20
Tom hielt sein Versprechen und sagte während des ganzen Fußweges kein Wort. Stattdessen stellte er immer wieder durch einen kurzen Blick auf mich sicher, dass es mir besser ging, während ich mich auf meine Atmung konzentrierte und versuchte, meine Emotionen im Zaum zu halten.
Ab und zu schielte auch ich zu meinem ehemals besten Freund und jedes Mal schossen mir die gleichen Fragen durch den Kopf: Wieso ist er damals einfach so abgehauen, ohne mit mir darüber zu sprechen? Wieso will er jetzt plötzlich doch wieder Kontakt? Und wieso reagierte ich so auf ihn?
Ich war zwar immer noch verletzt und wütend auf ihn, aber zugleich war es auch ein schönes Gefühl zu wissen, dass er sich immer noch um mich sorgte, und dass ich ihm nicht völlig egal war.
Vor Louises Haus blieb ich stehen. "Hier wären wir", erklärte ich, ohne ihn dabei anzusehen.
"Okay!" Auch Tom hielt seinen Blick gesenkt. Er vergrub seine Hände in den Hosentaschen seiner Jeans-Shorts.
"Ähm, danke für's Begleiten, schätze ich..."
"Kein Ding! Geht es dir wieder besser?"
"Mhm!", nickte ich.
"Okay! Na dann werde ich..."
Noch bevor Tom seinen Satz beenden konnte, ging die Haustür des kleinen Häuschens auf und Louise stand im Türrahmen. "Hallo ihr zwei, kommt herein! Ich habe bereits Saft und Kekse bereitgestellt."
"Ähm, also ich denke, ich werde wieder nach Hause...", begann Tom, aber Louises ließ keine Ausreden gelten.
"Folgt mir!" Mit diesen Worten verschwand sie wieder im Haus.
Unsicher schaute Tom mich an, aber ich zuckte nur mit den Schultern und folgte der alten Dame in den Garten. Also tat Tom es mir gleich. Auf der Veranda angekommen, stand wie gewohnt ein Teller mit Keksen und ein Krug Orangensaft auf dem Tisch. Drei Gläser waren ebenfalls bereits bereitgestellt. Als er die drei Gläser erspähte, schaute Tom fragend zwischen Louise und mir hin und her.
Durch ihre violette Brille schaute Louise ihren Gast lächelnd an und deutete ihm an, sich zu setzen, ehe auch sie sich gegenüber von mir an den Tisch setzte. Ich nahm den Krug und schenkte uns Orangensaft ein.
"Schön, dass du heute Verstärkung mitgebracht hast, Mia! Tom, richtig?"
"Ähm, ja!", antwortete er überrascht und blickte erneut fragend in meine Richtung.
Ich hingegen musterte mein Gegenüber, das mich mit ihren grünen Augen anschaute, dabei sanft lächelte und mir kurz zu zwinkerte. Wissend presste ich meine Lippen aufeinander und griff nach meinem Glas.
Dann wandte sich Louise an Tom. "Ich weiß nicht, ob dir Mia bereits von unserem Plan erzählt hat. Ich habe mir überlegt, ich würde gerne meinen Garten etwas auf Vordermann bringen. Das heißt, alle alten Pflanzen müssen raus und neue müssen gepflanzt werden. Den Pavillon", sie deutete demonstrativ auf diesen, der etwas weiter hinten im Garten stand, "würde ich ebenfalls gerne neu streichen. Was sagst du? Würdest du uns bei der Arbeit behilflich sein? Zu dritt klappt das bestimmt schneller. Wobei ich euch leider keine große Hilfe sein werde." Sie lächelte entschuldigend. "Natürlich wäre das alles nicht umsonst." Louise lachte auf. "Du kannst dir das Ganze ja inzwischen durch den Kopf gehen lassen. Ich bin gleich wieder da, dann würde ich dir den genauen Plan zeigen und alles besprechen, okay?"
Tom, der bis jetzt kein Wort gesagt hatte, nickte ihr freundlich zu und schielte dabei, immer noch etwas verwirrt und überrumpelt, einen Augenblick zu mir. Louise stand auf. "Ich möchte dir gerne, bevor wir loslegen, etwas im Wohnzimmer zeigen, Mia. Kommst du kurz mit?"
Froh darüber, mich Toms Blick entziehen zu können, folgte ich Louise.
"Du wusstest, dass Tom mich heute begleiten wird, richtig?", warf ich die Frage in den Raum, als wir das Wohnzimmer erreicht hatten, ohne dass ich eine Antwort erwartete, da ich diese schon kannte.
"Ist das ein Problem für dich, wenn Tom uns etwas unter die Arme greift? Er scheint ein netter junger Mann zu sein und ich denke, dass wir seine Hilfe gut brauchen könnten, oder?"
Wie sie zu dieser Einschätzung kam, nachdem Tom kaum ein Wort gesprochen hatte, war mir fraglich, aber ich wusste, dass sie Recht hatte. Und ich wusste auch, dass es nicht mir oblag, darüber zu entscheiden, immerhin war es Louises Gartenprojekt und sie hatte Recht, für mich alleine war es zu viel Arbeit. Vor allem, da ich mich zudem noch auf das Kontrollieren der Visionen konzentrieren wollte.
"Du hast Recht, etwas Hilfe mit deinem Garten könnte bestimmt nicht schaden." Solange es nur dabei blieb, ergänzte ich in meinem Kopf.
Lächelnd nickte Louise. "Gut, dann kann ich ihn gleich auf Stand bringen. Inzwischen wollte ich dir aber meine Bibliothek zeigen."
Erst in diesem Moment kam ich dazu, mich im Raum umzusehen. Der rustikale, dunkle Holzboden aus Eiche stand im Kontrast zu den weißen Wänden und den großen Fenstern, welche den Raum durch das warme Sonnenlicht erhellten. Der Duft der Eichenbretter löste in mir eine heimelige Stimmung aus und obwohl es Hochsommer war, sehnte ich mich danach, den offenen Holzofen, den ich zu meiner Rechten erspähte, zu entzünden, mich in eine warme Decke, bei einer Tasse Tee einzukuscheln und eines der vielen Bücher, die ich an der Regalwand zu meiner Linken vernahm, zu durchstöbern.
Der Raum wirkte offen und zugleich gemütlich. Er bot ausreichend Platz, um seinen Gedanken freien Lauf zu lassen, gerade genug, um sich darin nicht zu verlieren.
Louise trat an eines der drei aneinandergereihten Bücherregale und strich mit ihren Fingern sanft darüber. Dieser Geste nach zu urteilen, behandelte sie ihre Bücher wie kleine Schätze und genau so sahen sie für mich auch aus. Langsam trat auch ich näher an die Regale heran und ließ meinen Blick über die Geschichtenträger schweifen. Einige Bücher sahen aus, als ob sie schon hunderte Jahre alt waren, andere hingegen waren kaum ein paar Jahre alt. Bei dem rechten der drei Regale blieb sie stehen.
"Hier, im obersten Regalbrett findest du alte Bücher, teilweise sogar aus dem 17. Jahrhundert. Damals wurde alles genau dokumentiert, was mit unseren Aufgaben zu tun hatte. Du findest darin alle wichtigen Informationen zu den Keepern, aber auch zu den anderen."
"Zu den anderen?", fragte ich verwirrt. "Es gibt noch andere? Aber..."
Neben dem Regal zog sie einen Holzhocker hervor und blieb nachdenklich davor stehen. Leise seufzte sie. "Ich denke, es ist besser, wenn ich mit meinen wackeligen Beinen heute nicht zu viel riskiere. Ich lasse dich hier einfach selbst ein bisschen stöbern." Sie lächelte traurig.
"Und ich darf hier wirklich alles durchsehen? Auch...", ich zeigte auf das untere Regalbrett, um genau zu sein auf eine Reihe an Büchern, mit einem smaragdgrünen Ledereinband. Auf den Buchrücken waren Jahreszahlen eingetragen, beginnend von 1961 bis 1996. Es sah für mich danach aus, als wären es...
"Oh, meine alten Tagebücher?", sie lachte laut auf. "Nur, zu, wenn sie dich interessieren. Hier habe ich alles wichtige festgehalten, seit dem Zeitpunkt, an dem ich von meiner Gabe erfahren habe, bis... naja, so lange, wie ich es eben für nötig gehalten habe. Vielleicht helfen dir diese Informationen weiter, sollte ich nicht mehr in der Lage sein, dir alles beizubringen, was du wissen musst."
Ich wusste nicht so recht, was ich darauf antworten sollte, also schwieg ich.
"Ich lass dich kurz mit meinen Schätzen alleine und werde inzwischen Tom die Arbeit, die ansteht, erklären. Du kommst in der Zeit alleine zurecht? Dann komme ich danach zu dir, für unsere heutige Lektion."
"Mhm, ich schau mich inzwischen um."
Louise verließ das Wohnzimmer und ich begann damit, die Bücher zu begutachten. Vor allem die älteren Bücher hatten es mir angetan. An die Tagebücher von Louise wagte ich mich hingegen noch nicht, da ich dies, obwohl ich ihre Erlaubnis erhalten hatte, dennoch als einen Eingriff in ihre Privatsphäre empfand.
Meine Finger fuhren über die schon etwas staubigen Werke und hielten an einem dicken Schmöker inne. Der braune Ledereinband war an manchen Stellen etwas dunkler und die goldenen Ornamente waren bereits etwas abgegriffen. Irgendwas an diesem Buch zog mich wie magisch an. Vorsichtig nahm ich es aus dem Regal, pustete über die dünne Staubschicht und wischte mit meiner Hand über den Buchdeckel. Ich setzte mich in den Ohrensessel, der neben dem Holzofen platziert war, und öffnete neugierig das Buch. Der etwas modrige Duft, den ich als Geruch von alten Büchern abgespeichert hatte, stieg mir in die Nase und ließ meine Spannung auf dessen Inhalt steigen. In geschwungenen Buchstaben las ich den Titel:
"Der Tag, an dem sich das Orakel teilte".
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