das auch sagten, war Liv nicht dumm, weswegen sie ganz genau sah, dass sie hinter vorgehaltener Hand ebenso immer noch ab und dann ein kleines Tränchen weinten. Fast wäre sie sauer gewesen, hätten sie es nicht getan. Aber die, die trösteten, sprachen zu viel über das, was sie im Moment nicht ertragen wollte, stellten Fragen über eben das, was sie nicht ertragen konnte, kamen zu nah. Die Wahrheit war aber wohl, dass viele von ihnen Freunden begonnen hatten, ohne sie weiterzuleben, sie erst spärlich und dann immer seltener und nur noch zögerlich zu gemeinsamen Treffen mitnahmen. Vielleicht wäre Liv dennoch nicht gekommen, weil sie nicht konnte, wollte, zu weit ging. Aber die Male, wo sie nicht mehr mal gefragt worden war, taten fast ein wenig mehr weh. Die Fotos auf Instagram, von gefüllten Gesichtern und gefüllten Herzen, die alle ein Lächeln im Gesicht trugen, gefüllte Bilder, wo sie nicht gut ausgesehen hätte, eben weil sie einfach momentan
zu traurig war.
Vielleicht war es ihre Schuld. Genauso wie alles andere, aber auch deswegen, weil sich Livs Nachrichten türmten, von Menschen, die ihr Mitgefühl auch lange nach
der B e e r d i g u n g
aussprechen wollten und gar nicht genug hatten davon. Die Besorgten gab es, die ausdrücklich danach fragten, wie es der Familie (ihr spezifisch) gerade ging und dann die ehrlichen Antworten etwas weniger akzeptieren wollten. Die, die direkt wissen wollten, wie es ihr ging. Wenn man sie nicht mehr sah, war es leicht ihre Existenz zu vergessen, hatte man erst einmal gar nicht geantwortet, verging die Zeit einfach so. Alles andere und jedes Wort wäre nicht gut genug gewesen, um zu erklären, verstehen zu lassen. Deswegen war es besser, vorerst zu schweigen.
Vielleicht ja, war es gerade deswegen, dass es schien, als hätte man vergessen, dass sie selbst nicht vor einem Jahr gestorben war, dass ihr Herz noch schlug, sie irgendwie vor sich hin lebte. Ein Jahr war nicht genug, um das Trauern sein zu lassen und in einem Jahr konnte man niemanden vergessen, den man auch dann liebte, wenn er hundert Mal starb.
Da in der kleinen grauen Wohnung, deren Wände man zu anderen Zeiten blau gefärbt hatte, im siebten Stock irgendeines Hochhauses, wo es glücklicherweise einen Aufzug gab. Da in der kleinen grauen Wohnung konnte man die Türe mit Ruck zuschmeißen, auch wenn der Nachklang im Treppenhaus noch lange wiederhallte. In dieser kleinen Wohnung, die sich von außen nicht von allen anderen unterschied, machten ein Handventilator und
dicht
geschlossene
Fensterläden
es möglich, den Sommer zu vergessen und nicht einmal die Sonne hineinzulassen.
Die kleine graue Wohnung war zu einem Anblick geworden, den man der Außenwelt ersparen wollte.
Alleine.
Jetzt plötzlich war Liv allein und einsam in grauer lauter Stille, die fortwährend anhielt, es sei denn, es war, dass der kleine quietschgelbe Kanarienvogel einmal sang - Ironie ohne jeden Anlass, dass Lucian ihn Pünktchen genannt hatte.
Pünktchen mit den weichen gelben Federn stand in einem Käfig neben dem Fensterbrett und hatte kaum weniger als sie, zwei Stangen und ein Blick gesäumt von Gitterstäben in die Ferne.
Seitdem Liv sich notorisch weigerte, die Rollläden hochzulassen, war er ebenfalls ein wenig stiller geworden.
Gerade fütterte sie ihn, was sie zumindest regelmäßig versuchte, wenn sie es nicht doch ab und dann vergaß. Weil sie es sich nicht verziehen hätte, hätte sie es nicht getan, schüttelte sie gelb-braune Körner in den Napf an der Seite, bemüht ihm dabei auszuweichen. Die Plastiktüte hatte geraschelt, als sie sie zurück gestellt hatte, es war schwer gewesen, ein bisschen Inhalt aus ihr herauszubefördern. Indizien, die dafür sprachen, dass sie sich zunehmend dem Ende zuneigte. Der Vogel Pünktchen war konstant Lucians Sache gewesen, der ihn vergöttert hatte, für Liv tat er nicht mehr, als sie seit ein paar Augenblicken schwungvoll aus dem Bett geholt zu haben.
Er konnte diese Abfolge von kurzen Tschiep-Lauten, die zumindest für eine gewisse Dankbarkeit sprachen, aber heute schwieg er auch so wie sie. Pünktchen steckte seinen Schnabel tief in den Napf.
Sie sahen sich nicht an.
Dann sah Liv zur Küchenuhr hinüber, deren leichtes Klackern ebenfalls für gelegentliche Geräusche sorgte. Es war schon deutlich Nachmittag und wie viel genau wollte sie bei genauerem Nachdenken nicht zwangsläufig wissen.
Da sie sich irgendwie erbärmlich dabei vorkam, noch Augenblicke länger in dem ebenso blauen Schlafanzug zuzubringen, setzte Liv Schritt für Schritt einen Fuß nach dem anderen in das kleine Bad, was Dusche, Toilette und Waschbecken kaum mehr als auf wenigen Quadratmetern behandelte. Das Leben war ein bisschen anstrengend geworden, jeder Handgriff war ein bisschen anstrengend geworden.
Zeitlupe.
Mit den Fingern glättete sie sich die schulterlangen braunen Haare, griff nach der Haarbürste.
Zähneputzen.
Duschen.
(Manchmal im Optimalfall)
Etwas anziehen.
Ohne Karomuster.
Die Jeans, deren Stoff sich recht danach anfühlte, dass sie durchaus lang getragen worden war.
Dann seufzte Liv tief auf.
Das Futter war leer und da hatte sie sowieso nichts. Vielleicht wäre es gut, etwas zu essen, auch wenn der generelle Hunger noch auf sich warten ließ.
Und so würde heute einer dieser anderen Tage werden, wo sie sich vor die Tür bewegte. Das war etwas, was die junge Frau lieber vermieden hätte. Etwas, vor dem sie sich geradezu fürchtete. Denn Liv wollte ebenso wenig jetzt mit irgendjemandem sprechen, jemanden kennenlernen. Zu dieser Zeit war immer irgendjemand unterwegs, der da anderer Meinung war. Man würde Statements zur Situation einfordern, von Erfahrungsberichten erzählen, wollte man besonders viel Aufmerksamkeit.
Am liebsten wäre sie stehen geblieben, dann sitzen, dann wieder zurück ins Bett. Auch diese Gedanken machten jeden Schritt zur Tür nochmal aufs Neue schwieriger. Laufen war viel schwieriger, wenn man wusste, wohin es ging.
Es dauerte nochmals Minuten, zumindest fiel es Liv schwer, die Zeitspanne zu definieren, die dazwischen lag, sich Sandalen anzuziehen und dann tatsächlich die Initiative zu ergreifen
und endlich - dem Himmel und allen Dingen dazwischen gedankt, stand sie vor der Tür.
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