15
Ich sitze auf dem Yogakissen in Louises Pavillon. Meine Tasche steht neben mir auf dem Boden und ich lasse mein Handy, das ich soeben auf Flugmodus gestellt habe, darin verschwinden.
Louise betritt mit einem Tablett, auf dem sie ein Glas mit Saft für mich, einen Tee für sich und einen Teller mit Keksen balanciert, den Pavillon. Sie stellt es auf dem Holzboden vor mir ab und holt aus dem kleinen Schränkchen, das ich zwischen den ganzen Pflanzen beim letzten Mal gar nicht bemerkt hatte, ein zweites, kleineres Yogakissen für sich heraus. Damit kommt sie zurück, legt es mir gegenüber auf den Boden und nimmt darauf Platz. Dass sie das für ihr Alter so geschickt hinbekommt, verwundert und beeindruckt mich gleichermaßen.
"Greif ruhig zu!", deutet sie auf das Tablett und greift nach der Tasse mit dem Tee. Sie nimmt einen großen Schluck und stellt die Tasse zurück. Ich greife inzwischen nach einem der Kekse.
"Wie geht es dir heute, Mia?"
"Eigentlich ganz gut." Ich trinke einen Schluck von meinem Saft, um die Kekskrümel runterzuspülen. "Ich hatte heute meine letzte Prüfung an der Uni und jetzt habe ich endlich Sommerferien."
"Schön!" Louise nickt. "Und wie gehts dir mit den Visionen?"
"Eigentlich auch ganz gut. Meist habe ich recht langweilige Visionen. Oft kommt es mir später so vor, als hätte ich ein normales Deja Vu. Aber neulich hatte ich eine, naja... eine etwas andere Vision." Louise nickt wieder, sagt aber nichts. Also fahre ich fort. "Ich war mir zuerst nicht sicher, ob es nur ein Traum war, oder eine Vision. Ich war in einem Auto, aber irgendwie war ich doch nicht da. So als wäre es ein Film, wo man als Zuschauer das Gefühl hat, dass man mit im Auto sitzt, aber trotzdem nicht als Person da ist... Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll..."
"Das ist interessant...", Louise runzelt nachdenklich die Stirn. "Seit deiner ersten Vision sind jetzt wie viele Tage vergangen? Acht? Neun?"
"Neun Tage, ja! Wieso?"
"Solche Visionen sind nichts Ungewöhnliches. Im Gegenteil, sie kommen recht oft vor. Aber normalerweise dauert es ein paar Wochen oder sogar Monate, ehe man die erste Vision aus einer anderen als der Ich-Perspektive hat. Aber das liegt vielleicht daran...", denkt Louise laut und bricht gedankenverloren den Satz ab. "Du musst wissen, es gibt verschiedene Arten von Visionen. Die ersten Visionen, die ein Keeper hat, beziehen sich immer auf ihn selbst. Du erlebst diese immer aus der Ich-Perspektive. Meist sind es auch Visionen, die sich auf eine nicht allzu ferne Zukunft beziehen. Normalerweise dauert es ein paar Wochen oder Monate, bis deine Fähigkeiten soweit herangereift sind, dass du auch Visionen von anderen Personen erhältst."
"Und wieso geht das bei mir schneller?"
"Ich weiß es nicht genau." Louise weicht meinem Blick aus. "Ich habe da eine Vermutung, aber ich kann das nicht mit Sicherheit sagen." Mein Gefühl sagt mir, dass dies nicht ganz der Wahrheit entspricht. Aber wenn ich eines aus dem letzten Treffen mit Louise gelernt habe, dann, dass ich meinen Gefühlen nicht allzu sehr vertrauen kann, da sie momentan durch meine Visionen etwas verrückt spielen. "Das ist auch nicht so wichtig", fährt sie schließlich fort. "Wichtiger ist, dass du lernst, was diese Fähigkeiten bedeuten und wie du sie richtig einsetzt und steuerst."
"Ich habe gedacht, ich darf meine Visionen nicht steuern? Ich dachte, ich soll nichts verändern?"
"Verändern und steuern sind zwei verschiedene Sachen, Kindchen." Louise lächelt sanft. "Du kannst steuern, wann du eine Vision hast und du kannst auch steuern, um wem es in deiner Vision gehen soll. Und wenn du irgendwann einmal sehr geübt darin bist, kannst du auch einen bestimmten Zeitpunkt im Leben einer Person voraussehen. Aber davon sind wir noch weit entfernt."
Meine Kinnlade klappt nach unten. Louise hatte letztens schon so etwas angedeutet, aber so wirklich verstanden hatte ich es nicht. "Das klingt total abgefahren." Ich muss grinsen. "Und das klappt wirklich? Also das kann ich wirklich?"
Louise lacht auf. "Ja, das ist es. Und ja, sowas wirst du irgendwann auch einmal können." Dann wird ihr Blick wieder ernst. "Aber wie ich dir beim letzten Mal bereits gesagt habe, gibt es ein paar Regeln, an die sich ein Keeper halten muss. Die Wichtigste ist, dass du nichts von dem, was du siehst, verändern darfst. Alles muss genau so passieren, wie du es in deiner Vision gesehen hast. Egal ob dir das, was du siehst gefällt oder nicht."
"Was passiert, wenn ich es zu ändern versuche?" Noch bevor Louise antworten kann, setze ich nach "Aber ich habe meine Vision vom Zugunglück auch geändert. Ich bin mit Marie ausgestiegen und auch du warst nicht im Zug. Also haben wir die Vision bereits geändert."
Die alte Dame presst ihre Lippen zusammen und nickt. "Es passiert, was passieren muss. Du hättest das Zugunglück nicht verhindern können. Die Zeit von jenen Menschen, die verunglückt sind, war gekommen. Hättest du das Zugunglück verhindert, wären diese auf eine andere Art ums Leben gekommen, so traurig das auch klingt." Diese Aussage trifft mich schwer. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass auch wenn ich versuchen würde, jemanden zu retten, würde das auf Dauer nicht gelingen. "Du und ich waren bei dem Zugunglück nur Nebencharaktere. Wir wären mit einer leichten Verletzung davongekommen und hätten uns vielleicht im Krankenhaus ausruhen müssen. Stattdessen warst du zu Hause und hast dich dort ausgeruht. Und dasselbe galt auch für mich."
"Also ist das Ganze so ähnlich wie in den 'Final Destination'-Filmen?"
Louise nickt. "So ähnlich, ja. Aber oftmals ist die zweite Welle, die versucht, das Vorherbestimmte wiederherzustellen, schlimmer als das, was in der Vision passiert wäre. Jegliche Veränderung kann schlimme Konsequenzen haben." Ihre Augen wurden traurig. "Deshalb darfst du die Vision niemals verändern, hörst du?", fragt sie mit bestimmter Stimme.
Ich beiße mir auf die Unterlippe und nicke stumm. Es scheint, als hätte Louise die Auswirkungen einer geänderten Vision, eine "zweite Welle", wie sie es bezeichnet hatte, selbst zu spüren bekommen. Ich hätte gerne gewusst, was passiert war, aber ich traute mich in diesem Moment nicht zu fragen. Auch weil ich ihr nicht zu nahe treten wollte. Stattdessen stelle ich eine andere Frage, die ich nach dem letzten Treffen auf meine Liste geschrieben habe. "Darf ich eigentlich jemandem von meinen Visionen erzählen, oder ändere ich die Zukunft dadurch bereits?"
Louise, die in der letzten Minute gedankenversunken ins Leere gestarrt hat, wendet sich mir wieder zu. "Theoretisch solltest du anderen Personen nicht von deiner Gabe erzählen. Du solltest damit nicht hausieren gehen, denn das ist nichts, das Leute so einfach verstehen oder hinnehmen. Die Gesellschaft ist auf Personen mit übernatürlichen Fähigkeiten, so wie du und ich, nicht vorbereitet. Sie glaubt nicht daran. Sollten sie aber doch daran glauben, dann wäre dies noch viel gefährlicher für uns."
"Aber ich... ich habe meiner besten Freundin, Marie, bereits davon erzählt", beichte ich reumütig.
Louise lächelt. "Wenn ein paar Leute aus deinem nächsten Umfeld davon erfahren, dürfte nichts passieren. Solange du ihnen nicht jene Visionen, die du über sie hast, erzählst. Meine beste Freundin, Beth, weiß nämlich auch Bescheid." Louises Blick hellt sich bei der Erwähnung ihrer Freundin auf.
Ich muss augenblicklich lächeln. Manchmal vergesse ich, dass auch ältere Leute beste Freunde haben.
"Beth hat mir, nachdem mein Mann verstorben ist, durch sehr viele schwierige Zeiten geholfen." Die Freude in Louises Gesicht weicht wieder der Traurigkeit. "Ich wüsste nicht, ob ich das alles überstanden ohne Beth überstanden hätte."
Es trifft mich sehr, Louise so traurig zu sehen. "Beth klingt nach einer sehr guten Freundin."
"Das ist sie!" Ich sehe, wie mein Gegenüber sich an einem Lächeln versucht. "Aber leider sehen wir uns nicht mehr so oft. Sie wohnt nämlich noch in London."
In diesem Moment ging mir ein Licht auf, woher Louises leichter Akzent kam, den ich die letzten Male zwar vernommen hatte, aber nicht so recht zuordnen konnte.
"Das heißt, du hast auch mal in London gelebt?"
Mit einem breiten Lächeln und plötzlich aufleuchtenden Augen nickt sie. "Ich bin dort aufgewachsen und habe meine gesamte Kindheit und Jugend dort verbracht. Dann habe ich Henry, also meinen Mann, kennengelernt. Henry hatte hier ein tolles Jobangebot erhalten, das er unmöglich ausschlagen konnte. Also sind wir ausgewandert. Ich war anfangs skeptisch, ob das eine gute Idee war, denn mein Herz hing an der englischen Großstadt. Doch dann haben wir dieses tolle Haus entdeckt und es mit unseren gesamten Ersparnissen gekauft und selbst renoviert. Mein Mann hat sein Leben lang alles unternommen, dass ich mich hier wohlfühle, was ihm auch immer gelungen ist. Ich bereue keinen einzigen Tag meine Entscheidung, mein altes Leben hinter mir gelassen zu haben, um mit Henry hier ein neues Leben zu starten. Er war der tollste Mann, den man sich nur vorstellen kann." Louise versinkt erneut in ihren Erinnerungen. Eine Weile sitzen wir beide stumm da. Irgendwann schüttelt sie lächelnd den Kopf. "So, jetzt genug in Erinnerungen geschwelgt. Ich denke, es ist an der Zeit für eine weitere Lektion."
"Ich spüre heute aber keine Vision, die sich anbahnt."
"Gut, das ist nämlich ein Teil der Übung. Ich möchte dir heute zeigen, wie du selbst eine Vision herbeirufen kannst. Und da du mir erzählt hast, dass du bereits Visionen außerhalb der Ich-Perspektive hattest, möchte ich versuchen, gemeinsam mit dir eine Vision von einer Person, die dir Nahe steht, herbeizuführen."
Nervös rutsche ich auf dem Yogakissen hin und her. "Denkst du, dass ich dazu schon bereit bin?", frage ich unsicher.
"Ich weiß es nicht. Wie ich dir vorher gesagt habe, entwickeln sich diese Fähigkeiten eines Keepers normalerweise erst nach ein paar Wochen oder Monaten, aber deine scheinen schneller heranzureifen. Daher würde ich es gerne versuchen. Natürlich nur, wenn du dich bereit dazu fühlst."
Es fällt mir immer noch schwer, die ganze Sache zu begreifen, obwohl mir die Gespräche mit Louise sehr weiterhelfen. Ich bin froh, dass sie da ist und mir in der ganzen Sache beisteht. Ruhig und geduldig erklärt sie mir jedes Detail eines Keepers und führt mich Schritt für Schritt an meine Fähigkeiten heran. Trotzdem kann ich immer noch nicht nachvollziehen, wieso gerade ich diese Gabe besitze. Und wieso wachsen ausgerechnet meine Fähigkeiten angeblich schneller als üblich? Ich reibe mit meinen Händen über meine Oberschenkel, um meine Nervosität abzuschütteln.
"Ich weiß nicht, ob ich schon bereit dazu bin", antworte ich schulterzuckend, "aber wir können es versuchen, schätze ich."
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