08
Als ich Louises Haus erreiche und schließlich vor ihrer Haustür stehe, fühle ich mich komisch. Was mache ich eigentlich hier? Die ganze Situation kommt mir so absurd vor.
Kurz überlege ich einfach wieder umzudrehen und nach Hause zu gehen. Aber wie sollte ich dann je mehr über meine Vision und diese sogenannte "Gabe" erfahren?
Ich umklammere mit der Hand die Schlaufe meiner Handtasche, atme tief ein und drücke schließlich auf die Türklingel.
Eine Weile geschieht nichts und ich überlege ein zweites Mal zu klingeln. Vielleicht hat Louise es ja nicht gehört? Doch dann höre ich, wie sich der Schlüssel im Schloss dreht und einen Augenblick später öffnet sich schließlich die Tür.
"Hallo Mia." Louise lächelt, wirkt aber etwas müde.
"Entschuldigung, habe ich Sie etwa geweckt?" Ich schaue auf meine Uhr. Hatte ich mich etwa in der Uhrzeit vertan?
"Oh, nein! Keinen Grund zur Sorge. Ich habe letzte Nacht nur nicht besonders gut geschlafen. Und du kannst ruhig 'Du' zu mir sagen, Kindchen."
Ich nicke schüchtern und verziehe dabei meinen Mund zu einem Lächeln. Normalerweise würde ich mich darüber ärgern, wenn jemand mich 'Kindchen' nennt, aber aus dem Mund der alten Dame klingt dies so liebevoll, dass ich mich sofort geborgen fühle und meine anfängliche Nervosität augenblicklich verschwindet.
"Komm doch herein." Sie dreht sich um und geht voraus in das Innere ihres kleinen Häuschens. Vorsichtig trete ich ein und ziehe die Haustür hinter mir zu. Ich bücke mich, um meine Schuhe auszuziehen, als mir Louise aus dem Raum nebenan zuruft: "Lass die Schuhe ruhig an, wir gehen gleich durch in den Garten, wenn das für dich passt. Magst du auch einen Saft?"
"Ja, gerne!", rufe ich in die Richtung, in der ich die Küche vermute. Immer noch im Eingang stehend, sehe ich mich um. Das Haus wirkt sehr wohnlich und hell. In jeder Ecke findet man kleine oder auch etwas größere Pflanzen und an der Wand entdecke ich alte Fotos. Um meiner Tollpatschigkeit zuvorzukommen, stelle ich meine Tasche sicherheitshalber an der Garderobe ab und gehe vorsichtig auf die Fotowand zu. Gespannt betrachte ich die Momentaufnahmen einer vergangenen Zeit. Einige der Fotos dürften sogar über 70 Jahre alt sein. Ich entdecke ein Familienfoto in schwarz-weiß. Der Vater im schicken Anzug, die Mutter in einem edlen Sonntagskleid. Neben der Mutter ein Mädchen, etwa im Teenageralter mit geflochtenem Haar. In der vorderen Reihe ein Junge, der etwas jünger sein müsste, als seine Schwester. Er hat den Arm um ein kleines Mädchen, das neben ihm steht, gelegt. Sie schmiegt sich an ihn und strahlt in die Kamera. Unweigerlich ist das Louise, die sich hier an ihren älteren Bruder klammert.
Neben diesem Foto entdecke ich einige neuere Bilder in Farbe. Auf einem der Bilder steht Louise vor dem Haus - vermutlich ist das am Tag des Einzugs aufgenommen worden. Dann entdecke ich ein Foto, das meine Aufmerksamkeit auf sich zieht: ein Hochzeitsfoto. Die Braut ist ganz klar Louise, aber den Bräutigam konnte ich auf keinen der anderen Fotos entdecken. Ich überfliege noch einmal die Fotowand, aber nein, bis auf das Hochzeitsfoto, ist er auf keinem der anderen Bilder.
"Was machst du da?" Louise steht plötzlich mit einem Tablett in der Hand im Flur.
Ich zucke erschrocken zusammen und fühle mich ertappt. Ich kenne Louise ja kaum, da sollte ich nicht in ihren persönlichen Fotos rumkramen. Wobei 'rumkramen' das falsche Wort ist, immerhin hängen sie ja ganz offen an der Wand im Eingangsbereich, also ist es doch okay, einen Blick darauf zu werfen, oder?
"Entschuldigung, ich wollte nicht so neugi..."
"Du hättest ruhig schon in den Garten vorgehen können", entgegnet Louise sanft.
Ich atme erleichtert auf. "Ähm... ich wusste nicht genau..."
"Einfach hier durch das Wohnzimmer." Sie nickt zur Tür zu meiner Rechten.
Ich gehe voraus ins Wohnzimmer und halte Louise die Tür zum Garten auf, der größer ist, als ich zunächst angenommen habe, als ich daran vorbei gelaufen bin.
"Wow, was für ein großer Garten!"
"Ja, aber der bringt sehr viel Arbeit mit sich. Ich hoffe du nimmst es mir nicht übel, dass er etwas unordentlich aussieht, aber in meinem Alter schaffe ich es leider nicht mehr, den Garten so zu pflegen, wie er es bräuchte." Sie stellt das Tablett auf dem Gartentisch ab, der auf einer kleinen, aber gemütlichen Terrasse steht. "Setz dich doch, Kindchen."
Ich setze mich an den Tisch und Louise stellt mir ein Glas frisch gepressten Orangensaft und einen Teller mit Keksen hin.
"Danke." Ich nehme einen großen Schluck, als sich auch Louise hingesetzt hat und schnappe mir auch gleich einen Keks, den ich mir in den Mund stopfe. Das ist eine meiner vielen schlechten Angewohnheiten. Immer wenn ich nervös bin, dann praktiziere ich sowas wie Stress-essen. Vor allem wenn ich nicht weiß, was genau ich sagen soll. Und da man nicht mit vollem Mund sprechen kann... Also greife ich mir noch einen Keks als Reserve. Mein Joker, falls Louise das Gespräch nicht bald beginnen sollte.
Die ganze Situation verunsichert mich. Ich sitze hier am Tisch mit einer unbekannten Alten Dame, die ich nur zweimal kurz gesehen habe und deren Absichten ich nicht kenne. Und außerdem weiß sie von meinen 'Visionen', wie sie es nennt.
Louise mustert mich wortlos. Als sich unsere Blicke treffen lächelt sie. Kann sie etwa Gedanken lesen? Ich lächle nervös und stecke mir den Reserve-Keks in den Mund. Dann sollte ich wohl besser aufhören zu denken.
"Schmecken dir die Kekse?"
Ich nicke verlegen und greife wieder nach dem Saft.
"Du hast bestimmt eine Menge Fragen", bricht Louise schließlich die unangenehme Stille.
Erneut nicke ich. Ich sollte vermutlich auch so langsam etwas sagen, anstatt nur stumm zu nicken, ermahne ich mich. Aber wo soll ich anfangen?
"Ja .. also ich... ich weiß nicht so Recht wo ich da anfangen soll..." So ein Gespräch hatte ich immerhin noch nie. Und auch das Internet konnte mir hier nicht wirklich weiterhelfen. Ich weiß also praktisch gar nichts. Wie soll ich da schon die richtigen Fragen stellen? Mein Bein beginnt unter dem Tisch nervös zu wackeln und ich bin versucht, an meinen Fingernägeln zu knabbern, obwohl ich mir diesen Tick schon vor Jahren abgewöhnt hatte.
"Ich habe auch ein paar Fragen an dich, Mia. Macht es dir was aus, wenn ich anfange?" Louise lächelt mir ermutigend zu.
Ich nicke und unterdrücke mein Bedürfnis, erneut nach einem Keks zu greifen.
"Hattest du seit unserem letzten Treffen noch eine Vision?"
"Nein, nicht so wirklich! Ich hatte einen Traum, aus dem ich mit Kopfschmerzen aufgewacht bin, aber ob es eine Vision war, weiß ich nicht sicher." Ich schüttle meinen Kopf. "Als ich heute wieder das Gefühl hatte, dass sich eine Vision anbahnt, habe ich dann Ihre... ähm... deine Atemtechnik angewandt. Das hat ganz gut funktioniert."
"Super, das freut mich. Aber damit lässt sich eine Vision nur hinauszögern, sie geht dadurch nicht weg. Du kannst sie dadurch maximal für 48 Stunden unterdrücken. Du solltest sie dann in einer ruhigen und sicheren Umgebung kommen lassen."
"Das heißt, ich kann die Visionen selbst steuern?" Das wäre ja praktisch, da könnte ich mich - natürlich rein theoretisch - ganz gezielt auf die letzte Uni-Prüfung vorbereiten. Und das wäre dann noch nicht Mal schummeln.
"Ja und Nein. Sagen wir mal so, die meisten Visionen kannst du insofern steuern, dass du dir den Ort und die Zeit, in der du die Vision kommen lässt, aussuchen kannst."
"Die meisten, das heißt...?"
"Einige der Visionen, die sogenannten 'Checkpoints', also die großen und bedeutenden Visionen - die Fixpunkte, die nicht nur dich, sondern auch dein gesamtes Umfeld beeinflussen - die kannst du maximal ein paar Minuten hinauszögern."
Das klingt komplizierter als gedacht. Ich merke, wie sich leichte Kopfschmerzen anbahnen. Instinktiv greife ich an meine Schläfen. Ob ich da je den Durchblick haben werde, ich bezweifle es. "Und woher weiß ich, welche Visionen sich hinauszögern lassen und welche nicht?"
"Die Vision von dem Zugunglück war zum Beispiel so ein 'Checkpoint'. Das war eine große und wichtige Vision, die du nicht hättest hinauszögern können." Sie nimmt einen Schluck von ihrem Saft, bevor sie weiterspricht. "Aber da entwickelst du mit der Zeit ein Gespür dafür. Je mehr Visionen du hast, umso besser kannst du die einen von den anderen unterscheiden. Und mit der Zeit lernst du auch, wie du die Visionen zeitlich einordnen kannst. Aber das braucht Übung."
"Und was, wenn ich die Visionen gar nicht haben möchte? Wie werde ich die wieder los?"
Louise lächelt ruhig und greift erneut nach ihrem Glas. Ich nutze die Gelegenheit und stibitze noch einen Keks. Meine Fragen bleiben unbeantwortet, stattdessen fährt sie fort:
"Erzähl mir von deinen bisherigen Visionen."
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