#19 Big brother's arms
"Sie müssen Arbeit und Privates trennen", sagte ich und zeigte auf das Bild auf seinem Schreibtisch, das eine Frau und zwei Kinder abbildete.
"Das tue ich. Dort ist mein Privatleben, hier auf der Couch und Ihnen gegenüber ist meine Arbeit."
"So einfach? In einem Raum? Warum kann ich es dann nicht?"
"Als was arbeiten Sie denn?"
"Ich habe Musik gemacht, ein paar Lieder für ihn geschrieben. Und immer an ihn gedacht."
"Konnten Sie darin wenigstens Ruhe finden?"
Ich lachte knapp. "Es war meine Arbeit, egal ob ich darin Ruhe fand, ich musste sie weiter machen, aber... ja, ich hatte das Gefühl, dass ich ihm so näher war. Ach, was sage ich, das Ergebnis würde ihm näher sein. Auch wenn es den Umständen entsprechend unmöglich ist, hört er es vielleicht und fühlt sich nicht allein dort, wo er jetzt ist. Dass er Melodien hat, bei denen er sich aufgehoben fühlt."
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Pov Jimin
Leise trottete ich hinter Jin her, darauf bedacht, keinen Laut von mir zu geben. Ich wollte nicht, dass er das Gespräch anfing, wollte mich nicht erklären oder in irgendeiner Hinsicht meine Gedanken offenbaren, obwohl ich wusste, dass es helfen würde. Ich hatte eingesehen, dass ich reden und erklären musste, damit mich andere verstehen, dass ich sagen musste, wenn mir etwas nicht passte, aber das war leichter gesagt als getan. Ich fühlte mich nur noch schuldig und miserabel, ich machte es Jin und den anderen so schwer.
Ich achtete darauf, nicht schneller als mein Vordermann zu laufen, was sich jedoch als schwer erwies. Er ging immer langsamer, je näher wir unserem Haus kamen, in einem normalen Tempo wären wir schon längst dort gewesen. Wir beide wussten, dass wir miteinander sprechen sollten, aber uns beiden war nicht klar, wie wir anfangen sollten und was die richtigen Wörter waren. Das kam auch daher, dass wir nicht wussten, was im Kopf des jeweils anderen vorging. Ich vermutete, dass er traurig war, vielleicht Angst hatte, aber ich konnte nicht wissen, ob sich hinter dieser leidenden Fassade noch mehr befand als nur das.
Dann blieb der ältere vor mir stehen, im selben Atemzug tat ich es ihm gleich. Er ließ den Kopf hängen und seine Schultern sanken, da er ausatmete. Es stand fast schon fest, dass er die Konversation anfangen und leiten würde, ich wartete nur noch darauf. Viel lieber wäre ich losgestürmt, hätte mich in meinem Bett vergraben und meine nächtliche Routine durchgeführt, die daraus bestand, zu versuchen einzuschlafen, zu viel an Yoongi zu denken und mich schlussendlich in den Schlaf zu weinen. Aber ich musste wohl akzeptieren, dass ich vor manchen Dingen nicht weglaufen konnte. Besonders nicht vor Menschen.
"Also", Jin drehte sich schlussendlich zu mir um, die Hände tief in den Jackentaschen vergraben und sein Blick überall, nur nicht auf meinen Augen, "Lass uns reden." Ich nickte zaghaft, verhielt mich immer noch still. Nach all den Jahren wusste Jin, dass ich selten von alleine anfing zu reden, doch auch er ließ sich Zeit, sodass ich fast schon befürchtete, wir würden in dieser unangenehmen Stille für immer verweilen. Ich hatte nicht mal eine Ahnung, was genau wir bereden sollten oder was helfen sollte, um die Spannung zwischen uns zu mildern. In Gedanken versunken ließ ich den Kopf fallen, es führte mich wieder zu Yoongi. Ich fragte mich, was passiert wäre, wenn er jetzt neben mir gestanden hätte. Wenn er um die Ecke gekommen wäre und mich aus dieser unangenehmen Situation gerettet hätte. Und ich fragte mich, wie ich reagieren würde. Was würde ich zuerst tun? Ihn küssen? Umarmen? Ihn vielleicht sogar anschreien, weil-
"Jimin?" Durch den plötzlichen Zug in die Wirklichkeit schreckte ich hoch und starrte Jin mit großen Augen an. Die Augen des älteren waren rot und immer noch glasig, die Farbe seines Gesichtes hatte sich immer noch nicht verändert, sodass mein Starren in ein mitleidiges schauen überging.
"Kannst du mich bitte umarmen?"
Mein Herz rutschte mir in die Hose und nie hatte ich beim Anblick des älteren so schnell gehandelt als jetzt. Er hatte mich noch nie um eine Umarmung gebeten. Wenn er mich mal umarmte, war es ihm spaßeshalber egal, ob ich es wollte und ließ mich nicht los, selbst wenn ich auf ihn einschlug. Aber jetzt fragte er und jetzt realisierte ich wirklich, wie unfassbar unsicher er doch gewesen sein musste, die ganze Zeit über. Vor mir hatte er nie mit Depressionen, Selbsthass oder Selbstverletzung zu tun gehabt, er wusste nicht, wie er sich um jemanden kümmerte, der darunter litt und trotzdem tat er sein bestes, was ich als nervig oder nicht genug angesehen und betitelt hatte.
Während sich meine Arme um ihn schlossen und mein Gesicht in seiner Halsbeuge platz fand, hörte ich ihn leise wimmern, auch wenn er es versuchte zu unterdrücken. Mein Herz tat weh, sehr weh, vor allem weil ich wusste, dass Jins Herzschmerz durch mich verursacht wurde. Ich hatte ihm weh getan, ich war daran schuld, dass er weinte und sich an mich klammerte.
"Ich hatte so Angst um dich. Ich hatte so Angst dich zu verlieren." Er schluchzte leise und mir kamen selbst die Tränen. So weit ich mich erinnern konnte, war das das erste mal, dass ich ihn wirklich weinen sah. "Ich, Ich..." Ich versuchte eine Entschuldigung heraus zu bekommen, aber meine Kehle war zu trocken. "Das war schon immer meine größte Angst und jetzt bin ich sogar der Grund, warum ich dich hätte verlieren können."
Ich spürte, wie sich seine Finger in den Stoff meines Pullovers krallten und er mich an sich drückte, als würde ich ihm entrissen werden und er sich krampfhaft dagegen zu wehren versuchte. Was ich auch noch spürte, war, wie sehr mich dieser Mensch liebte, brauchte und sich um mich sorgte. Jin hatte immer schon eine Maske getragen, wenn es um negative Emotionen ging. Er wollte für uns eine Person sein, an dessen Seite wir uns ausruhen konnten, wenn wir müde vom Leben waren, jemand, der ein sicherer Stützpfeiler war, selbst wenn es stürmte. Wut schien bei ihm beinahe nicht zu existieren und Trauer versuchte er immer mit einer lockeren Art zu überspielen, er versteckte seine Gefühle hinter einer hübschen Fassade und deswegen tat es so weh, dass er nun vor mir stand und weinte.
"Es tut mir leid", hauchte ich ihm entgegen, weil es das wirklich tat. Vielleicht hatte es das vorhin nicht, aber jetzt hasste ich mich dafür, so gehandelt zu haben. Ich hätte mit ihnen reden können, sollen, aber stattdessen war ich weg gerannt, hatte nichts anderes getan, als Yoongis Angewohnheit weiterzuführen.
"Das muss es nicht", sagte der braunhaarige jämmerlich. "Ich werfe dir nicht vor, dass du flüchten wolltest. Ich weiß ja, dass du vor einem Therapeuten immer Angst hattest und ich habe dich einfach so rücksichtslos damit konfrontiert. Ich bin es, dem es leid tut, wirklich."
"Aber du wolltest doch nur helfen", warf ich ein.
"Das stimmt, aber es war der falsche Ansatz. Ich weiß nicht mal, was dich wirklich traurig macht und dich wieder in so eine Stimmung gebracht hat. Ohne Boden kann man auch keine Pflanze pflanzen."
Ich hatte die Chance ihm zu sagen, warum ich immer noch nicht glücklich war, aber trotzdem traute ich mich nicht, es auszusprechen. Es war nicht die Angst vor seiner Reaktion, es konnte nicht viel schlimmer werden als es schon war, ich wusste nicht, warum ich so sehr zögerte. Ich wollte mir nicht wieder das Wort nehmen lassen, ich hatte zu lange den Mund gehalten und über mein Leid geschwiegen. Also nahm ich all meinen Mut zusammen und sprach ihn aus.
"Yoongi", flüsterte ich. Jins Griff wurde stärker und ich spürte die Anspannung in seinem Körper wachsen. Ich tat, was ich für richtig hielt und kuschelte mich weiter an seinen Körper. Ich wollte ihm zeigen, dass uns dieser Name, dieser Mensch nicht auseinander bringen würde, dass er nicht zwischen uns stand. "Hyung, ich vermisse ihn so sehr", fuhr ich im Flüsterton fort, "und ich kann ihn nicht vergessen, ich will es nicht mal."
"Du willst ihn nicht vergessen?", fragte Jin nach, wollte sich versichern. Er klang nicht wirklich anders, worüber ich dankbar war. Ich nickte deutlich und er drückte mich fester an sich, seufzte. "Hast du ihn schon vergessen?", fragte ich danach, als wären erst ein paar Wochen seit seinem Verschwinden vergangen. Ich wusste gar nicht mehr, wie es war, mit ihm zu leben. In meinem jetzigen Zuhause hatte ich keine Nacht mit ihm verbracht, keinen Tag und nur ein paar Minuten, als wir uns die Wohnung angesehen hatten. Als sie noch nicht eingerichtet und gefüllt mit Kälte war. Wirklich Wärme hatte sie mit den Jahren nicht dazu bekommen und wirklich belebt fühlte sie sich auch nicht an. Aber ich wollte wissen, was Jin über ihn dachte, ob er überhaupt noch über ihn nachdachte.
"Nein", kam es trocken vom älteren. "Aber ich würde gerne darüber vergessen, wie sehr er dich verletzt hat." Er schniefte.
"Aber er hat mich glücklich gemacht", hauchte ich niedergeschlagen und bemerkte die Welle an Sehnsucht, die mich wieder versuchte zu ertränken.
"Ich will nicht wahrhaben, dass er dich mit seinem Verhalten so zerstört hat, aber du ihn trotzdem brauchst, um komplett zu sein." Er klang gekränkt, als würde es eine der Fragen sein, die ihn Nachts wach hielten.
"Hast du noch nichts von wahrer Liebe gehört?", fragte ich ruhig und lächelte schwach, den Fakt verdrängend, dass mich Liebe mehr als einmal umgebracht und leiden gelassen hatte, und so tuend, als wäre Liebe so undenkbar schön. An diesem Punkt schien Liebe wie das Wasser; überlebensnotwendig, aber stark genug, dich ertrinken zu lassen, lässt du dich einmal nach unten ziehen.
"Wenn es wahre Liebe war, warum hat sie dann so schmerzhaft geendet?"
"Wahre Liebe hat kein Ende, siehst du doch."
Ich spürte, dass der ältere über mir lächelte und ich musste zugeben, dass ich mich in seinen Armen mehr als wohlfühlte. Ich sollte mehr Menschen umarmen, Umarmungen waren toll, wenn man sich einsam fühlte.
"Ich denke", began ich mit einem besseren Gefühl, "wir haben uns alle falsch verhalten. Ihr hättet mich nicht wie ein unberechenbares Kind behandeln und versuchen sollen, alles negative von mir fernzuhalten. Denn mir war wohl bewusst, was passiert war und ich wusste auch, wie suizidgefährdet ich war, aber dass mir alle Möglichkeiten zur Selbstverletzung genommen wurden, hat den Drang nur noch stärker gemacht." Jin wusste gar nicht, dass ich in der Zeit kurz nach Yoongis Verschwinden nicht nur leidend herum gesessen hatte. Er hatte mich zwanghaft vom Schneiden abgebracht, aber die blauen Flecken an meinen Beinen oder anderen Körperteilen hatte ich ihn nicht sehen lassen. Es gab immer einen Weg, sich selbst Schaden zuzufügen, selbst wenn es nur der Gedanke an etwas zerstörerisches war.
"Ich weiß, ihr wolltet bezwecken, dass ich nicht mehr an ihn denke, wenn sein Name nicht mehr ausgesprochen wird, aber dass wir nicht darüber reden, heißt nicht, dass ich nicht mehr an ihn denke. Ich werde wahrscheinlich immer an ihn denken und das gibt mir die Angst, dass ich nie glücklich werden werde."
"Es tut mir wirklich leid, dass ich die ganze Zeit über falsch gehandelt habe. Ich dachte, du müsstest über ihn hinweg kommen und ich wollte dich diesen ganzen Schmerz vergessen lassen. Aber ich habe nicht berücksichtigt, dass man etwas nicht vergessen sondern nur verdrängen kann, demnach wäre es sowieso irgendwann wieder gekommen. Ich muss mich damit abfinden, dass ich allein dich nicht vor all dem bewahren kann, auch wenn ich das von Anfang an immer wollte und versucht habe."
Er drückte mich von sich, um mich bei den Schultern nehmen und ansehen zu können. "Du bist für mich nunmal wie ein kleiner Bruder und ich werde nie aufhören, mich wie ein Elternteil um dich zu kümmern, egal was du davon hälst. Und du wirst irgendwann glücklich werden, daran glaube ich." Sein lächeln war ehrlich und herzerwärmend. "Aber was wenn nicht?", zweifelte ich.
"Du wirst glücklich, vielleicht nicht morgen, vielleicht nicht den Tag danach, aber es wird der Tag kommen, an dem du mir in die Augen siehst und sagst "Hyung, ich bin glücklich", dieser Tag wird kommen, ganz sicher, denn kein Unwetter hält für immer an."
"Ich sitze aber schon so lange in einer Fütze aus Leid und Traurigkeit."
"Aber irgendwann hören auch die Wolken auf zu weinen und ziehen weiter, machen Platz, um die Sonne scheinen zu lassen."
"Warum bist du so positiv?"
Mit einem mal verschwand sein Lächeln und ein Kummer füllte seinen Blick. "Ich will dich nicht verlieren", sagte er. "Ich will nicht daran versagen, dich glücklich zu machen und zu unterstützen. Ich weiß nicht, wie groß der Schmerz hier drin wirklich ist", er pikste meine Brust leicht mit seinem Zeigefinger, da wo mein Herz lag, "oder hier", er tippte meinen Kopf an, "aber ich würde ihn sofort auf mich nehmen, würde es dich glücklich machen. Ich war schon einmal kurz davor dich zu verlieren, nur weil ich damals nicht wieder nach Hause gekommen bin und der Gedanke daran, dich für immer zu verlieren, hat mich krank gemacht. Du weißt, wie du alles beenden kannst und dem bewusst zu sein, ist so verdammt gruselig, weil du verbluten könntest, während ich friedlich schlafe. Ich werde alles daran setzen, nicht noch einmal zu versagen."
Er zog mich wieder nah an sich, womöglich war er wieder kurz vor einem Tränenausbruch. Genau wie ich. "Du würdest mich also vermissen?", kam es über meine trockenen Lippen.
"Ohne dich würde ich nicht mehr glücklich werden können."
"Aber du hast doch die anderen."
"Aber niemand ist so wie du. Niemand von ihnen hat diese Geschichte, die ich mit dir durchlebt und überstanden habe, niemand könnte das Loch füllen, das dein Verlust graben würde. Wie oft muss ich noch sagen, dass ich dich sehr doll lieb habe? Ich habe schon zwei normale Freunde verloren, dich auch noch würde ich nicht überleben."
"Ich habe dich auch lieb."
Vielleicht war das wahr. Vielleicht würde er dann so sehr leiden, wie ich es tat und vielleicht bedeutete ich ihm wirklich mehr als die anderen. Auch wenn ich diese Einstellung nicht annehmen wollte, hatte ich den Funken Hoffnung, dass ich alles irgendwann überstanden haben würde. Trotzdem wollte ich, dass dies mit Yoongi geschah. Ein Leben ohne ihn schien so sinnlos und trist, dass es mich nicht mehr reizte. Ich war noch jung, vor mir lag noch viel, aber mich interessierten die Erlebnisse auf dem Weg des Lebens nicht, würde Yoongi nicht das Ziel sein oder mich begleiten.
"Oh so, your wounds they show
I know you have never felt so alone
But hold on, head up, be strong
Oh hold on, hold on until you hear them come
Here they come, oh
Take an angel by the wings
Beg her now for anything
Beg her now for one more day
Take an angel by the wings
Time to tell her everything
Ask her for the strength to stay"
- Angel By The Wings (Sia)
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[Danke für's Voten und Kommentieren]
Bald wird es spannender, i swear
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